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Montag, 18. November 2019

Das Museum lesen

Um schlechtes Gewissen in einer unschöpferischen Zeit unschöpferisch zu beruhigen, ist Geld die gegebene Sache; man baut ein Museum. New York liebt Museen, denn Museum ist Kultur, und bereits vorhandene Kultur zu bewahren, zu kaufen und zu sammeln ist leichter und einfacher, als Kultur zu schaffen. Und da die Zeit schneller geht, altert sie schneller. Das Museum überhöht die Vergangenheit, reinigt, und wer ein Museum für den gestrigen Tag baut, lebt mit der Hoffnung, diesen Tag gleich für Jahre zu Verwaltern; wäre ich ein Mörder, ich baute meinem Opfer am nächsten Tag ein Museum, Fotografien, vergilbte Bilder seiner Eltern, sein Vaterhaus, einen Schulaufsatz in einer schönen Vitrine, zwei oder drei seiner Kleidungsstücke, auch unter Glas, alles unter Glas, sein letztes Auto, sein Portefeuille, seine Armbanduhr, seinen ausgestopften Hund, sein Hobby, seinen Rasierapparat, seinen Kamm, sein Bett (nicht zu vergessen), seine Versicherungspolice, seinen Fernsehapparat, die Schuhe, die er zuletzt trug, ein gemaltes Bild seines Lieblingsrestaurants, sein Lieblingsessen (Foto), seine Zigarettenmarke, das Messer, mit dem ich ihn umbrachte, die Nekrologe in den Zeitungen, in denen er, ha!, gewürdigt wird...
Das Museum ist der Ersatz für den einstigen Glauben, man könne sich für die Ewigkeit möblieren.
Den Broadway hinausschlendernd entdecke ich das Heimatmuseum. Der Kurator - er sitzt selber an der Kasse - streitet sich mit den Besuchern; die Quintessenz seines Museums heißt Bevölkerungsexplosion und Selbstvernichtung der Menschheit; die beiden miserablen Wachsmuseen lassen befürchten, die Figuren möchten sich leblos zu bewegen beginnen, dann: die Peinlichkeit des Versuchs, lebendig zu wirken; das Museum der City of New York stellt das alte Modell eines Staubsaugers aus, einen Toaster aus den zwanziger Jahren, die älteste New Yorker Zitronenpresse und die jüngste, einen Büchsenöffner von 1935 und einen Büchsenöffner von 1967, ein Foto Marilyn Monroes - alles wird gleichsam in die Vergangenheit zurückgepfiffen und in Ehrwürde versetzt; ein Museum für Kinder gibt es schon, denn wer war einst nicht Kind; das Polizeimuseum mit Konterfei der ersten Polizistin New Yorks, Brüste wie Euter und Schultern wie einer, der täglich ein Klavier in das neunte Stockwerk tragen muß, Daumenschrauben an der Vagina Dentata, Muse der Polizei. (Wer sich für Handschellen interessiert: Handschellen sind eine Wissenschaft. Handschellen wurden von genialen Mechanikern fast überall gleichzeitig erfunden; so in Deutschland die Clejuso-Handschellen, die Kayser-Handschellen, die Hamburg P-8-Handschellen, in England die Darby-Handschellen, in Frankreich die La Massenotte-Handschellen.) Netze für Selbstmörder, die von einem Wolkenkratzer - vermutlich auf der Flucht vor der Polizei - zu springen versuchen; Dolche, Hämmer, Messer, Feilen - ehrwürdige Mordwaffen. Ein freundlicher Mann will mir Auskunft geben, ich bin der einzige Besucher zur Zeit, und ich weise ihn ab; meine Phantasie Kasse ich mir im Museum nicht Miesmachern. Das Geldmuseum an der Sixth Avenue ist die hilflose Huldigung an eine Zeit, da man ein knopfähnliches Eisenstück für einen Schweinekopf eintauschte, nein, Geld ist das einzige in dieser Stadt, das museal nicht zu bewältigen und auch nicht Zerfall und Tod anheimgegeben ist.
Absicht des Museums besteht immer darin, zu bewältigen und vergessen zu lassen, was noch nicht bewältigt oder nicht vergessen wurde. Das Museum ist die Lahmlegung der Trauer, denn Trauer ist das Schlimmste, und das Museum hebt die peinliche Spannung zwischen Leben und Vergehen auf.


Jürg Federspiel