Das Ospedale Santa Maria della Scala in Siena, ein riesiger Architekturkomplex, dem Dom unmittelbar gegenüber gelegen, war bis in die 70er-Jahre Spital.
Ein frühmittelalterlicher Raum, der wiederhergestellt wurde, mit Säulen und Fresken, diente bis zuletzt als Notaufnahme. Jetzt ist das ein riesiger Komplex aus Museum, Kindermuseum, Ausstellungsräumen, Veranstaltungsorten, Archiv, Restaurierwerkstatt.
Aber das ist noch nicht alles. Außer beim Besuch jener Kirchen in Rom, die aus mehreren Zeit-Schichten bestehen, in die man hinabsteigt bis man zu den frühchristlichen Katakomben kommt, habe ich noch nie einen Ort kennengelernt, wo ein derart merkwürdiger und überraschender Weg wie durch die Schichten einer archäologischen Grabung in die Tiefe führt.
Mitte der 80er-Jahre begann mit dem Planen, bald danach waren hier Ausstellungen zu sehen. Jetzt nennt sich das Ganze ein Museum under construction, es wächst mit dem Fortschreiten der Restaurierung und seiner Finanzierbarkeit. Immerhin, so habe ich wo gelesen, geht es hier um einen Raumkomplex im Volumen etwa das Vierfache des Domes.
Ganz oben zunächst das Erwartbare - Kassa und Shop, in einer riesigen Halle, wo die Intervention des modernen Möbel-Ensembles, Infodesk, Büchersockel etc. einen vorbereitet auf die Museografie, die man als bewußt kontrastierende Intervention in die Historischen Räume implementiert hat.
Dieses oberste Geschoss des Ospedale beeindruckt vor allem durch riesige Räume, die wohl ehedem als Kranken'zimmer' genutzt wurden und durch mehrere sakrale Räume, die mehr oder minder fragmentarischen in ihren Überlieferungszustand zurückversetzt wurden. An die Funktion eines Spitals erinnert hier nichts mehr.
Außer ein großer Freskenzyklus, den einer der geistlichen Leiter des Instituts nach dem Motto stiftzete "Tue Gutes und rede darüber!". Die Bildpropaganda illustriert die Arbeit des Ospedale, aber wie weit sich die Bildgeschichte mit der Wirklichkeit deckt, bleibt offen.
Erstaunlich ist, wie man in diesen ersten Räumen schon bemerken kann, wie unbekümmert das moderne Ausstellungsenvironment in den historischen Kontext interveniert. Die gesamte Sockelzone ist Text, genauer gesagt Textträger, denn der eigentliche Text würde ungleich weniger Raum verbrauchen oder nahezu keinen, wenn man auf die in anderen Räumen verwendten entnehmbaren Textblätter zurückgegriffen hätte.
Die Betextung legt einen Parcours durch die Geschichte des Gebäudes und Nutzung der Räume. Im Einzelnen ist das meist wenig interessant, als Ganzes eindrucksvoll.Überraschend ist ein Kindermuseum, das vor allem mit einer Sammlung von Kindheitsdarstellungen arbeitet, und eine unvermittelt sich öffnende Gipsotec, wo ich mir nicht ganz sicher war, ob das entschieden zu weit getriebene Hell-Dunkel einem technischen Gebrechen (partieller Lichtausfall) oder einem rabiaten Konzept zu verdanken war.
Das Abenteuer begann für mich, als ich einem abwärts führenden Pfeil folgte. Dort kommt man in ein labyrinthisch verzweigtes Geschoß offenbar noch genutzter (?) sakraler Raume. Sie dienten Bruderschaften, die, seit dem Mittelalter hier 'ansässig', sowohl kirchliche als auch politische Machtkerne bildeten. Das Subterrane und Klandestine der Räume, vollgepfropft mit jenem religiösen Mobiliar und Nippes, das ästhetisch grausam, funktionell kaum durchschaubar eine ebenso zählebige wie morbide Spielart des Katholizismus repräsentiert, der spirituelle Spuk und Kitsch, das alles gerät durch das Düstere der höhlenartigen Räume und die spärliche Beleuchtung an den Rand des Erträglichen. Unheimlich ist noch ein freundliches Wort für diese merkwürdig nekrophile Aura, die hier - ganz unberührt von der musealen und touristischen 'Welt da oben', herrscht.
