Die Summe der kollektiven Bedeutungen der Dinge
soll also die Nationalgeschichte ergeben.
Zweifellos ist diese Materie gefährlich;
aus dem Zusammenhang kann eine Logik entstehen,
die im besten Falle eine künstliche Logik, im schlimmsten eine Scheinlogik ist.
Die Geschichte erscheint als eine ”nicht zufällige” Abfolge,
soll also die Nationalgeschichte ergeben.
Zweifellos ist diese Materie gefährlich;
aus dem Zusammenhang kann eine Logik entstehen,
die im besten Falle eine künstliche Logik, im schlimmsten eine Scheinlogik ist.
Die Geschichte erscheint als eine ”nicht zufällige” Abfolge,
die Aufreihung der Gegenstande ergibt ex post eine Sinngebung.
Die Geschichte erhebt sich aus dem verworrenen Handeln der Menschen
und wird zur logischen Geschichte, zur Heilsgeschichte,
wobei dann angenommen wird, der gegenwärtige Zustand sei das Heil.
Lucius Burckhardt: Wie kommt der Müll ins Museum?
Im Winter von 1853 auf 1854 sank der Spiegel mancher Seen der Schweiz derart, daß es zu auffallenden Entdeckungen von “Überbleibseln menschlicher Thätigkeit” kam, z.B. durch Herrn Aeppli, Lehrer in Ober-Meilen beim Zürchersee. Diese Reste, andere wurden im Bielersee entdeckt, wurden als Zeugnisse von im See errichteten Pfahlbausiedlungen einer keltohelvetischen Bevölkerung gedeutet.
Träger dieser Deutung war die junge Wissenschaft Urgeschichte und gelehrte Gesellschaften wie die Antiquarische Gesellschaft Zürich und ihr Präsident Ferdinand Keller, Ehrendoktor der Universität Zürich. Von ihm stammt der erste Bericht über derartige Funde und eine erste Deutung. Man kümmerte sich um die Sicherung der Fundstücke, ihre Aufbewahrung, regte aber auch weitere Untersuchungen an, im Mai 1854 sogar eine Unterwassergrabung im Genfersee, wahrscheinlich die erste derartige Grabung weltweit.
Die nun breiter einsetzende Forschung und Dokumentation, die in die Vorstellung von keltischen Pfahlbausiedlungen mündete, führte zu umfangreicher und privat betriebener Suche nach Funden und einem schwungvollen, von skandalösen Fälschungsfällen begleitetem Handel. Einer dieser Sammler, Friedrich Schwab, beschäftigte Fischer, die in zahllosen Schweizer Seen für ihn ‚auf Jagd‘ gingen. Er baute rasch die größte ‚Pfahlbauern‘sammlung auf, die er 1865 der Stadt Biel schenkte, die für diese Sammlung ein eigenes Museum bauen ließ (1873). Durch die sogenannte Jurakorrektur sank der Seespiegel um zwei Meter und es kam zu weiteren Funden, die die Popularität der Pfahlbauernkultur nur noch steigerte.
Schattenspiele, Historienbilder, historische Umzüge, Festzüge, Festspiele, Historienmalerei, Presseartikel, Kalender und Ausstellungen transportierten den jungen Mythos und die Aufnahme der Pfahlbauten in die Lehrpläne verfestigten das Bild von den Pfahlbauern transgenerationell. Ein nationalstiftender Mythos war geboren. Die krisenhaft ‚multiple’ Identität, die die Schweizer schon lange beschäftigte, war mit einer Wunschabstammung scheinbar wiederhergestellt.
Wichtig war, daß dieser Pfahlbauernmythos sofort visualisiert wurde: Modelle, Stiche, Gemälde, Illustrationen - schon im 1855 gedruckten “Des Volksboten Schweizer Kalender” - regten die Phantasie an. Heute gilt als erwiesen, daß sich diese Rekonstruktionen urgeschichtlicher Siedlungen, Lebensformen und Architekturen nicht so sehr auf den Tatbestand der Funde bezogen, sondern auf ethnologisches Bildmaterial verschiedener Entdeckungen und Expeditionen, z. B. auf Bilder von Siedlungen in Celebes oder Neu-Guinea.
Niemand bezweifelte die Pfahlbautheorie (nur die dauernde Besiedlung der Siedlungen wurde in Frage gestellt) und mit der Verknüpfung der Pfahlbausiedlung mit der Vorstellung einer Urbevölkerung, von der alle Schweizer, ungeachtet ihrer ethnischen oder sprachlichen Besonderheit abstammten, erhielten diese Forschungen unglaubliche Popularität.
