2005 fand im Schloß Belvedere in Wien eine große historische Ausstellung statt. Anlaß war die 50. Wiederkehr des Staatsvertrages, der seinerzeit im Belvedere unterschrieben wurde. Die Ausstellung feierte die jüngere Geschichte Österreichs also aus der Perspektive der glücklichen Selbständigkeit und Staatswerdung nach dem Weltkrieg, zugehörigkeit zum Dritten Reich und Zeit der Besatzung durch die Siegermächte.
Der Duktus der Ausstellung war durchgehend patriotisch und staatstragend, durch alle Räume zog sich ein rot-weiß-rotes Flaggenband und die diversen Abteilungen bauten auf der Gemeinsamkeit einer 'Erfolgsgeschichte' von Zweiter Republik und gelungener Nationwerdung auf.
Ungewöhnlich waren die Umstände, unter denen die Ausstellung zustandekam. Da sich die Regierung zögerlich zeigte, eine einschlägige Ausstellung auszurichten, bildete sich eine Gruppe Industrieller, die die Initiative erfgriffen, an ihrer Spitze der ehemalige Finanzminister Hannes Androsch.
Die Ausstellung hätte seinerzeit eine fundierte Kritik verdient. Sowohl die Umstände ihrer Entstehung, innere organisatorische Konflikte, die Planungsgeschichte und vor allem die Ausstellung selbst hätten genug Ansatzpunkte für Kritik geboten. Doch eine solche hat es nie gegeben.
Mir ist Einiges von der Ausstellung noch sehr gut in Erinnerung, vor allem das Objekt Nummer eins, ein Objekt, das nicht nur numerisch im Katalog als erstes aufscheint, sondern das tatsächlich in der räumlichen Disposition das erste war, das man sah und an dem man vorbei musste, wenn man die Ausstellung besuchte.
Ein solches Objekt funktioniert ähnlich wie ein opening shot in einem Film. Von hier aus wird der Erzählfaden aufgenommen und der Zuseher bekommt ein Gefühl für den Stil, die Haltung und Ästhetik des Films. Nicht anders können die ersten Objekte einer Ausstellung die späteren Beobachtungen beeinflussen und färben.
Also zum 'opening object' der Ausstellung "Das neue Österreich". Es war das mit Blut durchtränkte Hemd von Erzherzog Franz Ferdinand, das er beim Attentat von Sarajewo getragen hatte. Wie andere Objekte, z.B. der Wagen, in dem er gesessen hatte, hatte man auch dieses Objekt unmittelbar nach dem Attentat gesichert und aufbewahrt, das Hemd zunächst bei der österreichischen Provinz der Gesellschaft Jesu, die es in einem Gedenkraum in Sarajewo aufbewahren wollten. Dazu kam es aber nicht und das Hemd befindet sich jetzt als Dauerleihgabe im Wiener Heeresgeschichtlichen Museum.
Solche Objekte, die ganz unmittelbar mit einem Ereignis verbunden zu sein scheinen, haben die Qualität profaner Berührungs-Reliquien. Sie sind Zeugnisse eines Todes und Toten an dessen Tod wir Kraft der sichtbaren Spuren teilhaben. Diese Spuren, Körperflüssigkeit, haben eine überdeterminierte, an unsere Affekte und eigene Leiblichkeit und Sterblichkeit weit stärker als die meisten anderen Museumsobjekte erinnernde Bedeutung. Sie vermitteln einem, in eine direkte Zeugenschaft involviert zu sein und in eine unwiderlegbare Beweisführung, wie bei einem kriminologischen Indiz.
