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Freitag, 2. September 2011

Wounded Art (Texte im/vor dem Museum 220)


Gipsoteca Possagno. Canovas Vermächtnis



Unweit der Stadt Treviso, nahe an Bassano del Grappa und in den Hügeln, die sich zwischen Alpen und Ebene schieben, gelegen, liegt der unscheinbare Ort Possagno. Wenn man durch das langgestreckte Straßendorf fährt, kann man leicht ein völlig unscheinbares Haus übersehen, auf dem gleichwohl der Schriftzug "Museo" zu lesen ist.

Dieses Haus ist der Geburtsort des Bildhauers Antonio Canova (1757-1822). Hinter diesem schlichten Haus, in einem parkartigen Garten hat Canova selbst die Errichtung einer Gipsoteca zur Aufnahme seiner Werke veranlasst. Nach seinem Tod wurde sein Atelier geschlossen und sein künstlerischer Nachlass, Skizzen, Entwürfe, Modelle, Gemälde, unverkaufte Werke usw., nach Possagno gebracht und in dem für die Ausstellung seiner Werke realisierten Bau gezeigt.

Dieser klassizistische, einschiffige Bau, eine dreijochige Basilika, wurde 1836 nach Plänen des Architekten Francesco Lazzari fertig gestellt. Bemerkenswert ist der Bau nicht nur als einer der frühesten selbständigen Sammlungsbauten, als frühe Museumsarchitektur, sondern als Teil eines großen Konzepts. Haus und Gipsoteca sind in einer Achse mit einer erhöht gelegenen Kirche verbunden, zu der eine monumantale Straße und dann eine Treppe hinaufführen. Die in den Hügeln liegenden Rundkirche, ein 'Pantheon' mit griechischem Temperlportikus a la Parthenon, von deren Kuppel man einen weiten Blick in die Alpenrandlandschaft hat, wurde gemeinsam mit der Gipsoteca geplant und ist Canovas Grablege. Sie wurde nach Plänen Canovas vom Architekten Antonio Selva errichtet. Noch heute, wo Possagno relativ dicht verbaut ist, nimmt sich die monumentale, im Grund städtische Planung ausgesprochen überdeterminiert aus. Canovas Geburtshaus ist offenbar weitgehend unverändert erhalten geblieben und dient ebenfalls als Museum.


Das Bemerkenswerteste der eigentlichen Gipsoteca  sind aber weder der Bau noch die einzelnen Werke, sondern die Atmosphäre der 'Basilika'. Dichtgedrängt stehen hier monumentale Studien neben kleinformatigen 'Skizzen' und Studien. Viele der Werke sind von einem Netz von Nägeln überzogen, die das maßstabgerechtes Duplizieren und die Verwirklichung der Gipse in Marmor erlaubte. Diese 'Punktierung', mit denen viele der Figuren überzogen sind, das unwirkliche Weiß der Gipse, die Fülle des mythologischen Personals, das alles gibt dem Raum eine nahezu surreale Qualität.

Im zweiten Weltkrieg wurde der Ort und das Museum von Bomben und Granaten beschädigt, das Museum schwer, viele Objekte wurden vollständig oder teilweise zerstört. Ob manche massive Beschädigung, die man an den Figuren heute sieht, auf diese Zerstörungen zurückgehen oder modernem Vandalismus geschuldet sind, läßt sich nicht erkennen. Ein martialischer Text, in dem mit der Polizei gedroht wird, ist das einzig 'Prohibitive', das sich schützend vor die freistehenden Objekte schiebt.

Manches Werk scheint offensichtliche Spuren von Überarbeitung zu zeigen, denn bildhauerische Ergänzungen kriegsbeschädigter Figuren scheinen im großem Umfang gemacht worden zu sein. Hier kann man die Denkmäler für George Washington finden (in mehreren Varianten), die Theseusgruppe (in Originalgröße), die im Auftrag Napoleons geschaffen wurde und die sich heute im Kunsthistorischen Museum in Wien befindet, Porträts, mythologische Gruppen wie Daedalus und Ikarus oder auch (ebenfalls in Originalgröße) das Grabmal von Marie Christine von Österreich.