Mitte des Jahrhunderts boten die Pfahlbauern, deren Herkunft und Geschichte zwar selbst unklar war, dennoch die Chance eine 'gemeinsame Stammesgeschichte' zu fundieren. Wie wichtig diese Herkunftsgeschichte war, zeigt die Tatsache, daß die Schweiz sich auf der Pariser Weltausstellung 1867 mit einer Ausstellung von Pfahlbaufunden repräsentierte und zwar in einem Teil der Weltausstellung zum Thema “Geschichte der Arbeit”. Man plante sogar im Park der Ausstellung einen Pfahlbau aufzustellen. Die für die Ausstellung angefertigten Historienbilder kamen - als nationales Monument nach Ende der Weltausstellung in das Bundesratshaus. Die erste vom Bund, also durch den Staat erworbene (übrigens durch ein Gutachten von Rudolf Virchow empfohlene) Sammlung der Schweiz war - eine Pfahlbausammlung (1884). Diese Sammlung wurde ebenfalls im Bundesratshaus ausgestellt.
"Die prächtigen Schädel von Auvernier können mit Ehren unter den Schädeln der Kulturvölker gezeigt werden. Durch ihre Kapazität, ihre Form und die Einzelheiten der Bildung stellen sie sich mit den besten Schädeln arischer Rasse an die Seite."
Schon damals gab es Rekonstruktionen der Gesichtszüge von Pfahlbauern aus den Funden, um Ähnlichkeit mit den 'modernen' Schweizern zu bestätigen. 1899 erklärte die Gartenlaube die Auvernier zu Ahnen der Mitteleuropäer überhaupt:
"Dieses Gesicht ist also das älteste Menschenantlitz aus Mitteleuropa, welches wir heute kennen. Es ist breit, hat eine flache Stirn, vorspringende Wangen, kurze etwas aufstrebende Nase, vollen Mund und schwellende Lippen und deutlich markierte Kieferwinkel. Diese Darstellung beruht nicht auf Phantasie, sondern für all diese Merkmale liegen, wie die genannten Forscher sagen, die unverrückbaren Dimensionen in den Knochen, die das Fundament darstellen! Jahrtausende sind ins Meer der Ewigkeit gezogen, seit diese Frau an dem Ufer des Neuenburger Sees lebte, aber ihre Gesichtszüge sind uns nicht fremd, wir sind ähnlichen unter den heute Lebenden schon begegnet, und sie werden sich auch noch viele Jahrtausende hindurch erhalten."
Erst um 1920 wurde die erste wissenschaftliche Kritik am Pfahlbauernmythos entwickelt, und zwar von H. Reinerth, einem deutschen Forscher, der später Leiter des Amtes Vorgeschichte im Amt Rosenberg in der NS-Zeit war. Dieser politische Kontext bewirkte aber, daß die Kritik in der Schweiz nicht aufgegriffen wurde, sondern, im Gegenteil, zur Stärkung des nationalen Selbstbildes, das Pfahlbauerntum ein Revival erlebte. Erneut wurde die Herkunftsgeschichte vom Pfahlbauerntum in den nationalen Diskurs eingefügt, jetzt zur Abgrenzung zum nationalsozialistischen Deutschland. 1937/38 kam es durch neue Funde zur ‚glänzenden Rehabilitierung‘ der Pfahlbauforschung.
1953/54 begann nun auch in der Schweiz eine Debatte um die Pfahlbauforschung, also 100 Jahre nach den ersten Entdeckungen, und führte zu heftigen, nicht bloß wissenschaftsinternen Kontroversen. Selbst die Schweizerische Gesellschaft für Urgeschichte spaltete sich in pro und contra und lancierte konträre Publikationen.
Heute jedoch gilt die Existenz von in Seen errichteten Siedlungen definitiv als widerlegt.
"Gegenstände neigen nur allzu leicht dazu, eine solche (scheinbar zwingende GF) Logik zu erzeugen. Ein schönes Beispiel sind die Pfahlbauer. Sie waren einst der Stolz der Schweizerischen Nationalgeschichte, und es gab kein Schulhaus, in welchem nicht die Bilder vom Alltagsleben der Pfahlbauer hingen: Die Mutter sitzt auf den Brettern vor der Hütte und schaut über den See, ob der Mann schon vom Fischen heimkehrt; die Männer schleppen den erlegten Baren zum Schiff, voller Vorfreude auf die Begrüßung im Pfahlbauerdorf. Die Pfahlbauer waren so schon wie logisch, und als in den dreißiger Jahren deutsche Gelehrte erstmals publizierten, daß es die Pfahlbauer gar nicht gab, führte dies sogar zu diplomatischen Verwicklungen mit der Eidgenossenschaft. Deutlich spürten die Schweizer, daß sich hier die kulturelle Eroberung und Vernichtung ihres Landes vorbereitet: nicht zufällig kam damals auch Hitler zur Macht...” (Lucius Burckhardt: Wie kommt der Müll ins Museum?)
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