Religiöse Reliquien sind entweder Reste vom Körper selbst oder Dinge, die mit ihm in Berührung gestanden haben. Unter diesen sind die herausgehoben, die als "martyrologische" direkt mit dem Tod des Heiligen verbunden waren, etwa eine Dorne von der Dornenkrone Christi. Es sind gerade diese Reliquien und die Körperreste, die, meist im Altar untergebracht, an dem ja das christliche Opferritual stattfand, das gemeinschaftsstiftende Funktion hatte. Das Transgressive des Rituals, an das Opfer für die Gemeinschaft zu erinnern indem man es symbolisch wiederholt, zeichnet auch profanen Reliquien (Die Uhr, die Abraham Lincoln am Tag seiner Ermordung bei sich trug, die Stricknadeln, die Marie Antoinette im Gefängnis benutzte...) aus.
Ist das der Grund gewesen, warum gerade dieses Objekt an erster Stelle der Ausstellung stand? Kaum bewußt. Eher war es als eine Grenzmarkierung einer Epochenschwelle - 1914 - gedacht. Das Jahr 1914, das Attentat von Sarajewo und der Beginn des Ersten Weltkrieges sind zu einer einzigen Bedeutung geronnen. Das mag wohl der Hauptgrund für die Wahl und Platzierung gewesen sein. Selbstverständlich hätte die Wahl auch eine andre sein können, etwa Dokumente zur Kriegserklärung, vielleicht hätte man auch den Wagen des Attentatstages aus dem Museum hierher bringen können oder man hätte ein alltagsgeschichtliches Objekt aussuchen können oder man hätte, statt dieses makabre Stück zu präsentieren etwas aussuchen können, was dem im Ausstellungstitel angeführten "Neuen" an Österreich gerecht gewesen wäre.
Es ist klar, daß gerade das gewählte Objekt nicht 'abbildet', sondern symbolisiert und daß es Bedeutungen erzeugt, die es zu weit mehr machen als einem Indiz in einer Kette von Indizien, die uns verstehen lassen, was es mit dem Kriegsbeginn, mit Kriegsursachen und den folgenden Ereignissen auf sich hat. Wahl, Platzierung und semantische Qualitäten eines Objekts konstituieren zusammen mit seiner Beschriftung, Kommentierung, anderen, umgebenden oder kontextualisierenden Objekten und dem Raum, in dem es gezeigt wird, Bedeutungen, viele Bedeutungen, und auch dem Autor der Ausstellung möglicherweise nicht bewußte.
Ich denke, daß das hier der Fall ist. Hier war sich jemand nicht bewußt, welche Bedeutung er mit der intendierten miterzeugt. Das blutige Hemd, fein säuberlich zusammengelegt, so wie man ein Hemd in seiner Schachtel beim Kauf vorfindet, verweist pars pro toto auf die getötete Person, den Thronfolger. Gezeigt wird uns ein bei einem Attentat Ermordeter, ein Opfer einer Tat, die mit zwei Pistolen (Objekt 2.1. im Katalog), die den Tätern gehörten, 'bezeugt' wird. Das reale Ereignis wird durch das Objekt als Opfer interpretiert, das nahelegt, die dann folgende historische Ereigniskette von Ultimaten und erste Kriegsvorbereitungen wie den beginnenden Krieg als Folgen dieser Tat, die Tat also als Ursache und nicht bloß als Anlass zu sehen.
Erzherzog Franz Ferdinand als Opfer darzustellen kehrt aber ein Machtverhältnis um. Er ist der Souverän, zumindest der Stellvertreter, also der, der über Tod oder Leben, über Krieg und Frieden verfügen konnte. Und das Attentat richtet sich nicht gegen die (private) Person, sondern genau gegen die Funktion als Souverän. Und denken wir bei 'Weltkrieg' nicht naheliegenderweise eher an das anonyme und massenhafte Sterben von Soldaten und der zivilen Bevölkerung? Überblendet die Präsentation des Hemdes auf seinem Sockelvitrine-Altar nicht diese Erinnerung an ein ganz anderes, und zweifelsfrei nicht freiwillig erbrachtes Opfer?