1957 wurde die Disposition dieses höchst merkwürdigen Museums von Carlo Scarpa überarbeitet und dieser exzeptionelleste der italienischen Ausstellungsarchitekten jener Zeit fügte der Basilika einen kleinen, lichtdurchfluteten Annex zur Aufnahme weiterer, vor allem kleinformatigere Werke hinzu. Anders als die Gipsoteca kommunizieren die schmalen Räume mit dem von Scarpa mit Pflanzen und Wasser gestalteten Außenraum und werden mit natürlichem Licht, z.T. durch eine Art von Laternen (vielleicht von John Soanes Museum inspiriert?) ziemlich dramatisch beleuchtet.

Der kleine Garten mit Zierpflanzen und Obstbäumen bildet zwischen Geburtshaus und 'Museumstempel' eine kleine Oase - inmitten eines unikalen Ensembles.






Zu viel Text im Museum (Texte im Museum 219)

Gipsoteca Possagno

Canova (Entrée 32)


Musealisierung

Gipsoteca Possagno

Freitag, 8. Juli 2011

Schöne Aussichten (2)

Eine andere schöne Aussicht auf künftige Privatisierungsstrategien als die, die anläßlich der "Einbürgerung" von Kunsthallen-Sponsoren in Wien sichtbar ist, bietet Italien, das vom generellen 'Sparkurs' und dem speziellen berlusconischen im Kulturbereich gebeutelt wird. Nach den Hiobsbotschaften wie der vom drohenden 'Zerfall' Pompeis, bietet sich eine rettende Lichtgestalt an. Wo der Staat versagt, springt der Schuhhändler ein. Freilich einer, der Milliarden umwälzt und so ein wenig etwas weglegen kann, um gleich 'alles' zu retten, Pompei, die Mailänder Scala und das Kollosseum. Märchenhaft. Selbstlos ist der Unternehmer nicht, jeweils langfristig laufende Verträge kommen seinem Marketing und so also seinem Profit zugute. Aber wenn damit "Weltkulturerbe" "gerettet" wird...

Wer genauer nachlesen will, kann das in der NZZ Online hier tun.

