Donnerstag, 26. Mai 2022

Krieg und Empörung

Jürgen Habermas zur Ukraine

 

Krieg und Empörung

 

Schriller Ton, moralische Erpressung: Zum Meinungskampf zwischen ehemali-gen Pazifisten, einer schockierten Öffentlichkeit und einem abwägenden Bun-deskanzler nach dem Überfall auf die Ukraine.

77 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und 33 Jahre nach Beendigungeines nur im Gleichgewicht des Schreckens bewahrten, wenn auch bedrohten Frie-dens sind die aufwühlenden Bilder eines Krieges zurückgekehrt - vor unserer Türund von Rußland willkürlich entfesselt. Wie nie zuvor beherrscht die mediale Präsenzdieses Kriegsgeschehens unseren Alltag. Ein ukrainischer Präsident, der sich mit derMacht der Bilder auskennt, sorgt für eindrucksvolle Botschaften. Die täglich neuenSzenen von roher Zerstörung und aufrüttelndem Leiden finden in den sozialen Medien des Westens ein selbstverstärkendes Echo. Das Neue an der Veröffentlichungund kalkulierten Öffentlichkeitswirksamkeit eines unberechenbaren Kriegsgeschehens mag uns Ältere dabei mehr beeindrucken als die mediengewohnten Jüngeren.

Aber gekonnte Inszenierung hin oder her - es sind Tatsachen, die an unserenNerven zerren und zu deren schockierender Wirkung das Bewußtsein von der territorialen Nähe dieses Krieges beiträgt. So wächst unter den Zuschauern im Westen dieBeunruhigung mit jedem Toten, die Erschütterung mit jedem Ermordeten, die Empörung mit jedem Kriegsverbrechen - und der Wunsch, auch etwas dagegen zu tun.

Der rationale Hintergrund, vor dem diese Emotionen landesweit aufwallen, ist dieselbstverständliche Parteinahme gegen Putin und eine russische Regierung, die einen massiven völkerrechtswidrigen Angriffskrieg vom Zaune gebrochen haben unddie mit ihrer systematisch menschenverachtenden Kriegführung gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen.

Selbstgewißheit und Aggression der Ankläger gegen Olaf Scholzsind irritíerend.

Trotz dieser einhelligen Parteinahme bahnt sich unter den Regierungen des Westlichen Staatenbündnisses ein differenziertes Vorgehen an; und in Deutschland ist einschriller, von Pressestimmen geschürter Meinungskampf über Art und Ausmaß dermilitärischen Hilfe für die bedrängte Ukraine ausgebrochen. Die Forderungen derunschuldig bedrängten Ukraine, die die politischen Fehleinschätzungen und falschen Weichenstellungen früherer Bundesregierungen umstandslos in moralische Erpressungen ummünzt, sind so verständlich, wie die Emotionen, das Mitgefühl und dasBedürfnis zu helfen, die sie bei uns allen auslösen, selbstverständlich sind.

Und doch irritiert mich die Selbstgewißheít, mit der in Deutschland die moralischentrüsteten Ankläger gegen eine reflektiert und zurückhaltend verfahrende Bundes-regierung auftreten. Seine Politik bringt der Bundeskanzler im Interview mit demSpiegel mit dem Satz auf den Punkt: „Wir treten dem Leid, das Rußland in der Ukraine anrichtet, mit allen Mitteln entgegen, ohne daß eine unkontrollierbare Eskalationentsteht, die unermeßliches Leid auf dem ganzen Kontinent, vielleicht sogar in derganzen Welt auslöst.“ Nachdem sich der Westen entschlossen hat, in diesen Konfliktnicht als Kriegspartei einzugreifen, gibt es eine Risikoschwelle, die ein ungebremstesEngagement für die Aufrüstung der Ukraine ausschließt.

Diese ist durch den jüngsten Schulterschluß unserer Regierung mit den Alliiertenin Ramstein ebenso wie durch Lawrows erneute Drohung mit dem Einsatz vonAtomwaffen soeben wieder in ein grelles Licht gerückt worden. Wer ungeachtet dieser Schwelle den Bundeskanzler in aggressiv-selbstgewissem Tenor in diese Richtung immer weiter vorantreiben will, übersieht oder mißversteht das Dilemma, in dasder Westen durch diesen Krieg gestürzt wird; denn dieser hat sich mit dem auch moralisch gut begründeten Entschluß, nicht Kriegspartei zu werden, selbst die Hände gebunden.

