Mittwoch, 15. August 2012

Tiamo (Texte im Museum 311)

Pistoletto-Ausstellung Neue Galerie / Universalmuseum Joanneum

Repräsentativer Eintritt (Entrée 71)


Peter Weiss: Initiation (Sommerlektüre. Das Museum lesen 26)

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Peter Weiss | Initiation


Dann aber ging es noch um ein andres Museum, es trat zutage mit seinem rauchgeschwärzten Klinkergemäuer, einem Magazin ähnlich am großen Bahnhofsplatz in Bremen, an der Straßenecke gegenüber vom Hotel Columbus, rückseitig angeschlossen an die Ausladestellen für Früchte und Gemüse am Güterbahnhof. Zu diesem Museum führte der Weg über die Weserbrücke und den Domshof, am Rathaus vorbei, durch den Schlüsselkorb und die Wallanlagen, links stieg der Park zur Baumschule an, mit der Windmühle überm Stadtgraben, vom Herdentor, neben dem Hillmann Hotel, ging es durch das Gedränge von Automobilen und Straßenbahnen auf die schon sichtbaren hinausgepufften Dampfwolken der Lokomotiven zu, und dann traten wir in die Halle, vor die Pfeilerreihen, die, unterm hohen Glasdach, weit in die Tiefe der Kontinente führten.
Geschnitzte Pfähle, Masten und Tempeldächer erhoben sich hinter den zusammengedrängten tropischen Gewächsen in Kübeln, ich zog meinen Vater, der mich an der Hand hielt, gleich schräg nach rechts, zu den Pygmäen, die sich vor ihrer niedrigen gerundeten Hütte aufhielten, reglos die nackte Frau, die linke Hand um das Kind gelegt, das auf ihrer Hüfte saß und den Fuß auf den Gurt ihres Lendenschurzes stützte, die rechte Hand angehoben zur Halskette aus Leopardenzähnen, das Gesicht zur Seite gewandt, mit halbgeschlossnen Augen vor sich hinblickend, in sich versunken, wie auch der Mann, der auf Spreu kniete und die Arbeit, die er vor den Händen hatte, das Glätten und Zusammenknüpfen von Blättern, vergaß.
Ein Affe lag neben ihm, er hatte spielen wollen, war schläfrig geworden, sein Arm war, noch ausgestreckt, niedergesunken. Sie waren in den Regenwäldern Äquatorialafrikas zuhause, als Sammler und Jäger zogen sie umher, der Dschungel ließ keine Ansiedlung zu, die Hütte diente ihnen zu kurzem Unterschlupf, sie besaßen nur wenige Geräte, Pfeil und Bogen, waren dem Aussterben nah. Zwischen Wurzeln und Gestrüpp hatten sie ihr kuppelförmiges Nest gebaut, gestützt von gebogenen Zweigen, abgedeckt mit Blättern, umwickelt mit dünnen Lianen, ein Schneckengehäuse voll tiefer Dunkelheit. Ringsum erstreckte sich unendlich der Urwald, in dem es schnatterte, grunzte und schrie. Hier war aus dem Roden der winzigen Lichtung, dem schnellen Bauen vor einbrechender Nacht, dem Nomadisieren an den Flußläufen, den Wasserfällen entlang, da die Hütte längst wieder eingegangen war in die Vegetation, ein einziger Augenblick des Wartens geworden. Nicht größer als ich, der Sechsjährige, verharrten die Waldbewohner mit angehaltenem Atem in knisternder Stille und merkten nicht, wenn meine Fingerspitzen ihre mattglänzende dunkle Haut berührten. Es waren noch Beduinen da, vor ihrem Zelt, Eingeborene Australiens, mit Speeren und Wurfhölzern, tätowierte Bewohner eines Pfahlhauses von den Salomoninseln, kunstvoll geflochtne Schildhütten aus Samoa waren zu sehn, japanische Gärten, Tempel und Kultgegenstände aus Birma, Korea, Tibet, Schneehütten der Eskimos, Totempfähle der Prärieindianer, eingeätzt in mein Gedächtnis aber hatte sich vor allem die Familie des Zwergvolks.

Vicenza wurde auf einer Eintrittskarte errichtet (Entrée 70)


Wie hindert man Besucher daran, in zehn Minuten durch eine Ausstellung zu rennen?