So wie hier visuell operiert wird, kommt noch die Doppeldeutigkeit von 'Opfer' hinzu, die sich im Deutschen nicht sprachlich unterscheiden läßt. Die von geopfert werden und sich opfern. Figuriert Erzherzog Franz Ferdinand hier als "Blutzeuge" oder als 'victim' eines Mordanschlages?
Die Frage beim Ausstellungmachen ist, ob man als AutorIn, den Prozess der Bedeutungskonstitution reflektiert oder nicht. Ob man sich also zum Beispiel in diesem Fall, im Klaren ist, welche Bedeutung an einem bestimmten Ort, in einem bestimmten Umfeld und zu einer bestimmten Zeit annehmen kann und annehmen soll.
Es ist eine der großen Schwierigkeiten von Ausstellungsanalyse und -kritik, nicht (immer) klar zwischen intendierten und symptomatischen, gewissermaßen 'einfach passierten' Bedeutungen unterscheiden zu können. Außerdem ist ja immer auch noch der Besucher mit seinem Wissen und seinen Interessen und seinen Deutungen in Rechnung zu stellen. Aber in diesem Fall hilft uns ein Zeuge, uns über Intendiertes und Nicht-Intendiertes etwas Klarheit zu bekommen. Der Zeuge ist der Ausstellungsmacher selbst, der Historiker, der für diesen Ersten Teil der Ausstellung verantwortlich war und für die Auswahl und Platzierung des Objekts.
Es ist der von manchen seiner Kollegen als "führender österreichischer Zeithistoriker" gerühmte Militärhistoriker Manfried Rauchensteiner, langjähriger Direktor des Heeresgeschichtlichen Museums. Er hat zwei Texte verfasst, die sich auf das hier diskutierte Objekt beziehen. Im Objekttext im Katalog (Seite 43) kommt zuerst die Sachbeschreibung. "Blutiges Hemd des österreichischen Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand nach dem Attentat in Sarajevo vom 28.Juni 1914." Und dann die mit Namen gezeichnete Erläuterung: "Der Doppelmord löste zunächst einen Schock und dann eine europäische Krise aus, die in den Ersten Weltkrieg mündete." Der Sinn dieses Textes scheint mir unmi´verständlich. Es geht um einen kausalen Zusammenhang von Tat und Ereignis (Krieg).
Im ebenfalls von Rauchensteiner verfassten Katalogbeitrag, "Von Sarajevo zur Villa Giusti" (S.31) heißt es im Widerspruch dazu: "Kurz gefasste Darstellungen des Kriegsbeginns 1914 lauten häufig so: Am 28.Juni 1914 wurde in Sarajevo der österreichische Thronfolger ermordet, daraufhin brach der Erste Weltkrieg aus. Manches an dieser Formulierung ist falsch, anderes fragwürdig, der eigentliche Fehler liegt in der vermeintlichen Kausalität, die eher ein Konstrukt der Kriegsschulddebatte als das Ergebnis einer historisch sorgfältigen Reihung und Begründung ist."
Mit dem (auf seine Schlüssigkeit durchaus befragenswerten) Hinweis auf die Herkunft eines Klischees (Sarajevo hat den Krieg ausgelöst), gibt Rauchensteiner selbst einen Fingerzeig darauf, wie sehr jede Deutung auf vorgängigen wissenschaftlichen Positionen und gesellschaftlichen Selbstbildern (Österreich und die Kriegsschuld) beruht. Aber zu retten ist hier nur noch wenig, wenn er selbst, gespalten in Rauchensteiner I und Rauchensteiner II wie ein nestroyscher Zerrissener zwei Positionen darlegt, die sich komplett Widersprechen.
Das ist gewiss nicht Museumsreflexion, sondern ein Beispiel, was passieren kann, wenn diese Reflexion aussetzt und auf das Wunder eines "Objekts, das von selbst spricht," gesetzt wird. Ob er es nun beabsichtigt hat oder nicht - für die Belvedere-Ausstellung war das blutige Hemd ein ideologisch-politisch, nun sagen wir: gehörig mißverstehbares Statement.
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