Der Bundeskanzler besteht zu Recht auf einer politisch zu verantwortenden AbwägungDas Dilemma, das den Westen zur risikoreichen Abwägung von Alternativen imRaum zwischen zwei Übeln - einer Niederlage der Ukraine oder der Eskalation einesbegrenzten Konflikts zum dritten Weltkrieg - nötigt, liegt auf der Hand. Einerseits haben wir aus dem Kalten Krieg die Lehre gezogen, daß ein Krieg gegen eine Atom-macht nicht mehr in irgendeinem vernünftigen Sinne „gewonnen“ werden kann, jedenfalls nicht mit Mitteln militärischer Gewalt innerhalb der überschaubaren Frist eines heißen Konflikts. Das atomare Drohpotential hat zur Folge, daß die bedrohteSeite, ob sie nun selber über Atomwaffen verfügt oder nicht, die in jedem Fall unerträglichen Zerstörungen militärischer Gewaltanwendung nicht durch einen Sieg, son-dern bestenfalls mit einem für beide Seiten gesichtswahrenden Kompromiß beendenkann. Dann wird keiner Seite eine Niederlage zugemutet, die sie als „Verlierer“ vomFeld gehen läßt. Die derzeit mit den Kämpfen noch parallel laufenden Waffenstillstandsverhandlungen sind ein Ausdruck dieser Einsicht; sie halten einstweilen denreziproken Blick auf den Gegner als möglichen Verhandlungspartner offen. Zwarhängt das russische Drohpotential davon ab, daß der Westen Putin den Einsatz von ABC-Waffen zutraut. Aber tatsächlich hat die CIA während der letzten Wochen schonvor der aktuellen Gefahr sogenannter „kleiner“ Atomwaffen gewarnt (die offenbar nurdeshalb entwickelt worden sind, um Kriege unter Atommächten wieder möglich zumachen). Das verleiht der russischen Seite einen asymmetrischen Vorteil gegenüberder Nato, die wegen des apokalyptischen Ausmaßes eines Weltkrieges - mit der Beteiligung von vier Atommächten - nicht zur Kriegspartei werden will.

Nun entscheidet Putin darüber, wann der Westen die völkerrechtlich definierteSchwelle überschreitet, jenseits derer er die militärische Unterstützung der Ukraineauch formal als Kriegseintritt des Westens betrachtet.

Angesichts des unbedingt zu vermeidenden Risikos eines Weltenbrandes läßtdie Unbestimmtheit dieser Entscheidung keinen Spielraum für riskantes Pokern.

