Elvis has just left the building
Frank Zappa
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Nachdem ich die Kassa passiert habe, warte ich nun mit zwei anderen Besuchern in einem beklemmenden Raum darauf, aufgerufen zu werden. Eine Zählnummer habe ich schon. 503. Der Raum ist schäbig, typische Zimmerpflanzen eines Büros, gusseiserne Heizkörper, eine Landkarte mit den Staaten der Europäischen Union auf dem Stand von 2017, ein Orientierungsplan für das Museum, in einer unverständlichen Sprache beschriftet. Auf Österreichisch würde man einen solchen Raum als "grindig" bezeichnen. Allerdings gibt es bis heute solche Räume, Polizeiwachstuben, Wartezimmer auf Sozialämtern und selbst im Landeskrankenhaus meiner Stadt könnte ich solche Räume herzeigen.
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So wie wir hier zu Dritt sitzen, in einem Raum mit einer Uhr, Türen, denen die Klinken fehlen, unter einem harten Neonlicht, ohne zu wissen wann und von wem wir aufgerufen werden, könnten wir auf eine medizinische Untersuchung warten, eine Befragung, eine Behördenvorladung.
Die verdreckte Eingangstür in den Ausstellungstrakt war schon ein Übergang in eine andre Sphäre und andere Zeit. Aber ich kann mir sehr gut vorstellen, daß es so schnell gehen kann mit dem Wechseln der Zeiten, Stimmungen. Der Übergang von der einen Welt zu einer ganz anderen ist oft kaum markiert, und umso drastischer fühlbar. Ich muß mich nur an die zwei- oder drei Mal erinnern, als ich den berüchtigten Grenzübergang der DDR Friedrichstraße durchqueren musste.
Eben noch im sonnigen, touristischen Wien, auf einem Thonetstuhl eines Cafes im Freien, gegenüber des Gebäudes, in dem die Ausstellung gezeigt wird, auf die Öffnung des riesigen Tores zur alten Postzentrale Mitten in Wien wartend, und dann plötzlich in einer kafkaesken, toten, zeitlosen Welt.
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Wir werden einzeln aufgerufen, im Abstand von mehreren Minuten. Wir sollen einzeln losgehen, in der Ausstellung allein sein. Der erste Raum steigert die Unheimlichkeit - ein riesiger Saal, schäbig, vom Verfall gezeichnet wie alle folgenden Räume, nahezu leer und - fast vollkommen dunkel.
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Keine Objekte, keine Geräusche, kein Text. Dann Räume vollgestopft mit Sperrmüll, offensichtlich Überbleibsel aus den Büros und Arbeitsräumen der Postzentrale. Dieses Zentrale ist ein riesiges, aus dem späten 19.Jahrhundert stammendes Verwaltungsgebäude, in dem es offenbar ganz unterschiedliche Funktionen gegeben haben muss. Büros, Archiv, Arbeitsräume, bei denen man kaum ahnt, was hier einmal vorgegangen ist. Die Wegführung entlang von Richtungspfeilen macht das Riesenhaus noch labyrinthischer, als es ohnehin schon ist. Treppen, verwinkelte Gänge, Lichthöfe mit riesigen blinden Fensterwänden, Gusseisenkonstruktionen, Reste von Armaturen.
Dann endlich ein Raum, der einem konventionellen Ausstellungsraum schon recht nahe kommt. Einige Objekte, ein viersprachiger Informationstext. Es geht um die Europäische Union. Die es nicht mehr gibt. Berichtet wird hier aus einer nicht allzufernen Zukunft, in einer "Nachzeit", nach dem Zerfall der EU. Nationalismus und Rechtsradikalismus, die wirtschaftliche Krise haben dem großen Projekt den Garaus gemacht.