Fundsache beim 'Perlentaucher'. 2014 wird die Künstlerin Marina Abramovic in New York ein Institute for the Preservation of Performance Art leiten. Die Künstlerin, die es satt hat, daß "das Publikum in zehn Minuten durch Galerien rennt", hat Maßnahmen vorgesehen, daß sich die BesucherInnen Zeit nehmen:

"'First, you will sign a contract that says you must stay for six hours, regardless if there are events scheduled for the entire time or not,' she began. 'Then you will surrender your Blackberry, your iPhone, your watch, your computer… anything that reminds you of time. Then you will be given a white lab coat, because you have become an experimenter. You will also be given sound-cancelling headphones which you can wear when you like.' But that wasn't all. 'You will have an attendant that will move you from room to room. You will be sitting inside a futuristic wheelchair that I'm creating specifically for the institute with designers and architects. It will be designed to have hot food contained in one arm, cold food inside another, and a place for liquids to drink. You will never have to get out of the chair unless you need to. The attendant will take you where you want. Even if you fall asleep - which people might after a 6- or 24-hour performance - you will dream of the performance because you will have in a sense not left it. This is all designed for long-duration experience.'"

Dienstag, 14. August 2012

Textvandalismus an der - oder doch dem? - Ponte Molle

Die Sammlung Texte im Museum hält nun schon beim Beispiel 310. Noch immer tauchen Besipiele auf, die etwas Neues repräsentieren oder eine überraschende Variante von etwas Altbekanntem. Schön langsam wird diese Sammlung ein Kompendium zur Abfassung, Typografie, Anbringungen, Materialität, Informativität, Funktionalität und gelegentlch auch Absurdität von Museumstexten.

Wenn ich mich recht erinnere gibt es in der ganzen Sammlung nur ein einziges Beispiel für ein weitverbreitetes Phänomen, das jedem Museumssbesucher auffallen muß: den Betextungs-Vandalismus. Also jene mit Bleistift, Kugelschreiber, Filzstift oder was immer an dauerhaft Schreibfähigen zur Hand war, an Texten, vornehmlich Objektbeschriftungen (weil leicht erreichbar) vorgenommenen 'Verbesseruungen'.

Sie können die Rechtschreibung betreffen, typografische Fehler, wie z.B. die bei Computersatz häufigen Trennungsfehler, sachliche Fehler, falsch geschriebene Namen oder Begriffe oder, wahrscheinlich der Hit, falsche (oder vermeintlich falsche) Jahreszahlen.

Soll ich nun aus der Tatsache, daß es in meiner Sammlung dazu keine signifikanten Beispiele gibt, den Schluß ziehen, daß die Qualität der Texte derart verbessert wurde, daß einschlägiger Vandalismus keine Anwendung mehr finden kann?

Was mich aber besonders freut ist, daß diesem in der museologischen Literatur nicht gewürdigtem Phänomen endlch eine Aufmerksamkeit zuteil wurde, die es verdient. Und zwar in einem Blog, in dem ich immer gerne und vergnügt lese, "Der Umblätterer".

Unter dem Pseudonym Marcuccio wurde dort im April diesen Jahres (hier) endlch ein Text zum Textvandalismus veröffentlicht - unter dem Titel "Der oder die Ponte Molle? — Erneute Schlacht an der Milvischen Brücke.

In der Claude Lorraine - Ausstellung des Frankfurter Staedel entdeckt der Autor, daß die Bildbeschriftung "Hirtenlandschaft mit der Ponte Molle" insoweit beschädigt wurde, als das ›der‹ vor »Ponte Molle«  mit blauer Kuli-Farbe durch­gestrichen und "besserwisserisch" mit einem ›dem‹ getauscht wurde. Also: »Hirtenlandschaft mit dem Ponte Molle«.

Ich würde den sehr vergnüglichen Text ja gerne einfach hier einstellen, aber so viel an Klauen will ich mich grade gegenüber einem Blog nicht trauen, den ich so sehr schätze. Verraten sei nur, daß der Autor seine Beobachtung zum Ausgangspunkt, diverse Täterprofile (Man könnte auch medienverhaltenskundlich argumentieren und das Ganze als Übersprunghandlung eines digital native interpretieren, der Museen bislang nur von Google Art kannte... ) zu entwickeln, macht - etwas, was diesen Text zu einer kleinen Metatheorie zur Textsammlung in diesem Blog macht.