Selbst wenn der Westen zynisch genug wäre, die „Warnung“ mit einer dieser „kleinen“ Atomwaffen als Risiko einzukalkulieren, also schlimmstenfalls in Kauf zu neh-
men, wer könnte garantieren, daß die Eskalation dann noch aufzuhalten wäre? Was
bleibt, ist ein Spielraum für Argumente, die im Licht der fachlich notwendigen Kennt-
nisse und aller erforderlichen, nicht immer öffentlich zugänglichen Informationen
sorgfältig abgewogen werden müssen, um begründete Entscheidungen treffen zu
können. Der Westen, der ja schon mit der Verhängung drastischer Sanktionen von
Anbeginn keinen Zweifel an seiner faktischen Kriegsbeteiligung gelassen hat, muß
deshalb bei jedem weiteren Schritt der militärischen Unterstützung sorgfältig abwä-
gen, ob er damit nicht auch die unbestimmte, weil von Putins Definitionsmacht ab-
hängige Grenze des formalen Kriegseintritts überschreitet.
Andererseits kann sich der Westen aufgrund dieser Asymmetrie, wie auch die
russische Seite weiß, nicht beliebig erpressen lassen. Würde dieser die Ukraine ein-
fach ihrem Schicksal überlassen, wäre das nicht nur unter politisch-moralischen Ge-
sichtspunkten ein Skandal, es läge auch nicht im eigenen Interesse. Denn dann
müßte er erwarten, das gleiche russische Roulette demnächst wiederum im Falle von
Georgien oder der Republik Moldau spielen zu müssen - und wer wäre der Nächste?
Gewiß, die Asymmetrie, die den Westen längerfristig in eine Sackgasse treiben könn-
te, besteht ja nur so lange, wie sich dieser aus guten Gründen scheut, einen nuklea-
ren Weltkrieg zu riskieren. Mithin wird dem Argument, Putin nicht in die Ecke zu
drängen, weil er dann zu allem fähig sei, entgegnet, daß erst diese „Politik der
Furcht“ dem Gegner freie Hand läßt, die Eskalation des Konflikts Schritt für Schritt
voranzutreiben (Ralf Fücks in der SZ). Freilich bestätigt auch dieses Argument nur
den Charakter einer schwer berechenbaren Lage. Denn solange wir aus guten
Gründen entschlossen sind, für den Schutz der Ukraine nicht als eine weitere Partei
in den Krieg einzutreten, müssen Art und Umfang der militärischen Unterstützung
auch unter diesem Gesichtspunkt qualifiziert werden. Wer sich auf rational vertretba-
re Weise gegen eine „Politik der Furcht“ wendet, bewegt sich schon innerhalb des
Argumentationsspielraums jener politisch zu verantwortenden und sachlich umfas-
send informierten Abwägung, auf der Bundeskanzler Olaf Scholz zu Recht besteht.
Deutsche Leitmedien breiten Spekulationen zu Putin aus wie zu be-
sten Sowjetzeiten
Dabei geht es um die Beachtung einer aus unserer Sicht für Putin zustimmungsfähi-
gen Interpretation einer rechtlich definierten Grenze, die wir uns selbst auferlegt ha-
ben. Die echauffierten Gegner der Regierungslinie sind, wenn sie die Implikationen
einer Grundsatzentscheidung, die sie nicht in Frage stellen, leugnen, inkonsequent.
Der Entschluß zur Nichtbeteiligung bedeutet nicht, daß der Westen die Ukraine up to
the point of immediate involvement dem Schicksal ihres Kampfes mit einem überle-
genen Gegner überlassen muß. Seine Waffenlieferungen können offensichtlich den
Verlauf eines Kampfes, den die Ukraine selbst um den Preis großer Opfer weiterzu-
führen entschlossen ist, günstig beeinflussen. Aber ist es nicht ein frommer Selbstbe-
trug, auf einen Sieg der Ukraine gegen die mörderische russische Kriegführung zu
setzen, ohne selbst Waffen in die Hand zu nehmen? Die kriegstreiberische Rhetorik
verträgt sich schlecht mit der Zuschauerloge, aus der sie wortstark tönt. Denn sie
entkräftet ja nicht die Unberechenbarkeit eines Gegners, der alles auf eine Karte set-
zen könnte. Das Dilemma des Westens besteht darin, daß er einem gegebenenfalls
auch zur atomaren Eskalation bereiten Putin nur durch eine sich selbst begrenzende
militärische Unterstützung der Ukraine, die diesseits der roten Linie eines völker-rechtlich definierten Kriegseintritts bleibt, den Grundsatz signalisieren kann, daß er
auf der Integrität staatlicher Grenzen in Europa besteht.
Die kühle Abwägung einer sich selbst begrenzenden Militärhilfe wird zusätzlich
kompliziert durch die Einschätzung der Motive, die die russische Seite zu ihrem of-
