Im
Jahr 2008 erschien in Istanbul der Roman Masumiyet
Müzesi, das Museum der Unschuld,
von Orhan Pamuk, der 2006 den Nobelpreis erhalten hatte. Eigentlich sollte
gleichzeitig mit dem Roman ein gleichnamiges von Pamuk geplantes und parallel
zum Buch entwickeltes Museum eröffnen, doch aus praktischen und politischen
Gründen - Pamuk wurde zeitweilig verhaftet und von radikalen Gruppen mit dem
Tod bedroht -, verzögerte sich die Realisierung erheblich. 2012 war es dann so
weit.
Aber
was ist das für ein Museum? Mein Reiseführer "Istanbul" stellt es
kurz und bündig als Alltagsmuseum vor. Sicher, es gibt hier vieles, was man so
landläufig als Alltagsgegenstände bezeichnet und gelegentlich wird einem auch
als Tourist, der Istanbul erst grade kennenlernt, einiges von den Bezügen zur
Stadt deutlich.
Aber
was sollen das für Straßen sein, "die mich an sie erinnern"? Wer
spricht da, und vom wem? "Phantome, die ich für Füsun halte".
"Die Sommerabschlußparty". "Eine leere Wohnung". "Die
erste türkische Fruchtlimonade".
Hat
sich da das sogenannte wirkliche Leben eingeschlichen? Aus dem Roman? Aus
Pamuks Leben und aus Istanbul? "Wie man ein Drehbuch durch die Zensur
bringt" oder "Onkel Tarik". Kann uns das interessieren, können
wir das verstehen?
Oder
muß man dazu den Roman gelesen haben?
Ich
bezweifle, daß das viel hilft (Pamuk verneint die Frage, ob man das Buch als
Voraussetzung eines Museumsbesuchs kennen müsse), selbst wenn man das erst
gerade getan und ein sehr gutes Gedächtnis hat. Selbst die strikte
Durchnummerierung der Vitrinen im Museum nach den Kapiteln wird nicht viel
helfen.
Illustriert
das Museum das Buch, oder erzählt der Roman jene Geschichte, die hier
ausgestellt ist?
So
viel sei verraten: Pamuk hat Roman und Museum von Anfang an als ein Projekt
verstanden und es folgte das Zusammentragen einer Sammlung keineswegs dem Buch,
sondern eher umgekehrt, wenn sich ein ungewöhnlicher, überraschender Fund
einstellte, wurde er als Requisite in die Erzählung des Romans integriert.
In
der Vitrine mit der Zahl 1 sehen wir, vor einem sich bauschenden Vorhang,
"Füsuns Ohrring". Auch von ihm weiß der Autor, der des Romans wie der
des Museums, von Kemal, dessen Geliebte Füsun war. Im Dachgeschoß des Museums
finden wir das Bett, auf dem liegend, Kemal Pamuk, der auf einem Stuhl neben
ihm saß, seine Lebensgeschichte erzählt hat. Dort muß er ihm auch berichtet
haben, unter welchen Umständen der Ohrring verloren ging, und warum er sagen
konnte, es sei "der glücklichste Augenblick meines Lebens" gewesen.
Noch
im Roman, in dessen letzten Kapiteln, hat Kemal nach dem Tod Füsuns, Orhan
Pamuk beauftragt, seine Geschichte zu erzählen und die seiner großen Liebe. Er
wünschte sich von Pamuk einen Text, der gleichsam jenes Museum, das er, Kemal,
einzurichten plante, begleitenden sollte oder gar einen Katalog, wie es im Roman wörtlich heißt (sogar eine Eintrittskarte
ist dort schon abgedruckt).
Gibt
der Roman also eine wirkliche Geschichte wieder, und ist dann das Museum so
etwas wie eine - fiktive oder konkretisierende - Erweiterung, Umspielung, ein
Ort der Beweise für die Wirklichkeitshaltigkeit des Buches? Eine
Asservatenkammer der Indizien, die die Geschehnisse des Romans beglaubigen?
Nur
was sollen wir denn mit dieser individuellen, privaten und intimen Erinnerung?
Nimmt uns nicht gerade das jeglichen
Zugang zur Geschichte, wenn wir das Museum besuchen? Erst wenn wir im Museum
etwas begegnen, das uns – auf Grund geteilter Erfahrung, geteilten Wissens -,
das Verstehen ermöglicht, können wir Gegenstände mit Bedeutung belehnen.
Nun,
Pamuk spielt mit beidem, mit der Spiegelung von Buch (dem wir als Roman die
Fiktion zuordnen würden) und Museum (dem wir Kraft der Konkretheit der Dinge,
ihrer physischen Präsenz in unserer Gegenwart, die Wirklichkeit, die Welt der
Tatsachen zuordnen würden) und mit der Spiegelung von Fiktion und Realität.
Er
spricht von "ausgestellten Rätseln" und "optischen
Täuschungen" und von einem "Traum, aus dem man sich nicht befreien
kann".
"Der
glücklichste Augenblick meines Lebens". Wer vermöchte ihn festzuhalten - außer in der fragilen, oft
entstellenden Erinnerung, die keiner gegenständlichen Stütze bedarf, also im
liebenden Eingedenken, in dem eine Berührung der nackten Körper durch den am
offenen Fenster wehenden Vorhang oder das Geschrei der fußballspielenden Kinder
in Erinnerung bleibt. Aber nicht als Text und nicht als Ding oder Bild. Sondern
ausschließlich als lebendiges Erinnern, das mit dem Tod erlischt.