Und nicht vergessen: die Kommentare zu diesem Text auch anzusehen...!

Autorschaft (Texte im Museum 310)

Museum Sensenhammer Deutschfeistritz

Montag, 13. August 2012

Hands on, touch me!

Römermuseum / Wien Museum (2012; Foto: GF)

Wie man Museen zugrunderichtet, aber gekonnt. Noch einmal.


Der Post mit der "Schlagzeile" "Wie man Museen zugrunderichtet, aber gekonnt", gehört zu den meistgelesenen der letzten Wochen und hat gute Chancen, in den Charts weit nach oben zu klettern (ja, manchmal verfalle auch ich der Akklamationsmessung und Erbsenzählung...).

Ich habe den Text erneut überarbeitet, noch mal erweitert, Anregungen aufgegriffen und bei der Gelegenheit auch so manchen Tippfehler entfernt, was der Lesbarkeit des Textes guttun wird.

Zu den Effekten des Textes gehören: eine Aufforderung als museologischer Kabarettist aufzutreten, den Text zu publizieren (soll demnächst geschehen) und eine Tagungseinladung.
Ja und dann - dann wird natürlich alles anders und besser werden...

Hier der Link zum Post mit dem überarbeiteten Text: http://museologien.blogspot.co.at/2012/06/wie-man-ein-museum-zugrunderichtet-aber.html

Wer immer Lust hat, etwas aus seiner Berufserfahrung beizusteuern kann mir etwas unter der neuen Mail-Adresse museologien@gmx.at gerne tun. Ich freue mich über Erfahrungserweiterungen.

Finanzkrise = Museumskrise? Ein Beispiel aus den USA

Der Stiftungsrat der Corcoran Gallery, einer nichtstaatlichen Institution, die mehrmals hintereinander ein Millionendefizit erwirtschaftet hat, hat den Verkauf des Museumsgebäudes beschlossen und den Umzug in einen Vorort von Washington.
Der Berichterstatter der NZZ listet folgende Verfehlungen auf, aus denen man sich - sehr unterschiedliche - Gründe für diese Entwicklung wohl selbst zusammenstellen soll: die Konkurrenz zu den zahllosen staatlichen Museen in Washington, namentlich der National Gallery, ungenügende Pflege der Beziehung zu Sponsoren, Mäzenen und Sammlern, schlechtes Marketing und ungenügenede Öffentlichkeitsarbeit, Verprellung jüngerer, aufgeschlossenerer Besucherschichten durch die Absage einer Robert Mapplethorpe-Ausstellung, womit sich die Galerie auch langfristig Schaden zugefügt habe.
Kann es nicht an einer schlechten Programmierung gelegen haben? Nein, das Museum betreibe eine interessante Ausstellungspolitik, versichert uns Roland D. Gerste. (Der Artikel, "Umzug nach Suburbia", ist hier zu finden).

Und hier noch zwei Fotos der Galerie, die demnächst ein Appartementgebäude, eine Bank, ein Hotel, ein Verwaltungsgebäude sein könnte.

1869 wurde die Galerie von William Wilson Corcoran gegründet. Anfangs befand sich das Museum an der 17Street und Pennsylvania Avenue in dem Gebäude, das heute die Renwick Gallery beherbergt. 1897 war der Museumsbestand so groß geworden, das ein neues größeres Gebäude an der 17th Street und New York Avenue erforderlich wurde. Gestaltet wurde das neue Museumsgebäude von Ernest Flagg in Beaux-Arts-Architektur.