fensichtlich falsch kalkulierten Entschluß bewogen haben. Die Konzentration auf die
Person Putins führt zu wilden Spekulationen, die unsere Leitmedien heute wie zu
den besten Zeiten der spekulativen Sowjetologie ausbreiten. Das heute vorherr-
schende Bild vom entschlossen revisionistischen Putin bedarf wenigstens des Ab-
gleichs mit einer rationalen Einschätzung seiner Interessen. Auch wenn Putin die
Auflösung der Sowjetunion für einen großen Fehler hält, kann das Bild des verstie-
genen Visionärs, der mit dem Segen der russisch-orthodoxen Kirche und unter dem
Einfluß des autoritären Ideologen Alexander Dugin die schrittweise Wiederherstel-
lung des großrussischen Reiches als seine politische Lebensaufgabe betrachtet,
kaum die ganze Wahrheit über seinen Charakter widerspiegeln. Aber auf solche Pro-
jektionen stützt sich die weitgehende Annahme, daß sich die aggressiven Absichten
Putins über die Ukraine hinaus auf Georgien und die Republik Moldau, sodann auf
die Nato-Mitglieder des Baltikums und schließlich bis weit in den Balkan hinein er-
strecken.
Kann dieser Krieg gegen eine Atommacht also „gewonnen“ wer-
den?
Diesem Persönlichkeitsbild eines wahnhaft getriebenen Geschichtsnostalgikers steht
ein Lebenslauf des sozialen Aufstiegs und der Karriere eines im KGB geschulten ra-
tional kalkulierenden Machtmenschen gegenüber, den die Westwendung der Ukraine
und die politische Widerstandsbewegung in Belarus in seiner Beunruhigung über den
politischen Protest in den fortschreitend liberaler denkenden Kreisen der eigenen
Gesellschaft bestärkt haben. Aus dieser Sicht wäre die wiederholte Aggression eher
als die frustrierte Antwort auf die Weigerung des Westens zu verstehen, über Putins
geopolitische Agenda zu verhandeln - vor allem über die internationale Anerkennung
seiner völkerrechtswidrigen Eroberungen und die Neutralisierung eines „Vorfeldes”,
das die Ukraine einschließen sollte. Das Spektrum dieser und ähnlicher Spekulatio-
nen vertieft nur die Ungewißheit eines Dilemmas, das „äußerste Vorsicht und Zu-
rückhaltung gebietet“ (so das Fazit einer lehrreichen Analyse von Peter Graf Kiel-
mansegg in der FAZ vom 19. April 2022).
Wie erklärt sich dann aber die innenpolitisch aufgeheizte Debatte über die von
Bundeskanzler Scholz immer wieder bekräftigte Politik einer in Übereinstimmung mit
den EU- und den Nato-Partnern überlegten Solidarität mit der Ukraine? Um die The-
men zu entflechten, lasse ich den Streit über die Fortsetzung der bis zum Ende der
Sowjetunion und auch noch darüber hinaus erfolgreichen Entspannungspolitik ge-
genüber einem unberechenbar gewordenen Putin, die sich nun als folgenreicher
Fehler herausgestellt hat, beiseite; ebenso den Fehler deutscher Regierungen, sich
auch unter dem Druck der Wirtschaft von billigen russischen Ölimporten abhängig zu
machen. Über das kurze Gedächtnis der heutigen Kontroversen wird eines Tages
das Urteil der Historiker entscheiden.
Anders verhält es sich mit der Debatte, die sich unter dem bedeutungsträchtigen
Namen einer „neuen deutschen Identitätskrise” schon jetzt mit den Konsequenzen
der zunächst nüchtern auf die deutsche Ostpolitik und den Verteidigungshaushalt
bezogenen „Zeitenwende” befaßt. Denn diese Debatte, die vor allem an Beispiele
der erstaunlichen Konversion friedensbewegter Geister anknüpft, soll einen histori-schen Wandel der von rechts immer wieder denunzierten, tatsächlich schwer genug
errungenen Nachkriegsmentalität der Deutschen ankündigen - und damit überhaupt
das Ende eines auf Dialog und Friedenswahrung angelegten Modus der deutschen
Politik.
Schon ist die emotional ergriffene Außenministerin zur Ikone ge-
worden
Diese Lesart fixiert sich auf das Beispiel jener Jüngeren, die zur Empfindlichkeit in
normativen Fragen erzogen worden sind, ihre Emotionen nicht verstecken und am
lautesten ein stärkeres Engagement einfordern. Sie erwecken den Eindruck, als ha-
be sie die völlig neue Realität des Krieges aus ihren pazifistischen Illusionen heraus-
gerissen. Das erinnert auch an die zur Ikone gewordene Außenministerin, die unmit-