Mittwoch, 18. Mai 2011

Raubkünste

Mit Raubkunst der NS-Zeit umzugehen und mit dem Nachwirken dieses großen Kunstraubes haben inzwischen viele Staaten und Museen gelernt. Vielfach gibt es gesetzliche Regelungen, öffentliche Diskussionen und eine gelebte Praxis der Restitution.
Es mag noch viele ungelöste Fälle geben, umstrittene Objekte oder auch zögernden Umgang, aber insgesamt wird der Kunstraub als Unrecht anerkannt wie auch - noch nicht generell - die moralischen und praktischen Verpflichtungen, die sich daraus ergeben.
Der quantitativ ungleich größere Kunstraub erregt nur in besonderen Fällen öffentliches Interesse, für ihn existieren kaum Regelungen und Vereinbarungen und viele Museen weigern sich, ihn überhaupt als Raub anzuerkennen.
In welchem Ausmaß die gigantische Sammelbewegung, die die Museumssammlungen im 19. Jahrhundert schuf, auf Unrecht und Gewalt beruht, wird verdrängt. Koloniale Beute, die Plünderung Ägyptens, die Ausnutzung der politischen oder ökonomischen Unterlegenheit von Ländern, die Ausnutzung fehlender Regelungen und Gesetze, Kriegsbeuten und Bedienen an einem korrupten Handel, das alles genießen wir in mehr oder weniger berühmten Museen, nicht selten mit einem Gefühl des Stolz ob des kulturellen Besitztums.
Doch man kann vom Kunstraub nicht in der Vergangenheitsform sprechen, er ist auch im 20. Jahrhundert, nicht nur in den beiden Weltkriegen, eine Quelle der Sammeltätigkeit von Museen, auch aktuell bedienen sich Museen noch eindeutiger Quellen, und das im vollen Wissen über das begangene Unrecht.
Einer der spektakulärsten Fälle betrifft eines der weltweit namhaftesten Kunstmuseen der Welt, das J. Paul Getty-Museum im kalifornischen Malibu.
Der Fall begann vor über 15 Jahren, wurde aber durch den Freispruch (wegen Verjährung) der zentralen Figur des Skandals und der nun erfolgten Rückgabe einer antiken Statue an Italien wieder öffentlich diskutiert.
Die Leiterin der Antiken-Abteilung des Getty Museums hatte sich ausgiebig an Ergebnissen von Raubgrabungen und der Hilfe Schweizer und Englischer Kunsthändlern bedient. Letztendlich gerieten aufgrund der Ermittlungen italienischer Behörden nicht nur das Getty-Museum sondern auch das Metropolitan-Museum in den Verdacht illegal erworbene italienische Kunstwerke zu besitzen. Tatsächlich mussten beide Museen über 300 Objekte in beträchtlichem Wert zurückerstatten.
Das Ausmaß der unglaublichen und abenteuerlichen Geschichte läßt sich in einem Artikel (1) nachlesen, der aus Anlaß der Rückgabe einer besonderen Antike verfasst wurde, deren Herausgabe das Getty-Museum besonders lange verweigert hatte: die sogenannte Venus von Morgantina (eine Ausgrabungsstätte in Sizilien). 1988 hatte sie das Museum aus einem illegalen Kunsthandel erworben, wo sie ab 2006 mit der Provenienzbezeichnung "Southern Italy" ausgestellt wurde.
Ein zweiter Fall, der weniger spektakulär ist, zeigt ebenfalls, wie schwer es Museen und Behörden fällt, Kunstraub anzuerkennen und angemessen zu reagieren. Auch er ist ein rezenter Restitutionsfall. Es geht um eine Grabung Deutscher Archäologen, die seit 1906 Reste einer Hethiterhauptstadt ausgruben, unter anderem Reste einer Toranlage mit zwei Sphinxfiguren. Beide kamen 1915 zur Restaurierung nach Berlin. Eine wurde 1925 zurückgeschickt, die andere nie - bis jetzt.
Die Rückgabe an die Türkei wird hochoffiziell als "freiwillige Geste der deutsch-türkischen Freundschaft" und nicht als Restitution betrieben. Deutsche Medien berichten, daß der türkische Restitutionswunsch mit der Drohung des Entzugs der Grabungslizenz verbunden gewesen sein soll und die FAZ spricht gar von "handfester Erpressung". (2)
Die Süddeutsche Zeitung belehrt uns darüber, daß es sich im Fall des Getty-Museum um einen bewußt illegalen Akt gehandelt habe, was aber etwas ganz anderes sei, als ein "Fund", der "seit hundert Jahren oder länger in staatlichen Museen zu sehen" ist. (Hier entfällt dann offenbar die Frage nach Recht oder Unrecht). "Die Rückgabe ans Herkunftsland (ist) nicht zwingend geboten…". Und die Zeitung hält es auch für bedenklich, "dass diesem Archäologie-Nationalismus" (der natürlich nur der der Türken ist) "stattgegeben wird, welcher übrigens seit Atatürk die frühen anatolischen Völker fälschlich zu Vorfahren der Türken erklärt". (3)

(1) Niklas Maak: Ware für die besten Adressen, FAZ 17.5.2011 (hier)

(2) Andreas Kilb: Die Sphinx von Hattuscha kehrt zurück, FAZ 18.5.2011 (hier)

(3) Johan Schloeman: Heimkehr zweier Damen, Süddeutsche Zeitung 16.5.2011 (hier)

Sonntag, 27. Februar 2011

Ötzi reviseted

Unlängst bin ich mit Beat Gugger, der als Kurator an der kommenden Ausstellung im Südtiroler Archäologiemuseum mitgearbeitet hat, zusammengesessen. Er hat mir Geschichten über Geschichten von seinen Recherchen erzählt, warum man den Ötzi überhaupt gefunden hat, wie man ihn zuerst für einen verunglückten Skifahrer hielt, welche Theorien es für den gewaltsamen Tod gibt. Dann von Interviews mit Reinkarnationen von Ötzi, von brachliegenden Archiven, von Forschungsarbeiten, von genealogischen Theorien, von den Sicherheitsvorkehrungen in Österreich und Italöien anlässlich der "Überführung" der "Mumie" nach Bozen...
Ja, diese Geschichten hatten mich von Anfang an an dem "Fund" und der Resonanz, die er auslöste, fasziniert, diese nicht zu bändigenden Phantsamen, in den sich uralte Sehnsüchte nach Wissen um die Herkunft und um den "Vater" zeigten, Wunschphantasien von einem kollektiven, sogar einem nationalen "Wir", das der Mann aus dem Eis bediente. Und vor allem, Phantsamen des Überdauerns, der Unsterblichkeit, der Einschreibung in das scheinbar unabschließbare Gedächtnis von Wissenschaft und Museum...