Dann ein weiteres Geschoß, das noch mal diesen seltsamen Männerbünden mit bombastischen religiösen Namen vorbehalten war. Die Ausstattung dürfte weitgehend aus dem 19. Jahrhundert stammen und wirkt schon auf den ersten Blick kurios. Einerseits deutet das Mobiliar auf Versammlung und Zusammenkunft, andrerseits gibt es so viele Bilder an den Wänden, daß man an eine Galerie erinnert wird. Das sind Werke von Künstlern, die von den Bruderschaften finanziell unterstützt wurden. Zusammen mit den an antike Heroen erinnernde Marmorbüsten diverser uomini illustri macht das schon mal einen zwar profaneren, aber nicht minder unheimlichen Eindruck.
Dann gibt es einen winzigen Raum, sechs, sieben Stühle, ein Tisch mit einem Lehnsessel, der dem hier Sitzenden einen besonderen Rang verliehen haben muß, an den Wänden Bilder, die, mit einer Ausnahme mehr oder minder freizügig bekleidete Frauen zeigen. Eine Tapetentür. Sonst nichts. Auch einen der neuen Infotexte gibts hier nicht. Man soll sich bei diesem Sanktuarium denken, was man will.
Dann noch eine Treppe runter, das ist möglich wegen der steilen Hügel, die man verbaut hat. Man ist nie innen und unten, sondern bewegst sich sozusagen den Steilhang runter. Plötzlich steht man in einem (modern restaurierten) fast endlosen gewölbten Gang (mit einem Ausgang, schätzungsweise vier Stockwerke unter dem Eingangsniveau). Nächste Überraschung: völlig unerwartet steht man vor zwei der beim Palio benutzten Wagen, auf den der eigentliche Palio, die 'Siegerfahne' und immer ein Marienbild vor dem Pferderennen, das um den Campo führt, um den Platz geführt wird.
An einer Seite dann Glastüren, die zum Archäologischen Museum führt.
Obwohl diese nun zum complesso museale der Santa Maria della Scala führt, entpuppt es sich als eine Welt für sich. Und als was für eine! Einen ähnlichen Ausstellungsraum habe ich nur einmal gesehen, im "Berg der Erinnerungen" (2003), einer Ausstellung in den als Bombenschutzkeller genutzten Kavernen im Grazer Schloßberg.
Wozu auch immer diese Gänge in den Berg gegraben wurden, labyrinthischer kann kaum etwas sein. Besucher gibt es wenig, Aufsicht keine, und es könnte einem etwas bange werden, wenn nicht in gewissen Abständen an die zwei Notausgänge und ihre leichte Erreichbarkeit von jedem Punkt der Ausstellung aus, erinnert würde.
Man beginnt arglos, biegt um eine Ecke, wird in die Gegenrichtung geschickt, einen langen abwärts führenden Gang, und immer wenn man denkt, jetzt ist es zu Ende, jetzt müsse man umdrehen und den Weg zurückfinden, ohne Ariadnefaden, dann entdeckt man einen weiteren Pfeil der einem einen Weg weist, nicht zu ein oder zwei weiteren Räumen, sondern zu einem weiteren Abschnitt des Höhlensystems.
Griechische, römische und vor allem etruskische Funde sind zu sehen, übrigens so karg beschriftet, wie man nur karg beschriften kann, etwas dramatisiert beleuchtet, also das Hell-Dunkel der Höhlenräume unterstreichend, als um Sichtbarkeit der Details bemüht. Einheitliche Holz und Faserteppiche, eisengerahmt, von der Wand etwas abgesetzt, lassen einen wie auf Bootsstegen die Sammlungen durchqueren.
Urnen, Münzen, Vasen, Reliefs, Spolien, Figürchen, Beilklingen - an was kann ich mich noch erinnern? Zu irgendeiner Kunst- und Kulturgeschichte setzte sich das für mich nie zusammen, wahrscheinlich müsste man all die entnehmbaren Blätter durchlesen oder sich einen Katalog beschaffen. Noch dazu stützt sich die Gliederung nicht immer auf Chronologie, sondern ehrt Sammlerpersönlichkeiten, indem sie deren Sammlung beisammen lässt und als Einheit ausstellt.
Ein Objekt hat es mir besonders angetan, ein Relief von einem Sarkophag aus dem 2. Jahrhundert nach Christus. Dargestellt sind die Musen und einige männliche Personen, deren Bedeutung ich nicht kenne. Das Relief ist gut erhalten und hat eine überdurchschnittliche Qualität. Leider war in der Ausstellung nichts über den Kontext dieses Fundes zu erfahren. Musendarstellungen haben mich zu interessieren begonnen, als ich mich mit der Etymologie von 'Museum' und dem Musen-Mythos beschäftigte. Eine der Musendaß ihre Linke die Leier nur wie beiläufig hält, die Finger durch die Saiten geflochten, so als ob sie - gestützt auf ihre Lektüre - gleich wieder zu singen beginnen würde...