Dieser
Traum, aus dem man sich nicht befreien
kann, soll aber dennoch nicht zu Ende gehen, aber es ist auch der, aus dem
sich nicht nur der Autor, der Held, sondern vielleicht auch der Besucher nicht
befreien kann und nicht befreien soll.
"Wenn
ein Mensch im Traum" zitiert Pamuk zu Beginn des Romans (und im Museum
taucht der Text auch auf) Samuel Taylor Coleridge, "das Paradies
durchwandert, und man gäbe ihm eine Blume als Beweis, dass er dort war, und er
fände beim Aufwachen diese Blume in seiner Hand - was dann?"
Das
ist die dritte Ebene in Pamuks Spiegelkabinett. Wie er mit der Un-Möglichkeit
des Erinnernd spielt. Ist er selbst Kemal? Gab es Kemal überhaupt je? Ist nicht
alles erfunden? Und woran sollen wir uns eigentlich erinnern? Wer ist hier das
Subjekt der Erzählung und wer des Gedächtnisses? Woran können uns Dinge
erinnern? An jene Wirklichkeit, in der sie einmal existiert haben oder ohnehin
nur an jene Träume, die sie in uns auslösen?
Aber
da ist ja Füsuns Ohrring, in der
Vitrine, wir sehen ihn mit eigenen Augen, den Ohrring, von dem Füsun im Roman
sagt, "er sei ihr wichtig", als Kemal ihn später nicht in seiner
Jackentasche findet. Dort hat er ihn verstaut, nachdem er ihn gefunden hat.
Aber inzwischen hat er die Jacke gewechselt und kann ihn Füsun nicht
zurückgeben.
Während
der Planung und der Realisierung des Museums ist Pamuk von Kindern angesprochen
worden, ob er ihnen nicht die über den Zaun geschossenen Bälle zurückgeben
könne. Konnte er nicht, schreibt Pamuk, weil der Freiraum um das Haus derart
vermüllt war, daß man erst bei Baubeginn mit dem Entrümpeln beginnen konnte.
Dann fand man siebzehn Bälle.
Ist
einer der Bälle derjenige, mit dem die Kinder in der Gasse spielten, als sich Füsun
und Kemal in ihrem Zimmer bei offenem Fenster liebten?
Jedenfalls
gibt es einen Ball in einer Vitrine des Museums. Und Füsuns Führerschein. Und
selbstverständlich die 4213 Stummel, die
von Füssens gerauchten Zigaretten übrigblieben. Aber das ist eine andere
Geschichte. Die erzähle ich ein anderes mal.
Und
im Kleingedruckten, am Ende des Buches, dort, wohin man als Leser vielleicht
nie hingelangt, unter Danksagung, erfährt
man auch, wer Füsuns Ohrring fürs Museum hergestellt hat...
Um
Pamuk besser zu verstehen, seine - soweit ich sehe einzigartige - Idee, einen
Roman und ein Museum als komplementäre Teile eines Projektes zu entwickeln,
kann man auf ein anderes Buch von ihm zurückreifen (das auch auf Deutsch
vorliegt): "Die Unschuld der Dinge. Das Museum der Unschuld in
Istanbul". (München 2012). Es gibt einen einleitenden Teil mit
ausführlichen Texten Pamuks zum Roman und vor allem zum Museum und einen Teil,
in dem in 74 Abschnitten - reich bebildert - die Stationen und Vitrinen des
Museums vorgestellt werden. Und das wiederum so, daß die Texte eher
Erweiterungen denn Erklärungen sind. Sein poetologischer Zugang ist subtil,
leicht, wunderbar zu lesen. Etwa wie die Geschichte der Entdeckung des Hauses,
das er als Museum wählte, am Schulweg, den er täglich mit seiner Tochter
zurücklegte. So nebenbei kann von Pamuk lernen, wie man ein Museum vorstellt.
Pamuk
hat aber auch eine veritable Museologie zur Hand, die er seit dem Roman sichtlich
weiterentwickelt hat und die einem zusätzlich hilft, seine Ideen und sein
Konzept des Doppelprojektes besser zu verstehen. Dieser Museologie (die einer
gesonderten Auseinandersetzung lohnte) liegt das begeisterte Stöbern und
Sammeln zugrunde, aber Pamuk ist auch ein begeisterter Museumsbesucher
(übrigens wie Kemal, von dem im Roman gesagt wird, daß er nach Füsuns Tod über
4000 Museen bereist habe). Ein Besucher vor allem kleiner Museen und da
wiederum solcher Museen, die möglichst die Spuren der Personen, die dort gelebt
haben, noch bewahrt haben. Das war ein nicht geringes Vergnügen, zu erfahren,
wie sehr Pamuks Museumsvorlieben sich mit meinen decken. Mit wenigen Ausnahmen
kannte ich die Orte, die er ausdrücklich als Inspiration für Roman und sein Museum
nennt.
Mit
diesem „Begleit“-Buch in der Hand, wird man sich dem Spiel der Verweise und dem
changieren der Ebenen des Museums viel besser aussetzen können, wird tiefer in
die eigentümlich zweideutige Welt des Romans, des Museums und Orhan Pamuks
eintauchen können.
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