Mit dem Beschluß, die 'Rekonstruktion' des Berliner Schlosses aufzuschieben, kommt offenbar nicht die Debatte über die Sinnhaftigkeit dieses Projekts zu Stillstand. Eine besonders scharfe Kritik übt der Schriftsteller Ingo Schulze in der Frankfurter Rundschau vom 22.10.2010 (hier).
Sein Kernsatz ist ein Argument, das sich auf die Unfähigkeit der Gestaltung als Unfähigkeit zur Formulierung einer gesellschaftlich vermittelten Idee bezieht: "Die Unsicherheit, welche Funktion die historische Mitte erhalten und wie sie dementsprechend gestaltet werden soll, hat ihren Grund auch darin, dass wir als Gesellschaft über Wachstumsbestrebungen hinaus kaum noch sagen können, was wir wollen."
Er wendet sich vor allem gegen die Behauptung, beim Schloß ginge es um eine Rekonstruktion. Was da geplant sei, se ein Surrogat, so fragwürdig, daß es durch kein auch noch so gutes Konzept zu retten sei. Das "Imitat" Schloß sei so ziemlich das Gegenteil dessen, was es seinen Befürwortern nach sein soll: "Wer die Schlossattrappe als Reaktion auf die Geschichtsvergessenheit der Moderne sieht, als Kompensation globaler Gleichförmigkeit, übersieht bewusst oder unbewusst, dass es gerade hier um Geschichtsvergessenheit und das Aufgeben des Eigenen geht.
Was hat das Selbstverständnis einer föderalen Republik mit dem Bau der Attrappe eines preußisch-deutschen Königs- bzw. Kaiserschlosses zu tun? Leben wir im Zeitalter der Restauration?"
Das Beste am langen Artikel ist ein langes Zitat von Franz Fühmann, das mehr als eine Breitseite gegen die Schlosspläne ist, sondern eine Kritik an Musealisierung generell als Surrogatkultur. "„Der Höllenbezirk der Surrogate: ... der Bürger, der zum Adel aufschaut und sich sehnt, dessengleichen zu werden (...) will, da Grund und Boden mobil wird, das Rittergut nicht nur als Produktionsmittel, sondern auch als seine Standeserhöhung durch den konkreten historischen Ort. Sein Geld, das alles zu können scheint, zielt auf das verbürgt wahre Alte samt Chronik und Ahnengalerie und Hausspuk, doch das verkaufte Schloß ist das Schloß schon nicht mehr, wiewohl es das alte Gemäuer ist. – Die Gespenster verschwinden als erste. –
Und dann war auch das alte Gemäuer nicht mehr, sein Stein wurde Staub, seine Balken wurden Rauch, doch das Schloß ist getreu wieder aufgebaut, Zierde des Naherholungsgebietes, und wir nennen es anheimelnd, was unheimlich ist (...) doch viel unheimlicher, ein anderes Unheimlich, ist die Bereitwilligkeit der das Bürgertum ablösenden Gesellschaft, die Attrappe als das Echte zu nehmen und, weiterhin Altes beharrlich tilgend, keine Mühen für einen Schein zu scheuen, dem das Sein so demonstrativ mangelt. – Was geht da vor? – Darf ich niederzuschreiben wagen, dass mich vor diesen Fassaden schaudert, die ohne einen alten Stein uns den Fortbestand des Alten heucheln? – Surrogate eines Surrogats. (...) Diese Attrappen sind ein grauenvoller Spiegel unseres Mangels an Eigensinn. – Sie sehen gut aus, wir belügen uns selbst. – Wir täuschen Tradition vor, die wir nicht haben, denn es ist ein Irrtum, zu glauben, dass man sie sich linienweise aussuchen kann. Was juridisch vom Erbe gilt, gilt auch historisch: Man hat es ganz, oder man hat es gar nicht, das jeweils Passende gibt es da nicht, und am wenigsten das so gierig Begehrte: ein Widerspruchloses von gestern als Ahnherr des Widerspruchlosen von heute und morgen.“
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