Den mit Abstand noch immer besten Text zum Verständnis des Heeresgeschichtlichen Museums verfasste Gerhard Roth 1991. In Eine Reise ins Innere von Wien (Frankfurt am Main. Fischer Verlag 1991) spürt der Autor der Repräsentation des Mythos Habsburgerreichs und Kaiserlicher Armee in einem langen Essay. Ich habe aus dem Essay eine Passage ausgesucht, in der Roth eine Führung durch das Haus beschreibt, die vor dem wahrscheinlich wichtigsten und merkwürdigsten Objekt des Museums Halt macht: der blutigen Uniform des Throfolgers Franz Ferdinad, der in Sarajewo ermordet wurde. Kein anderer Text vermittelt einem die bis heute ungebrochene Athmosphäre des Museums. GF
»Der Aufenthalt in diesem Raum«, sagt der Auskunftsoffizier im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien, Oberst Krach, »zählt zu den Höhepunkten jeder Führung. Wir stehen vor den stummen Zeugen des Mordes von Sarajewo ... stumme Zeugen nenne ich sie: die Uniform, die der Thronfolger zum Zeitpunkt seiner Ermordung getragen hat und das Auto, in dem der Doppelmord geschah ... Damit Sie gleich den Stellenwert dieses Ereignisses einschätzen können: Die Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgerpaares in Sarajewo war der unmittelbare Anlaß zum Ersten Weltkrieg.« Der Oberst, ein hagerer, großer Mann in Zivil mit der Frisur eines römischen Senators und dem Habitus eines Don Quichottes, der sich auf Abenteuersuche in das Märchenland der österreichischen Geschichte begeben hat, hat die Augenlider halb geschlossen und trägt in einer Hand eine Teleskopantenne als Zeigestab, mit der er »Tick-Tick« und »Pin-Pin« abwechselnd auf den Holzrahmen und die Glasscheibe der Vitrine klopft. Der rote Saal mit Spitzbögen an der Decke, hohen Fenstern und knackenden Parketten, riecht nach Bodenwachs. Auf der rechten Seite, an der Wand, steht das viersitzige Cabriolett der Marke Gräf & Stift, Baujahr 1910, in dem Franz Ferdinand und seine Frau erschossen wurden, in der Mitte des Saales die schwarz gerahmte Vitrine mit der Hose, dem blutigen Uniformrock und dem Stulphut des Thronfolgers, die auf schwarzem Tuch ausgebreitet liegen, wie die Reliquien eines Märtyrers. Der Thronfolger begriff die politischen Gegebenheiten der k. u. k. Monarchie zwar besser als Kaiser Franz Joseph, war aber bei aller Bigotterie ein Mann, der mit dem Giftzahn der Gewalt ausgestattet war. Als er eine Ausstellung mit Werken Oskar Kokoschkas sah, soll er das zukunftsweisende Urteil abgegeben haben: »Dem Kerl sollte man die Knochen im Leibe zerbrechen.«. Er war jähzornig und sein Ungarnhaß sprichwörtlich. Seine Zeitgenossen sahen den »guten Familienvater« und »Oberbefehlshaber der Bewaffneten Armee« als »Meisterschützen«. Während seiner Erkrankung an Lungentuberkulose im Frühjahr 1895 stutzte er von einer Liege aus einen in der Nähe stehenden Baum durch Pistolenschüsse so zurecht, »wie es ein Gärtner nicht hätte besser schaffen können«. Schon mit neun Jahren erlegte er »sein erstes Tier« und die vollständig erhaltenen Schußlisten weisen auf eine ins Gigantische verzerrte Jagdleidenschaft hin. Während seines einundfünfzigjährigen Lebens schoß er 274 88g Stück Wild aller Art. Seine »Jahresbestleistung« erzielte er 1911 mit 18 799 Stück, die höchsten »Tagesleistungen« bestanden in der Regel aus Hasen, Fasanen und Rebhühnern, sein Tagesrekord, am 17.6. 1908, waren 2763 Lachmöwen. Auf seiner Brust hatte Franz Ferdinand einen Drachenkopf tätowiert. Der Oberst dreht sich zu dem mit einer geflochtenen Schnur umzäunten Wagen und weist mit der rechten Hand und gestrecktem Zeigefinger auf den Rücksitz. »Es war Sonntag, der 28. Juni 1914, 10 Uhr, da wurde auf das Thronfolgerpaar anläßlich seines Besuches das erste Attentat verübt. Es verlief glimpflich. Das zweite jedoch, um 10.45 Uhr, das entscheidende, werde ich Ihnen kurz beschreiben. Der zwanzigjährige Student Gavrilo Princip, gab aus allernächster Entfernung, etwa so wie ich hier zum Wagen stehe, rasch hintereinander zwei Schüsse auf das Thronfolgerpaar, das auf dem Rücksitz des Wagens saß, ab. Der erste Schuß durchschlug die rechte Bordwand und tötete die Gemahlin des Thronfolgers durch einen Bauchschuß. Gleich aber krachte der zweite, traf den Thronfolger in den Hals und zerfetzte ihm die rechte Schlagader. Was der erste Schuß angerichtet hat, können Sie sich mit einiger Phantasie vorstellen.« Der Oberst macht eine Pause, schließt kurz die Augen und fährt dann, mit dem Zeigestab auf die Glasplatte der Vitrine klopfend, fort: »Wir suchen den zweiten Treffer auf der Uniform, der ihren Gemahl Franz Ferdinand von Osterreich tötete. In Verlängerung meines Zeigestabes blicken Sie bitte auf die Uniform ... Da sehen Sie unter der rechten Kragenstelle ein ganz kleines Einschußloch. Dort trat das tödliche Projektil in den Körper ein. Das Blut rann aus der Wunde in einem dünnen Strom, unter der Uniform von rechts nach links hinunter, sickerte auf der linken Brustseite, also ganz wo anders durch den Stoff und färbte die Uniform dunkelrot. Zwei rasch herbeigerufene Ärzte nahmen irrtümlicherweise an, der Treffer müsse hier sitzen« — »Pin-Pin« macht der Zeigestab — »und schnitten die Uniform mit einer Schere in dieser Richtung auf, um sich das zeitraubende Offnen der acht Knöpfe auf der rechten Seite zu ersparen, aber jede Hilfe war vergeblich ... Und nun zum Schnitt hinter dem Kragen« — wieder klopft der Oberst mit dem Zeigestab auf die Glasplatte...
Zur Geschichte und Architekturgeschichte sowie zur ursprünglichen Funktion des "Arsenals" als gegenrevolutionäre Anlage siehe hier.
Zur aktuellen Debatte um das Museum und Vorwürfe und Kritik an ihm siehe hier.
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