Sonntag, 12. August 2012

Arbeit (Texte im Museum 309)

Museum Sensenhammer Deutschfeistritz

Museum Sensenhammer Deutschfeistritz

Als der Sensenhammer im steirischen Deutschfeistritz 1984 schloß, als letzter dieser Betriebe in diesem Bundesland, weil inzwischen technische Mähgeräte längst das mühsame händische Mähen und damit die Sense weitgehend überflüssig gemacht hatten, wurde der Betrieb nicht abgebrochen sondern erhalten und zum Museum umgewandelt.
Dabei beließ man den Betrieb weitgehend so, wie er stillgelegt wurde und obwohl inzwischen einiges an erläuternder Beschriftung hinzugekommen ist, liegt der Reiz dieses Museums in erster Linie im erhaltenen Bau und seinen Arbeitsräumen und -hallen einschließlich der begehbaren Anlage, die die Wasserkraft auf die diversen Maschinen übertragen hat.
Bemerkenswert aber 'unsichtbar' ist, daß die aufgwendieg Erhaltung so eines nicht mehr in Betrieb befindlichen Werks nicht die Initiative und Arbeit Einzelner war und ist, sondern daß die Ortsbewohner sich nachdrücklich für den Erhalt und die Pflege der Anlage eingesetzt haben.
Nur noch über die diversen Texte kann einem vermittelt werden, daß es hier um eine alte 'Industrie' geht, um eine sehr erfolgreiche, auch exportorientierte Eisenverarbeitung in Form hochwertiger Werkzeuge, die rasch mit der Modernisierung der Landwirtschaft implodierte.
Was geblieben ist, sind musel und denkmalpflegerisch erhaltene Räume, die ein Gedächtnis an etwas bewahren, was kaum noch irgendeine aktuelle Bedeutung hat, und letztlich entweder als ästhetischer Eindruck oder alös intellektuelle Rekonstruktion über Textinformation 'museal am Leben gehalten' wird. 




Alarm! (Texte im Museum 308)


Ein Museum: Architekturmuseum Chandigarh


Chandighar ist Indiens erste Planstadt. Sie entstand nach der Abtrennung Pakistans 1947 und war Ausdruck einer zukunftsoffenen Politik, für die die von Grund auf neu geplante Stadt für eine halbe Million Einwohner ein nationales Symbol für Indiens offene Zukunft sein sollte. Sie wurde die Hauptstadt des ebenfalss geteilten Punjab.
Man holte die dazu nötigen Architekten aus dem Ausland. Der Masterplan stammte von Albert Mayer aus den USA, aber schon nach zwei Jahren, im Jahr 1950, übernahm Le Corbusier die Planungen.
Corbusier entwar für Chandighar unter anderem Regierungsgebäude, Colleges, einen Club und mehrere Museen.
Das Architekturmuseum bewahrt vor allem Dokumente zur Planungsgeschichte der Stadt auf.

Na? (Texte im Museum 307)

Römermuseum (Wien Museum) 2012

Samstag, 11. August 2012

August Walla. Eine Ausstellung im Museum Gugging

August Walla wurde 1936 in Klosterneuburg geboren. Da ist die Mutter um die 40, der Vater, ein 'Wiener Hofrat', zahlt zwar Alimente, hat aber nie Kontakt zu seinem Sohn, um das Kind und dessen Mutter kümmert er sich nicht.
Was ich an Biografischem über Walla in Erfahrung gebracht habe, läßt ihn wie von allem Anfang an mit den Institutionen im Konflikt liegen, die nun mal zur Erziehung vorgesehen sind. Kindergarten, Schule, Sonderschule, Heime, nirgendwo gilt er als 'normales' Kind. In der NS Zeit übersteht er einige lebensgefährliche Einweisungen und Überprüfungen. Ausgerechnet dort bestätigt man ihm altersgemäße Intelligenz.
Seine Mutter und seine Großmutter erziehen ihn als Mädchen. Rezente Biografen stricken daraus die Schlüsselthese - einer von Walla phantasierten, von 'den Russen' vorgenommen Operation, die ihn zum Buben gemacht habe.