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Langsam verstehe ich, daß die teilweise unverständliche "Bebilderung"
und Sprache der Texte, daß die trashigen, vollgeräumten oder dunklen
Räume, einerseits eine Atmosphäre schaffen sollen, die das Fiktive
einer in der
Zukunft spielenden Ausstellung unterstreicht. Und andrerseits den
Zerfall der Strukturen - einer Welt, die wir ja besonders als
"bürokratische" wahrgenommen haben -, visualisieren soll. Allerdings ist
der Bruch, auch gestalterisch, zwischen den sorgfältig verfassten und sehr
informativen Texten einerseits und den oft beliebig oder rätselhaft oder
nicht entschlüsselbaren Objekten auffallend. Wo wir uns hier befinden,
das ist eine "posthistorische" Trümmerwelt, in die nur noch wenige,
wenig aussagekräftige Spuren des Gewesenenen hineinragen.
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Vielleicht ist ja so eine Idee ja weniger gespenstisch, als wir spontan, mitten in dieser düsteren Ausstellungswelt wahrnehmen. Im Grunde kann man das Museum als einen im Vergegenwärtigen ständig vom Scheitern bedrohte "Nachwelt" verstehen, das es trotz seinem Beharren auf Wahrheit und Authentizität immer auch mit Fiktion, mit "Erzählung", also Konstruktion und Narration aus einem "Nachhinein" zu tun hat.
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Der Ausstellungskurator dazu:
"Wir
haben keine Distanz zur Gegenwart. Daher wollte ich eine Distanz
aufzubauen, um die Gegenwart anders zu sehen können. So bin ich auf die
Idee eines fiktiven Museums gekommen, das nach der Implosion der EU
als Einziges übrig bleibt."
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Was weiter folgt im Rundgang, Wege, leere Räume und trashige Aussstellungsräume, entpuppt sich als ein chronologisch-thematischer Parcours mit informativen Texten, die die wesentlichen Entwicklungsetappen der EU nachzeichnen und schwer zuordenbaren Objekten mit oft recht bescheidener Aussagekraft. Ein Parcours, bei dem man nie vergisst, daß der historische Zeitpfeil umgedreht wurde. Wir blicken zurück, auf die Erfolge der EU, die mit spürbarem Wohlwollen dargestellt wird, von ihren aus den Weltkriegserfahrungen geprägten Anfängen bis hin zur gemeinsamen Währung, auf ihre politische Struktur und Organisation (der Teil wirkte auf mich wie eine Vorbereitung auf die EU Wahl, die drei Tage nach meinem Besuch grade anstand), auf die großen, die Wirtschaft lenkenden Organisation, die Transformation vieler Diktaturen in Demokratien, die Entwicklung der Zahl der Mitgliedschaften, des Beitritts von immer mehr Ländern.
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Die Ausstellungsräume haben jeweils ein Thema. Etwa die berüchtigten Verordnungen und Normierungen. Visualisiert wird das, wenig originell,
mit bis zur Decke zwischen roten Vorhängen gestapelten Papier und - schon amüsanter -, mit
einigen griffigen Beispielen, die wie eine Lehrmittelsammlung drapiert
sind. Dann der Lobbyismus - eine der schönsten Ausstellungsideen. Wie
eine Schmetterlingssammlung sind Visitenkarten von Lobbyisten
ausgestellt und an der Wänd hängt eine Stadtkarte von Brüssel, in die
die Lobbyorganisation wie sonst die Sehenswürdigkeiten eingezeichnet
sind. und schließlich die problematischeren Gebrechen der EU: die
Immigrationspolitik, die Duldung fast versklavter Niedriglohnarbeiter
vor allem in der Landwirtschaft. Das Beispiel sind spanische
Erntehelfer. Ein Nachbau eines ihrer Elendsquartiere steht mitten in
einem Raum, zu dem eine roh durchbrochene Mauer führt und in dem wir uns
auf einer Art Laufsteg aus Holz bewegen.
Der Text informiert über die
Arbeitsbedingungen, die nicht weit weg sind, von den v.a. in
Zusammenhang mit der Fussballweltmeisterschaft in Quatar kritisierten. (Nicht anders sind die etwa auf der Baustelle des Louvre Abu Dhabi oder des Guggenheim Museums ebenda).
