Samstag, 12. Juni 2010

Tod im Museum - Marcel Proust (Das Museum lesen 13)


»Ein Kritiker hatte geschrieben, daß Vermeers Ansicht von Delft (die das Museum im Haag für eine Ausstellung zur Verfügung gestellt hatte), ein Bild, das er (Bergotte. Anm.d.Red.) liebte und sehr gut zu kennen meinte, ein kleines gelbes Mauerstück enthalte, das so gut gemalt sei, daß es für sich allein betrachtet einem kostbaren chinesischen Kunstwerk gleichkomme, von einer Schönheit, die sich selbst genüge. […] Endlich stand er vor dem Vermeer, den er strahlender in Erinnerung hatte, noch verschiedener von allem, was er sonst kannte, auf dem er aber dank dem Artikel des Kritikers zum ersten Mal kleine blaugekleidete Figürchen wahrnahm, ferner, daß der Sand rosig gefärbt war, und endlich auch die kostbare Materie des kleinen gelben Mauerstücks. Das Schwindelgefühl nahm zu; er heftete seine Blicke – wie ein Kind auf einen gelben Schmetterling, den es gern festhalten möchte – auf das kostbare gelbe Mauerstück. So hätte ich schreiben sollen, sagte er sich. […] Indessen entging ihm die Schwere seines Schwindelgefühls nicht. In einer himmlischen Waage sah er auf der einen Seite sein eigenes Leben, während die andere Schale das so kleine trefflich in Gelb gemalte Mauerstück enthielt. Er spürte, daß er unvorsichtigerweise das erste für das zweite hingegeben hatte. Ich möchte doch nicht, sagte er sich, für die Abendzeitungen die Sensation dieser Ausstellung sein. Er sprach mehrmals vor sich hin: ›Kleines gelbes Mauerstück mit einem Dachvorsprung, kleines gelbes Mauerstück.‹ Im gleichen Augenblick rollte er auf ein Rundsofa […] Ein neuer Schlag streckte ihn nieder, er rollte vom Sofa auf den Boden, wo hinzueilende Besucher und Aufseher ihn umstanden. Er war tot. Für immer?“

Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

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