Der Krieg hinterläßt tiefe Spuren, in seinen Zeichnungen und Bildern sind 'Adolfe' (Hitler), das Hakenkreuz, Hammer und Sichel, die Kürzel KPÖ (Kommunistische Partei Österreichs) oder ÖVP, SPÖ, NSADAP, das Kruzifix - Klosterneuburg ist seit je her eine 'katholische' Stadt mit einem beherrschenden Chorherrn-Stift -, Gott, Engel, allgegenwärtig, ohne daß die Quellen der obsessiven Beeindruckung und die Motive ihrer Verwendung klar wäre.
Er ist schon als Kleinkind kreativ, aber seinen Zeichnen, Malen, Basteln, Schreiben gilt als Teil seiner 'Auffälligkeit' und ist erst recht geeignet, ihn noch tiefer ins Außenseitertum zu verbannen. Als er vorübergehend in die Landesnervenklinik Gugging (ein Ortsteil von Klosterneuburg) eingeliefert wird, trifft er auf Leo Navratil, der sich dort als Primar mit der Kreativität seiner Patienten beschäftigt und sie fördert. Er interessiert sich für Walla, der ja anders als seine Patienten, schon seit langem und außerhalb der Anstalt und ohne diese kreativ tätig ist.
Da Walla mit seiner Mutter in Klosterneuburg wohnt, entsteht ein regelmäßiger Kontakt zwischen Navratil und Walla, und als die Mutter, hochbetagt, den gemeinsamen Haushalt nicht mehr führen kann, werden beide in Gugging aufgenommen. Walla stirbt dort mit 65 Jahren.



Walla hat bis dahin hunderte Zeichnungen geschaffen, Bilder, Texte, Fotografien, Bemalungen, Graffiti, nichts, was als Malgrund tauglich war, hat er übersehen, Wände, Türen, Schachteln, Veranstaltungsprogramme, Koffer, Bäume, Straßen, Kübel, Schreibtischlampen, Geschirr, Hauswände, Steine...
Er hat einen Kosmos von Göttern, Halbgöttern, Teufel, Engeln, Marien, Geistern geschaffen, synkretistisch viele Religionen einbezogen. In diesem Kosmos bezieht er sich selbst ein, 'Adolfe', verschiedene Bundespräsidenten, den 'Hofrat' (Navratil), seine Mutter, seine Großmutter, Anstaltspatienten, Pfleger, Bekannte.
Er hat sich einen Sprachkosmos aus diversen Sprachen zusammengesetzt und einen Kosmos der politischen Zeichen und Kürzel, Hammer und Sichel, Hakenkreuz, Kreuz, Rune, KPÖ, ÖVP, bis hin zu eigens erfundenen Zeichen und schließlich noch einer vollkommen künstlichen Sprache.
Dem pädagogisch fragenden Primar Navratil erklärt er dazu (zu sehen in der Ausstellung in einer Filmsequenz), weil er nicht gerne rede, verwende er fremde Sprachen und er übersetzt ihm, ohne eine Sekunde zu zögern, eine Reihe seiner häufig vorkommenden Namen, aus diversen Sprachen, z.B. aus dem Thailändischen.
Mit sorgfältig getippter Maschinenschrift und mit der gut lesbaren Schrift eines Volksschülers schreibt er Briefe, Postkarten, Texte, Gebete, Rezepte. Er spielt auf einer Trompete, auf einer Mundharmonika, einer Ziehharmonika.



Es gibt ein von seinem Pantheon an Göttern und wesen besiedeltes Jenseits, ein zeitlich und räumlich imaginiertes ,Außerhalb‘, auch als eine eine Art von Himmel denkbar, bei ihm meist Weltende genannt, aber auch die konkrete Stadt Klosterneuburg mit ihren Gebäuden, Stift, Freibad, Gasthäusern und Gegenden, von denen die Donau, ihre Schotterbänke, die Au, einer der für ihn wichtigsten war.
Das war ein Ort auch meiner Kindheit, die Donau, ihre Nebengewässer, die Aulandschaft. Als Badeplatz für damals Tausende ist das alles verschwunden - aufgrund anderer Badegewohnheiten und wegen der Kraftwerke, die die Flusslandschaft stark verändert haben. Ich erinnere mich an Walla und seine Mutter, an seine bis zu den Knien reichende schwarze (Bade)Hose (Hosen sind ein häufiges Motiv, oft ganz unvermittelt in seine Bilder eingefügt wie enigmatische Chiffren), seine Taschen. Ich dachte, die hätten, wie viele Badende, etwas zu Essen mit. Walla hatte aber immer auch Farben dabei, Malwerkzeug. In einem kurzen Filmausschnitt sieht man, wie er auf einer Schotterbänke gezielt Steine auswählt, den Farbtopf hinstellt und öffnet und die Findlinge mit roter Farbe bemalt, einen rechteckicken Stein mit einem Kreuz. Dann nimmt er eine Art von Bethaltung ein.