Jetzt scheint sich das Museum entschlossen zu haben, sich von den rationalisierenden Zugriffen der Wissenschaften und der Museumsdeutungen ein wenig zu emanzipieren. Ab 1. März hat dann die Ausstellung geöffnet, die unter dem Titel Life Science Fiction Reality - Ötzi 20 - die Mythologien um Ötzi zum Thema machen wird.

Gerade zur richtigen Zeit kommt da eine neueste Rekonstruktion, die mir gestern bei Lektüre der Morgenzeitung entgegen..., nein, Lachen kann Ötzi nicht. Da sah er eher aus wie ein verknitterter Hartz IV - Empfänger mit vernachlässigter Kopfhygiene. Kamm muss er aber schon gehabt haben, denn woher sonst der sauber gezogene Linksscheitel? Und der mißtrauische Blick? Gilt den Museologen, oder?

(Foto oben: Ausschnitt aus der Einladung. -- Ötzi als Wiedergänger? Gespenst? in Faschingslaune? Vor der Denkmalenthüllung? - Foto unten: Die neueste Ötzi-Rekonstruktion, wie sie derzeit durch so gut wie alle Medien wandert).
Hier zum Post "Ötzi darf nicht sterben".

Dienstag, 16. November 2010

Die letzten Tage von Pompeij

In Pompeji ist ein Haus eingestürzt, "Case dei Gladiatori". Pompeji ist mit dem UNESCO-Etikett Weltkulturerbe ausgezeichnet, aber niemand scheint sich um die systematische Erhaltung, Pflege und Erforschung der archäologischen Stätte zu kümmern. Seit etwa 50 Jahren wird praktisch nichts mehr gemacht, weitere Bauwerke drohen zusammenzubrechen oder sind wegen ihres Zustandes geschlossen. Während der FAZ das einen Empörungsartikel wert ist, sieht man das vor Ort großzügiger. Vor der Kamera des Fernsehens weist man auf das riesige kulturelle Erbe Italiens hin und auf die Unmöglichkeit, das alles zu schützen und zu pflegen. Tja, ab und zu stürze eben auch was ein. Von den Kürzungen der Kulturbudgets redet hier niemand, die FAZ hingegen von Klientelismus und mafiösen Zuständen.
Zeitungen veröffentlichen Listen, was nicht schon alles in Italien eingestürzt (z.B. ein Gewölbe der Domus Aurea, auch das Kollosseum und die Arelianische Stadtmauer bröckeln). Da das Kulturbudget, mit 0,18% des Staatshaushaltes ohnehin schon sensationell niedrig, um ein Viertel gekürzt wird, ist es neheliegend, diese einstürzenden Altbauten gleich als Symptom für den Berlusconismus als Ganzes zu nehmen.
So uninteressant ist das kulturelle des Erbes des Landes nicht für die Politik. Nämlich dann, wenn sich seine "Aufwertung" betreiben ließe. 2008 wurde die Direzione generale per la valorizzazione del patrimonio culturale (Generaldirektion für die Aufwertung des Kulturbesitzes) dem Chef von McDonald's Italien anvertrau. Und jetzt soll die Verbesserung der Managementqualitäten der regionalen Denkmalbehörden in dieselbe Richtung wirksam werden.