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Ab hier wird schon der definitive Niedergang eingeläutet: der polizeiliche
Zwang, die Überwachung, nun nicht nur mehr nur der Einwanderer und
Flüchtlinge, sondern der eigenen Staatsbürger, (freilich ohne schon reagiert zu haben auf das globale Ausmaß der Überwachung durch die USA) die 1970 in den USA
beginnende Wirtschaftskrise, der expandierende Rechtsradikalismus, der
grassierende Nationalismus, die Separationsbewegungen innerhalb der
Nationalstaaten. Ganz am Schluß die Selbstmorde, die dem "Regisseur"
dieser Ausstellung zufolge, nicht öffentlich berichtet würden, weil sie
zu erschreckend wären.
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Die Ausstellung sympathisiert durchaus mit
der EU als einem großen Friedensprojekt und möchte angesichts der
aktuellen Kriegsängste und -drohungen die Dramatik des
politisch-historischen Moments sichtbar machen. Sie stell sich die
Frage, was nach dem Zusammenbruch der Union geschähe. Gerade da bleibt
die Schau aber phantasielos. Vielleicht kann sich auch wirklich niemand
die ökonomischen und militärischen Katastrophen und Krisen ausmalen, die
dem folgen würden. Und: würden sie das überhaupt? Ist der Ausstieg
wirklich "alternativlos" geworden?
"Man sagt immer:
"Nie wieder Krieg!" Das hoffe ich auch. Aber was wäre, wenn es wirklich
wieder einen Krieg gäbe? Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie Krieg
ist. Wir müssen über Krieg reden, um dafür zu sorgen, dass es keinen
Krieg gibt. Das wollte ich mit dem Museum." (Thomas Bellink)
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Wo ein offenes Ende, vielleicht mit verschiedenen Szenarien hätte stehen können, folgt nur noch ein wiederum ein, nun
rabenschwarzer Raum, nur mit einer winzigen Luke etwas erhellt, dann ein
riesiger Saal mit einer einsamen Bar und - vermutlich damit der
Übergang zurück in die Wiener Wirklichkeit nicht zu hart ist -, der Weg
durch großen trostlosen Hof des ehemaligen Amstgebäudes.
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Ich verlasse das Gebäude, in der eben hinter mir die EU gewissermaßen die Geschichte verlassen hat. Der Eindruck bleibt zwiespältig. Die Botschaft ist klar und einfach, die Information beachtlich und interessant, aber die Gestaltung schwankt zwischen immersiver Emotionalisierung und trockener Textbelehrung, ohne daß beides miteinaander verwoben wäre und eine wirklich neuartige Qualität ergeben hätte.
Die spookyness mancher Räume, das Beklemmende der Atmosphäre verlassener, von Spuren des langsamen Verfalls gezeichneter Räume verbündet sich schlecht mit der intellektuell-informativen Ebene. Die Hauptaussage liegt schließlich doch überwiegend in den Texten und nur bedingt in der Atmosphäre.
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Mir ist an Ausstellungen der jüngsten Zeit aufgefallen, daß das "Gestell", die "Zeigeapparaturen" immer provisorischer werden können, rohes oder billiges Holz, roh Gezimmertes, irgendwie Zusammengebasteltes, in Ausstellungen etwa in Graz oder Wien. Selbst die kostbare Asien-Sammlung des Museums für Angewandte Kunst wird jetzt in einem Verhau aus Ziegellatten gezeigt - allerdings hat das ein namhafter Künstler entworfen. So kommt die Nobilitierung, mit der es edles Ausstellungsgestalten zu tun hat, über die Hintertür wieder herein, wo es andernorts dem Museum Pathos und Aura nehmen will. Solch eine Senkung der Distinktionsschwelle braucht die EU-Ausstellung aber gar nicht, ihre Objekte brauchen sich weder als echt noch als authentisch zu gerieren.