telbar nach Kriegsbeginn mit glaubwürdigen Gesten und einer bekenntnishaften Rhe-
torik der Erschütterung einen authentischen Ausdruck verliehen hat. Nicht als stünde
sie damit nicht auch für das Mitgefühl und den Impuls zu helfen, die in unserer Be-
völkerung allgemein verbreitet sind; aber sie hat darüber hinaus der spontanen Iden-
tifizierung mit dem ungestüm moralisierenden Drängen der zum Sieg entschlossenen
ukrainischen Führung eine überzeugende Gestalt gegeben. Damit berühren wir den
Kern des Konflikts zwischen denen, die empathisch, aber unvermittelt die Perspekti-
ve einer um ihre Freiheit, ihr Recht und ihr Leben kämpfenden Nation einnehmen,
und denen, die aus den Erfahrungen des Kalten Krieges eine andere Lehre gezogen
und - wie doch die auf unseren Straßen Protestierenden auch - eine andere Mentali-
tät ausgebildet haben. Die einen können sich einen Krieg nur unter der Alternative
von Sieg oder Niederlage vorstellen, die anderen wissen, daß Kriege gegen eine
Atommacht nicht mehr im herkömmlichen Sinne „gewonnen“ werden können. Grob
gesagt, bilden die eher national und die eher postnational geprägten Mentalitäten
von Bevölkerungen den Hintergrund für verschiedene Einstellungen zu Krieg über-
haupt. Diese Differenz wird deutlich, wenn man den bewunderten heroischen Wider-
stand und die selbstverständliche Opferbereitschaft der ukrainischen Bevölkerung
mit dem vergleicht, was von „unseren“, sagen wir verallgemeinernd, westeuropäi-
schen Bevölkerungen in ähnlicher Situation zu erwarten wäre. In unsere Bewunde-
rung mischt sich ein gewisses Erstaunen über die Siegesgewißheit und den unge-
brochenen Mut der Soldaten und der für den Kampf rekrutierten Jahrgänge, die fin-
ster entschlossen sind, ihre Heimat gegen einen militärisch weit überlegenen Feind
zu verteidigen. Demgegenüber setzen wir im Westen auf Berufsheere, die wir bezah-
len, um uns gegebenenfalls nicht selbst mit der Waffe in der Hand schützen zu müs-
sen, sondern von Berufssoldaten schützen zu lassen.
Noch muß übrigens mit eben jenem Wladimir Putin verhandelt wer-
den
Diese postheroische Mentalität hat sich im Westen Europas - wenn ich das so über-
verallgemeinernd sagen darf - während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts un-
ter dem atomaren Schutzschirm der USA ausbilden können. Im Hinblick auf die mög-
lich gewordenen Verwüstungen eines Atomkrieges hat sich in den politischen Eliten
und dem jeweils weit überwiegenden Teil der Bevölkerungen die Einsicht verbreitet,
daß internationale Konflikte grundsätzlich nur durch Diplomatie und Sanktionen ge-
löst werden können - und daß im Fall des Ausbruchs von militärischen Konflikten der
Krieg, da er nach menschlichem Ermessen im Hinblick auf das schwer kalkulierbareRisiko eines drohenden Einsatzes von ABC-Waffen nicht mehr im klassischen Sinne
mit Sieg oder Niederlage zu Ende geführt werden kann, so schnell wie möglich bei-
gelegt werden muß: „Vom Krieg kann man nur lernen, Frieden zu machen,” sagt
Alexander Kluge. Diese Orientierung bedeutet nicht etwa einen grundsätzlichen Pazi-
fismus, also Frieden um jeden Preis. Die Orientierung an der möglichst schnellen
Beendigung von Destruktion, menschlichen Opfern und Entzivilisierung ist nicht
gleichbedeutend mit der Forderung, eine politisch freie Existenz für das bloße Über-
leben aufzuopfern. Die Skepsis gegen das Mittel kriegerischer Gewalt findet prima
facie eine Grenze an dem Preis, den ein autoritär ersticktes Leben fordert - ein Dasein, aus dem auch noch das Bewußtsein vom Widerspruch zwischen erzwungener
Normalität und selbstbestimmtem Leben verschwunden wäre.
Die von den rechten Interpreten der Zeitenwende begrüßte Umkehr unserer
ehemaligen Pazifisten erkläre ich mir aus einer Konfusion jener beiden gleichzeitig
aufeinanderstoßenden, aber historisch ungleichzeitigen Mentalitäten. Diese markante Gruppe teilt die Siegeszuversicht der Ukrainer und appelliert mit großer Selbstverständlichkeit an das verletzte internationale Recht. Nach Butscha verbreitete sich in Windeseile die Parole: „Putin nach Den Haag!“ Das signalisiert allgemein die Selbstverständlichkeit der normativen Maßstäbe, die wir heute an die internationalen Beziehungen anlegen, also das tatsächliche Ausmaß der Veränderung in den entsprechenden Erwartungen und humanitären Sensibilitäten der Bevölkerung.
