Mittwoch, 31. August 2011

Das Goldene Zeitalter (Was ist ein Museum? 12)

Germain Bazin, Chefkurator der Gemäldesammlung des Louvre, hat 1967 eine Museumsgeschichte (The Museum Age) veröffentlicht, die seiner Profession entsprechend ihren Schwerpunkt auf der Geschichte des - europäischen und US-Amerikanischen - Kunstmuseums hat. Das Kapitel zum 19. Jahrhundert trägt den Titel "Goldenes Zeitalter".
Man glaubt ihn zu verstehen als passende Bezeichnung für die Durchsetzung und Ausbreitung einer Idee, ihre Universalisierung im globalen Maßstab und ihre (typologische) Differenzierung über das Jahrhundert hinweg. Das 19. wäre also das Jahrhundert, in dem sich das Museum als wichtige kulturelle Institution weltweit durchsetzt und das 'europäische Modell' vorbildlich wird.
Bazin meint es aber anders. Er bezieht sich auf das museale Sammeln. Er schwelgt in den Freiheiten, die das bürgerliche Zeitalter in einer Art von ursprünglicher Akkumulation der Kulturgüter noch gewährt habe. Sammlungen konnten nahezu beliebig aufgebaut, erweitert, ergänzt werden. Alles schien noch verfügbar, leistbar, erreichbar. Grabungskampagnen, militärische Operationen - das Modell gab Napoleons Feldzug in Ägypten ab -, die Entstehung eines Marktes für 'Museumsstücke', die Ausnutzung ungleicher Machtverhältnisse, die Kolonisierung - das alles ermöglichte eine nahezu grenzenlose Sammeltätigkeit. Museen mussten sich nicht einmal auf den 'Markt' begeben, sondern konnten, etwa in Ägypten, bei Agenten und Händlern gezielt, in der Sammlung 'fehlende' Objekte für eine bestellen - und es wurde geliefert.
Grabanlagen, Schatzfunde, ja ganze Tempel oder Altäre, monumentale Bauten und Ensembles von Kunstwerken, wanderten in die großen Museen europäischer Nationalstaaten. Diese konkurrierten untereinander auch mit ihren Museen und Sammlungen und das Sammlungsgut wurde, woher es auch kam, zum 'Nationalgut', das den Stolz und das Ansehen einer Nation mehrte. Das British Museum wird mit den Elgin Marbles zu dem Museum, als das wir es heute noch sehen und Berlin wird, erst Jahrzehnte später, mit dem Pergamonaltar ein Objekt besitzen, das einigermaßen der Londoner Metropole ebenbürtig macht.
„Von besonderer Bedeutung ist es", schreibt der Preußische Kultusminister an den König, "daß die Sammlungen der Museen, welche bisher sehr arm an griechischen Originalwerken waren […] nunmehr in den Besitz eines Werkes griechischer Kunst von der Ausdehnung gelangen, welche etwa nur in der Reihe der attischen und kleinasiatischen Skulpturen des Britischen Museums gleich oder nahe kommen.“
Die wirtschaftlich, politisch und militärisch überlegenen Staaten bedienten sich in jenen Regionen, in denen es weder eine nennenswerte Museumskultur, Denkmalpflege oder das - moderne - Bewußtsein für die Bedeutung des kulturellen Erbes gab. Unklare politische Verhältnisse, mangelnde rechtliche Regelungen, informelle Deals mit lokalen Behörden und Händlern, das Fehlen für ein Bewusstsein für den ästhetischen oder geschichtlichen Wert der eigenen kulturellen Überlieferung, das sind die Bedingungen, unter denen der Massentransfer in die Museen der großen europäischen Nationalstaaten vor sich gehen konnte.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war Europa von diesem Mechanismus selbst betroffen. Mit der Macht des privaten Kapitals wurden ungeheure Mengen und Qualitäten europäischer Kultur in die USA transferiert um dort weltweit 'konkurrenzfähige' Museen schaffen. Das Metropolitan Museum steigt in wenigen Jahrzehnten vom viertklassigen Stadtmuseum zu einem der bis heute weltweit bedeutendsten Museum auf. Noch in den 30er-Jahren wird der Gründungsdirektor des Museum of Modern Art, Alfred Barr, die ökonomische Überlegenheit der Vereinigten Staaten nutzen, um in Deutschland und der UdSSR, die sich in in einer depressiven wirtschaftlichen Situation befinden, die Grundlage für eine der bedeutendsten Sammlungen Moderner Kunst weltweit zu legen.