Sonntag, 7. November 2010

Ötzi darf nicht sterben (Museumsphysiognomien 10)

Das Bild des mumifizierten Mannes, den man "Ötzi" nennt, ist - mit seinem einem Totenschädel ähnelnden Kopf, dem ledrig-ausgetrockneten und braunen Körper und der unnatürlich weggestreckten Hand - zu einer weit verbreiteten und sehr populären 'Ikone' geworden. Ich muß hier kein Bild einstellen, wir haben es im Kopf.
2011 feiert "Ötzi", der "Mann aus dem Eis" oder "…vom Hauslabjoch" seinen zwanzigsten Geburtstag und bekommt dafür im Archäologiemuseum in Bozen eine große Ausstellung, die seinem "zweiten Leben" (Museumstext) gewidmet sein wird. Also nicht nur der wissenschaftlichen Erforschung, sondern auch dem medialen Diskurse und populären Verarbeitung.
Von Anfang begleiteten und überdeckten diese Diskurse die wissenschaftliche Forschung und ihre Ergebnisse. Bezeichnend dafür ist, daß sich der von einem Journalisten wenige Tage nach der Entdeckung des Toten kreierte Name sofort durchsetzte und eine wissenschaftliche Bezeichnung nie durchsetzte. 'Ötzi', das war ein sehr gelungener Taufakt.
Was der über 5000 Jahre alte, auf Grund vieler Zufälle konservierte und schließlich entdeckte Körper bewirkte, war nicht so sehr Interesse an Fakten über ein fernes unbekanntes Leben sondern Mobilisierung von Phantasmen.
Sofort setzte die Beanspruchung unter nationalen Vorzeichen ein, womit die Feststellung des Fundortes - jenseits oder diesseits einer Staatsgrenze - zur diplomatisch-politischen Agenda wurde. und ernsthaft wurde Ötzi, gestützt auf genetische Spekulationen, zum Ahnen erklärt (was heute widerlegt ist), so als ob es so etwas wie eine rein männliche Genealogie geben könne. Ötzi ließ sich für erstaunlich viel reklamieren: nationale Identität, männliche Identität (legendär das ZIB 2 - Schreiduell zweier 'Ötzilogen' wegen der Frage, ob Ötzi einen Penis habe oder nicht), Suche nach der (kollektiven wie individuellen) Herkunft, dem Ursprung, Spekulationen über Todesumstände.
Wie jede Mumie bediente er aber vor allem ein zentrales museales Phantsama, das des "Überdauerns".
Die Paradoxie jeder Mumie liegt ja im ostentativen 'Überleben', das dem Körper durch geschickte Bearbeitung verliehen wird. Die Konservierung bewirkt die Verdinglichung des Körpers, der den Status eines unzerstörbaren Objekts erhält. Die Identität des Leibes dauerhaft zu behaupten stellt aber auch den Tod auf Dauer. Die religiöse Vorstellung des in seinem Leib 'weiterlebenden' Menschen und die unabweisliche Tatsache, daß er als Toter konserviert wird, kreuzen sich in der Mumie auf unauflösliche Weise.
Jede aus dem Grab geholte Mumie ist so etwas wie ein zwischen Leben und Tod wandernder Untoter und es ist kein Wunder, daß Populärliteratur und Film (nicht das Museum) die Rachemacht dieses unagegoltenen Lebens und Todes ausmalten.Was Archäologie und Museum der Mumie antun ist ja nicht weniger als die Zerstörung nicht der des dinglichen Kontextes (Grabbau, Grabbeigaben usw.), sondern einer spirituellen Vorstellung eines durch diesen Kontext mit garantierten 'Lebens nach dem Tod'.
An und für sich hat die Mumie den Zweck der visuellen Bekräftigung der 'Dauer' gar nicht (anders als etwa 'Effigies' aus Wachs oder Holz, die einen Ersatzleib bilden, die eine Person so repräsentieren können, daß selbst eine Hinrichtung als Bild möglich wird), denn als Teil des Totenrituals ist sie unsichtbar. Das gilt ja für fast alle Bestattungsrituale aller Kulturen und aller Zeiten.
Erst durch Ausstellung und Musealisierung wird eine Erfahrung virulent, die das Museum - bedrohlich und tröstend zugleich - vermittelt. Es gibt 'Dinge', sagt uns das Museum, die uns überdauern (und wir 'in ihnen'). Das gilt für Dinge als Lebensspuren selbstverständlich generell, aber es gilt in einer besonderen Weise für den menschlichen Körper 'als (Museums)Ding'.