Vielleicht bin ich relativ immun gegen das "Posthistorische" und ein wenig auch gegen das Beklemmende der Räume, weil ich schon so manches überzeugendere Besipiel gesehen habe. Kabakovs Installation tragen klar die Signatur eines bestimmbaren politisch-zeitlichen Kontextes und seiner Trostlosigkeit und Aussichtslosigkeit, während das Ephemere und Leichte eines Gebäudes wie dem "Palast der Projekte" mit dem witzigen und hoffnungsvollen Basteln an der Utopie kooperiert, die er dort in vielen Zimmerchen vorführt.
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Die von Hans Hoffer gestaltete Ausstellung A.E.I.O.U. (eine Art
österreichisch-patriotischer ideengeschichtlicher Leistungschau) in der
aufgelassenen Tabakfabrik in Krems brachte die z.T. ruinenhaften Räume
und Reste der Fabrikseinrichtung viel direkter ins Spiel. Ich erinnere
mich an die wunderbare Idee, ein Gedicht von Erich Fried so in den
Aufzugschacht zu applizieren, daß die Pointe kurz vor dem Aussteigen im
obersten Stockwerk der Ausstellung schockartig aufblitzte. Und
"verdorben" für die affektiven Anmutungen der Europaschau bin ich vor
allem durch die Manifesta von 2008, die in ganz unglaublichen Industrie-
und Verwaltungsbauten stattfand, in Bozen, in Trient (hier auch in
einem aufgelassenen Postgebäude), Rovereto und in der Franzensfeste,
einer kakanischen Betonburg gewaltigen Ausmasses (die nie einen Zweck
erfüllte, nebenbei gesagt), und deren düstere und endlose Raumfolgen
ingeniös mit Ton- und Videoinstallationen, Kino, Installationen, Objekten
bespielt wurde.
Möglich, daß eine Kunstausstellung sich besser auf das Ortspezifische solcher "extimer Orte" einlassen kann, die ihre Wirkung ja schon daraus beziehen (wie beim Postgebäude in Wien), daß wir sie überhaupt betreten und so etwas wie "verbotenes" Terrain erforschen dürfen.
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Aber darin liegt offensichtlich auch ein Potential für "historisches Ausstellen". Einen Tag, nachdem ich in der "Weltausstellungs"-Schau des Wien Museums gewesen war (die in deren cleanen Ausstellungsräumen stattfindet), dachte im beim Besuch dieser "Exil"-Ausstellung, warum das Wien-Museum, immer auf der Suche nach praktikablen Räumen, nicht solche Gebäude entdeckt? Vielleicht gibt es praktische Gründe, wie Sicherheitsbestimmungen oder anderes.
Meiner Phantasie wachsen jedenfalls Fühler, wenn ich so einen Ort sehe, den ich gerne rabiater, riskanter bespielt gesehen hätte - aber wer "schenkt" mir dieses Spukhaus, damit ich mal meine Ideen von der Leine lassen kann?
Jetzt, wo ich mir den Text noch einmal vorgenommen habe, und nach einem Austausch mit einer Kollegin über unsere unterschiedlichen Erfahrungen mit der Ausstellung überarbeite, ist auch eine Zeit des "danach". Gestern ging die EU-weite Wahl zu Ende, mit erschreckenden Zuwächsen rechter und rechtsextremer Parteien. Daß in Frankreich, einem Land mit einer derart kraftvollen politischen Geschichte voller Kampf um eine demokratische und republikanische Gesellschaft eine rechte Partei triumphal siegt, ist verstörend und alarmierend. Hat also die Ausstellung schon "recht behalten". Ich hoffe nicht. Aber sie ist deutlich wichtiger geworden.
Thomas
Bellinck,
der Kurator der Ausstellung, ist tatsächlich Regisseur, er ist Flame,
in Brüssel 1983 geboren. Seine Ausstellung wurde erstmals in Brüssel
gezeigt, 2013.
Sein "Museum" ist bis 15. 6. in der Postgasse 10 zu sehen.
Geöffnet ab 15 Uhr. Anmeldung notwendig! Unter +43 664 22 589 47. Letzter Einlass 18:30. Geöffnet bis 20 Uhr.
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