Was immer er von den prägenden Erfahrungen, katholischen Ritualen, politischen Parolen, mitbekommen hat, es bleibt rätselhaft, warum manches ihn so sehr geprägt hat, so oft wiederkehrt.
'Die Russen' könnten traumatisierende Erfahrungen ausgelöst haben. Für mich als Kind waren sie sehr nah, mit einer kleinen Truppe stationiert direkt meinem Elternhaus gegenüber, ängstigend, aber, schon kurz vor dem Staatsvertrag, nicht mehr gefährlich. Warum für Walla 'die Russen', aber auch die KPÖ oder Hitler immer wieder vorkommen, dafür scheint es keine Erklärung zu geben. Sie repräsentieren in seiner Welt jene Mächte, Bedrohungen, die man durch (be)Malen und Beschriften bannen konnte.
Wie auch immer, seine Bilder und Texte sind auch ein Kosmos eines angsterfüllten Kindes, da braucht es schon viel Schutz durch viele Götter und durch die Mutter und die Großmutter, die er beide in seinen Zeichnungen - expressis verbis - wieder zum Leben erweckt. Es gibt auch böse Wesen, die alles haben, was nicht grade angenehm ist, spitze Hörner, lange Zungen, feurige Hautfarbe, aber bei Walla haben die immer eine ausnehmend freundliches Aussehen und zur Sicherheit schreibt er dann auch noch dazu, daß sie gut, oder freundlich oder lieb sind. Nur der Tod, der ließ sich offenbar schwer ästhetisch entschärfen, ein Gerippe, wie immer, ist das bei ihm, mit einem Totenschädel, durch keinen Kunstgriff freundlich zu stimmen. Doch selbst der muss sagen dürfen "Bin der brave Tod nur". Mehrfach berichtet in Text und Bild von seiner Drohung mit Selbstmord, vor allem in Zusammenhang mit seinen 'Internierungen', als die er seine Anstaltsaufenthalte erlebt haben muss.



So dichotomisch diese Welt ist, gut/böse, weiblich/männlich, irdisch/jenseitig, eines ist sie nahezu ausnahmslos - friedlich, nicht gänzlich konfliktfrei, aber weitgehend frei von Aggression, Verletzung, Unterdrückung. Im begrenzten Reich eines Zeichenblattes leben alle Wesen einträchtig nebeneinander, bunt, vital, Aufmerksamkeit heischend, meist unverbunden, aber in einer stets austarierten Ordnung. Das ist die Welt, in der er leben konnte und sogar frei war, die Vorurteile, die ihm entgegengebracht wurden, etwa daß er ein ,Idiot‘ sei, spielerisch dreht und wendet und sie dadurch harmlos er macht.
Nur auf einem Blatt, das in der Ausstellung zu sehen ist, ergreift Walla die Initiative, wehrt sich, greift zum Gewehr, schießt auf ein Auto und seine Insassen. Es ist der Rettungswagen, der ihn in die Klinik nach Gugging gebracht hat und das Personal, das ihn abholte. Der Gewehrschuß geht eigentlich vorbei, seltsam abdrehend vor dem Auto, aber das steht dann doch in Flammen, ist ansonsten, wie die freundlich aus den Fenstern blickenden Insassen intakt.
Hellsichtig seine Ängste artikulierend, schreibt er, wie in einer Schlagzeile einer Zeitung oder eines Flugblattes, am frei gelassenen Rand des Blattes erläuternde Zeilen, präzise und unmissverständlich seine Angst und seinen Zorn ausdrückend.
Wunderbar signifikant sind die Porträts, die Walla von den Pflegern und Schwestern, vom Primar Navratil macht. Dominant sind die Insignien und Werkzeuge ihres Berufs, ihres Status, der weiße Kittel mit vielen Taschen, in denen Werkzeuge stecken, der gezückte Bleistift, medizinische Geräte als Insignien der ärztlichen Macht, uniformähnliche Kleider mit Aufnähern in den Farben des Staatswappens, also ,Uniformen‘ des Offiziellen, des Staates.