Mit einer Unbedarftheit, die heute (angesichts der Raubkunstdebatten) undenkbar wäre, feierte Bazin in seinem in den 60ern erschienenen Buch diesen Zustand als ein Eldorado der Sammler und der Museen. Er hält sich mit keinen moralischen und kulturgeschichtlichen Überlegungen auf. Als leitender Mitarbeiter des Louvre mußte er freilich wissen, daß dieses Museum, und gerade die ihm anvertraute Gemäldesammlung, umfassend auf gewaltförmiger und rechtsbrüchiger Grundlage entstanden war. Heute wäre eine solche Sichtweise nicht mehr zu vertreten. Die seit Jahren geführten Debatten um Arisierung, Raubkunst und Provenienzforschung haben die Politik und die Museen wie auch eine breitere Öffentlichkeit sensibilisiert.
Gewaltförmige Akkumulation ist aber nur eine Seite der gewaltigen 'Museumssammlung' des 'Goldenen Zeitalters'. Die zweite große Triebfeder ist die von Hermann Lübbe und anderen unter dem Stichwort Musealisierung beschriebene Dialektik. Der beschleunigte Wandel aller Lebensverhältnisse, das immer raschere Verschwinden von immer mehr materieller 'Umwelt' und Tradition, rief den Wunsch des Bewahrend hervor. Daß diese Bewegung nicht bloß konservierend verlief war dem gleichzeitigen Entstehen eines 'historischen Sinns' geschuldet, dem das Museum des Historismus aber auch die Geisteswissenschaften ihre soziale und geschichtliche Grundlage verdanken (J. Ritter). Musealisierung ist in erster Linie eine Art der Bewahrung, Erhaltung, Konservierung, aber ohne Formen der Aneignung würde das bloß zur Schaffung eines toten Gedächtnisses führen.
Ohne die Haussmanisierung von Paris hätte der Architekt und Denkmalpfleger Violett le Duc nicht sein (inzwischen aufgelassenes und transformiertes) Musée des Monuments gründen können, ohne die die Stadt tiefgreifende Veränderung Wiens durch den Bau der Ringstraße und die Erweiterung der Stadt, hätte es nicht jenen 'Reliktanfall' gegeben, der zu einer städtischen Sammlung und dann zu einem Stadtmuseum geführt hätte. Ohne den Verlust der wirtschaftlichen und politischen Machtposition hätte es in den Niederlanden keine Museen gegeben, mit deren Hilfe sie ihr 'Goldenes Zeitalter' museal pflegen und vorzeigen.
Ähnliches gilt für Naturmuseen. Sie spiegeln nicht nur die wachsende Naturbeherrschung durch Wissenschaft wieder, sondern auch deren spürbar werdende Zerstörung. Der durch Landflucht, Veränderung der Arbeitsweisen, soziale Umbrüche hervorgerufene Wandel dessen, was man 'das Land' nennen könnte, führte zu - vergeblichen - Versuchen, den spezifischen Hausfleiß, die handwerkliche Produktion ländlicher Bevölkerungen zu erhalten und zur Erweiterung der Musealisierung um volkskundliche und heimatkundliche Museen. Diese Liste ließe sich beliebig verlängern.
Daß in den Musealisierungsthesen ein solider Kern steckt, kann man an vielen zeitgenössischen Beispielen sehen, wo etwa die Erhaltung eines 'alten' Gebäudes oder einer mehr oder minder zufällig zusammengekommenen Sammlung zur Gründung von Museen führen. Ehe man sich von etwas trennt, sich selbst und dem Verfall überlässt oder durch etwas entschieden Neues ersetzt, beginnen jene offenbar tief verankerte Skrupel zu walten, die jede gegen 'das Alte' gerichtete Haltung wie mit einer Schuld kontaminieren.



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