Das unüberbietbar symptomatische Objekt des Museums ist die Mumie deswegen, weil strukturell das Museum Dauer garantiert oder zu garantieren glaubt - in Form eines 'unzerstörbaren' technischen Gedächtnisses (der Dinge) und in Form der abstrakten Vorstellung eines damit gestützten transgenerationellen Gattungsgedächtnisses. 
Wie Reliquien konfrontiert uns ein solcher Mumien-Leib wie der Ötzis nicht nur mit seinem Tod (der spekulativ nur in bezug auf die Umstände ist), sondern auch mit unserem Tod, tröstet uns aber mit der Botschaft, daß der Leib überdauern kann, physisch und mental, im 'Gedächtnis des Museums': wir werden nicht spurlos verschwinden.
Diesem 'wir' war und ist Ötzi natürlich ungleich näher als jede ägyptische Mumie, weil er 'bei uns' gefunden wurde, in 'unserer Gegend' und irgendwie (ja wie eigentlich?) zu 'unserer Geschichte', 'unserer' Kultur gehört. Das Phantasma, daß wir von ihm abstammen könnten, mag wissenschaftlich widerlegt sein, erledigt ist es damit aber nicht.
Daß Ötzi nicht bestattet werden kann, versteht sich. Nicht so sehr wegen der Option auf bislang noch ungeahnte, künftige wissenschaftliche Methoden, für die der Leib als 'Forschungsobjekt' 'aufgespart' werden muß, sondern weil seine Sichtbarkeit eine einzigartige Möglichkeit eines Identitäts-Spiels erlaubt, das ein Grabmal nie bieten könnte (mal ganz abgesehen von touristischer und materieller Umwegrentabilität). Wo würde man Ötzi bestatten können?
Der Aufwand, der für das Sichtbarmachen getrieben wird ist technisch groß. Gekühlt und bei hoher Luftfeuchtigkeit liegt der Tote auf einer Art von Seziertisch in einer mit Eisziegeln ausgekachelten Kammer, die vielfach kontrolliert und überwacht wird. Angeblich steht für den Fall eines Totalausfalls eine idente zweite Kammer zur Verfügung. Ötzi darf nicht sterben.
Diese Unheimlichkeit wird durch die klinische Umgebung herabgestuft, versachlicht. Das kleine rechteckige Fenster, durch das der Museumsbesucher einen Blick werfen darf, wird durch eine Wand abgeschirmt, um, wie es auf der Museumswebseite heißt, ein wenig jener Intimität zu ermöglichen, die der Begegnung mit einem Toten angemessen ist.
"Parallel dazu sollte die Forschungsarbeit am Körper fortgesetzt werden. Die Mumie selbst befindet sich heute fast versteckt in einem apsidenartigen, abgedunkelten Raum und kann durch ein Fenster betrachtet werden, an dem die BesucherInnen nacheinander vorbeiziehen. Das nur 40x40 cm große Schaufenster in die Kühlzelle von Ötzi folgt in erster Linie konservatorischen Vorgaben, da bei einer größeren Öffnung die Klimaschwankungen zu stark würden. Mit dieser abgeschirmten Ausstellungssituation wollten die Gestalter auch ethischen Anforderungen nach einer Art "Intimsphäre" für die Mumie gerecht werden."
Ich vermute, daß für den durchschnittlichen Museumsbesucher die Teile des Museums, die den Forschungsergebnissen gewidmet sind, zwar interessant, aber nicht das Entscheidende sind. Die wissenschaftliche Rationalisierung eines Begehrens nach einem unmöglichen Blick - den durch Jahrtausende zurück und in gewisser Weise auch in eine Zukunft, in die wir uns als Überdauernde projiziren können -, wird vor der Mumie unerheblich. Dort ist sie - als Exponat - auf eine Gegenständigkeit reduziert, an der wir unsere Subjektivität - als bedroht und als tröstend stabilisiert - erfahren können.
Wer sich darüber hinaus (und über das Museum hinaus) nach Verlebendigung sehnt und die Spannung von Todesangst und Lebenstrieb nicht aushält, wird reichlich mit animierten Puppen versorgt, bis hin zur filmischen Rekonstruktion oder dem archäologischen Reenactement.
Fotos: Archäologiemuseum Bozen Webseite