In meinem Alter verhehle ich nicht eine gewisse Überraschung: Wie tief muß der
Boden der kulturellen Selbstverständlichkeiten, auf dem unsere Kinder und Enkel
heute leben, umgepflügt worden sein, wenn sogar die konservative Presse nach den
Staatsanwälten eines Internationalen Strafgerichtshofes ruft, der weder von Rußland
und China noch von den USA anerkannt wird. Leider verrät sich in solchen Realitäten auch der doch noch hohl klingende Boden einer erregten Identifizierung mit den
immer schriller gewordenen moralischen Anklagen der deutschen Zurückhaltung.
Nicht als hätte es der Kriegsverbrecher Putin nicht verdient, vor einem solchen Gericht zu stehen; aber noch nimmt er im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen den
Sitz einer Vetomacht ein und kann seinen Gegnern mit Atomwaffen drohen. Noch
muß mit ihm ein Ende des Krieges, wenigstens ein Waffenstillstand verhandelt werden. Ich sehe keine überzeugende Rechtfertigung für die Forderung nach einer Poli-
tik, die - im peinigenden, immer unerträglicher werdenden Anblick der täglich qualvolleren Opfer - den gleichwohl gut begründeten Entschluß der Nichtbeteiligung an diesem Krieg de facto aufs Spiel setzt.
Die Konversion der ehemaligen Pazifisten führt zu Fehlern und Mißverständnissen.
Politisch-mentale Differenzen, die sich aus ungleichzeitigen historischen Entwicklun-
gen erklären, dürfen sich Verbündete nicht zum Vorwurf machen, sie sollten diese
als Fakten zur Kenntnis nehmen und in ihrer Kooperation klug berücksichtigen. Aber
solange diese Perspektiven bildenden Unterschiede im Hintergrund bleiben, verursachen sie wie im Falle der Reaktion der Abgeordneten auf die moralischen Ordnungsrufe des ukrainischen Präsidenten in seiner Videoansprache an den Bundestag nur eine Konfusion der Gefühle - ein Durcheinander zwischen ungaren Reaktionen der Zustimmung, des bloßen Verständnisses für die Perspektive des Anderen und der gebotenen Selbstachtung. Die Vernachlässigung der historisch begründeten Differenzen in der Wahrnehmung und Interpretation von Kriegen führt nicht nur, wie im
Falle der brüsken Ausladung des deutschen Bundespräsidenten, zu folgenreichen Fehlern im Umgang miteinander. Sie führt, was schlimmer ist, zu einem reziproken
Mißverständnis dessen, was der andere tatsächlich denkt und will. Diese Erkenntnis
rückt auch die Konversion der einstigen Pazifisten in ein nüchterneres Licht. Denn
sowohl die Empörung wie das Entsetzen und das Mitgefühl, die den motivationalen
Hintergrund ihrer kurzschlüssigen Forderungen bilden, erklären sich ja nicht aus einer Absage an die normativen Orientierungen, über die sich die sogenannten Realisten immer schon mokiert haben. Sondern aus einer überprägnanten Lesart gerade dieser Grundsätze. Sie haben sich nicht zu Realisten bekehrt, sondern überschlagen sich geradezu in Realismus: Gewiß, ohne moralische Gefühle keine moralischen Urteile; aber das verallgemeinernde Urteil korrigiert auch seinerseits die beschränkte Reichweite der aus der Nähe stimulierten Gefühle.
Immerhin nicht zufällig sind die Autoren der „Zeitenwende“ jene Linken und Liberalen, die angesichts einer drastisch veränderten Konstellation der Großmächte - und
im Schatten transatlantischer Ungewißheiten - mit einer überfälligen Einsicht Ernst
machen wollen: Eine Europäische Union, die ihre gesellschaftliche und politische
Lebensform weder von außen destabilisieren noch von innen aushöhlen lassen will,
wird nur dann politisch handlungsfähig werden, wenn sie auch militärisch auf eigenen
Beinen stehen kann. Macrons Wiederwahl markiert eine Galgenfrist. Aber zunächst
müssen wir einen konstruktiven Ausgang aus unserem Dilemma finden. Diese Hoffnung spiegelt sich in der vorsichtigen Formulierung des Zieles, daß die Ukraine den Krieg nicht verlieren darf.


Süddeutsche Zeitung vom 28. April 2022

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