Anderseits muß man der Gugginger Anstalt und diesem Team von Ärzten und Pflegern zugutehalten, daß sie sich nicht nur um das materielle Wohlergehen von Walla und seiner Mutter gesorgt haben, sondern daß er dort Anerkennung gefunden und Freiräume zum Ausleben seiner bildnerischen Obsession bekommen hat.
Vielleicht hat ja Walla nie etwas 'gefehlt', er hat nur nie das Umfeld bekommen, in dem man Kind sein und heranwachsen kann. Nirgendwo finde ich im Katalog zur Ausstellung eine 'Diagnose' und das ist auch gut so. Ein ,Krankheitsbild‘ würde nichts erklären.
Ich habe keine 'Theorie' zur Person und ihren 'Bildern' oder ob das nun Kunst oder welche oder gar keine ist - und ich will auch keine haben.
Nicht ganz gleichgültig läßt mich, was und wie es gezeigt wird; schon zu Lebzeiten von Walla und anderer, z.T. auf Dauer in der Anstalt behandelten und betreuten Patienten (Navratil beschäftigte sich nur mit Männern), muß es darum gegangen sein (nicht nur bei Walla) die Kreationen zu kategorisieren, zu Kunst werden zu lassen, auszustellen, mit dem, was man gemeinhin Markt- und Museumskunst nennt, zu messen.
Plötzlich gibt es von Walla großformatige 'Tafelbilder', sogar Radierungen, ein 'skulpturales' Werk, kurzum jene Ordnungsobsession, ohne die der Kunstbetrieb und kein Journalismus auskommen kann. Alles wird zum 'Werk', einerseits zum Lebenswerk eines 'Künstlers', andrerseits aber auch zum Werk im Sinn eines abgeschlossenen Stücks, das für sich wirken und ausgestellt werde kann, egal ob es Buchstaben mit Kreide auf Asphalt gemalt sind oder gefärbte Donaukiesel.

Abgesehen vom merkwürdigen Fetischismus, der im Katalog mit Edelreproduktionen und Faksimiles als handle es sich um mittelalterliche Buchmalerei, auf die Spitze getrieben wird - läuft dieses Beharren auf dem Kunstbegriff und seinen Ordnungsmustern nicht diametral dem zuwider, was Walla machte?
Ihm war doch alles mit allem verbunden, eine einzige fließende Bewegung ununterbrochner, keine Begrenzung, weder zeitlich noch räumlich duldende Abarbeitung der Ängste, der Trauer, des Heimwehs, des Widerstandes gegen eine ihm von Anfang an fremde und feindselige (Um)Welt.
In der Ausstellung aber ist alles Bild und Rahmen, Ding und Sockel, selbst seine Werkzeuge werden zu kunstvollen Objekten, und vorgezeigt wie kostbare Objekte.
Die Ausstellung ist 'schön', klug gestaltet, die Beschriftung knapp, informativ, man hat Wallas Zeichen, Bruchstücke aus Texten und seine Kunstsprachen-Sätze an Wände appliziert, um die Gliederung durch die Räume zusätzlich zu unterstützen, man hat eine eigene FUTURA-Variante kreiert und der Schau Zitate als eine Art von Interpunktion  unterlegt.
Dabei läuft man Gefahr, in dieser Art von Gesamtkunstwerkhaftgkeit, Wallas Universum in Eigenregie als Idee weiter zu verwenden oder sogar weiter auszubauen, neu zu mischen, und das geht dann wohl schon ein wenig über das Tolerierbare hinaus. 


Ich habe mich auch gefragt, ob der Enthusiasmus, mit der eine so außergewöhnliche Person gewürdigt wird, es rechtfertigt, auch alles zu zeigen, oder ob nicht manches Foto, manches biografische Detail, mancher Kommentar oder tief persönliche Äußerung nicht aus schierem Respekt hätte im Archiv oder Depot bleiben sollen. Wird nicht unter den Bedingungen einer Ausstellung in einem öffentlichen Museum gerade die so schwierig zu definierende und einzuordnende 'Kunst' zu leicht zum Gegenstand recht fragwürdiger Anmutungen und Interessen?
Mir bleibt: eine sehr beeindruckende Ausstellung, eine Begegnung mit einem Stück eigener Kindheit und mit einem wunderlichen Werk eines außergewöhnlichen 'Kindes'.