Dienstag, 20. Mai 2014
"Du wirst nie vergessen werden!" (Texte im Museum 479)
"Die Buchstaben sind aus dem Stahl der gefallenen Zwillingstürme gemacht, und der Satz, den sie formen, stammt aus Vergils «Aeneis»: «No day shall erase you from the memory of time.» Stein des Anstosses ist der Kontext, in dem das Zitat ursprünglich steht. Denn das «you» meint nicht etwa eine in die Tausende gehende Zahl ermordeter Zivilisten, sondern zwei konkrete trojanische Krieger: das homoerotische Freundespaar Nisus und Euryalus, das, nachdem es die feindlichen Rutuler im Schlaf überfallen und in einem blutigen Gemetzel umgebracht hat, seinerseits vom Feind überrascht und getötet wird. An diesem Punkt mischt sich der Dichter ins Geschehen und gelobt, das tote Paar in seinen Versen zu verewigen: «Fortunati ambo! si quid mea carmina possunt, nulla dies umquam memori vos eximet aevo.»«Wenn man den Kontext einbezieht, dann trifft dieses Zitat eher auf die Aggressoren in der 9/11-Tragödie zu als auf jene, die mit diesem Memorial geehrt werden sollen», meint etwa Helen Morales, Professorin für Altertumswissenschaften an der University of California, Santa Barbara, in der «New York Times». Schliesslich seien die beiden Krieger auf so etwas wie einer selbstmörderischen Mission unterwegs gewesen. «Meine erste Reaktion war, dass dieses Zitat geradezu schockierend unangemessen für die Opfer der 9/11-Attacke ist.» Bei näherem Hinsehen enthalte das Zitat allerdings eine produktive Ironie. Denn selbst wenn die Planer des Memorials dies sicher nicht im Sinn gehabt hätten: Vergils Satz fordere uns auf, sich auch der Mörder zu erinnern und uns womöglich zu fragen, was junge Männer dazu bringt, solche Untaten zu begehen. Shadi Bartsch-Zimmer, Professorin für klassische Philologie an der University of Chicago, findet es allerdings skandalös, «dass eine Institution, die der Erinnerung an ein Ereignis von nationaler Bedeutung verpflichtet ist, sich nicht um die Quelle schert». Die Opfer des 11. September hätten ein Vermächtnis verdient, «das nicht von Fahrlässigkeit geprägt ist»".
--> Andrea Köhler: Ohne Kontext. Grabspruch oder Menetekel?, in: NZZ 20.Mai 2014 (Online)
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen