Diese ziemlich verwirrende Entdeckung machten manche Museumsgründer zu Anfang des 19. Jahrhunderts, also zu der Zeit, da jene hybriden institutionellen Praktiken entstanden, die wir heute als Museum bezeichnen. Interessanter als der Fall München, wo man anläßlich der Errichtung eines Gebäudes für die Antikensammlung des Bayrischen Königs lieber ein neues Wort erfand, nämlich Glyptothek, als 'Museum' zu verwenden, ist Berlin, wo im Zuge der Errichtung und Planung des Königlichen Museum dieses Wort plötzlich verdächtig und umstritten ist. Aber dann doch gewählt wird, obwohl man in der kurz aufflammenden Kontroverse argumentiert, daß "die Alten" so etwas, was hier in Berlin gerade entstehe, nie gekannt hätten.
Das war eine Einsicht, die man auch heute nicht anders formulieren könnte. Aber dennoch hielt man in Berlin an 'Museum' fest - im Namen einer nicht näher erläuterten 'älteren' Bedeutungsschicht.
Ich vermute, daß man die wörtliche Bedeutung meinte und diese aktualisierte: Museum ist die lateinische Form des Griechischen Museion und das ist der "Musensitz", der Ort, an dem sich die Musen aufhalten und wo sie im Medium Tanz und Gesang Götter- und Gattungsgeschichte erzählen.
Die Musen (ihre Zahl ist da noch ganz unbestimmt), Töchter der Göttin der Erinnerung, Mnemosyne und des Zeus sind also so etwas - und das ist etwas historisch Neues - wie ein kollektives Gedächtnis.
Die Musen erzählen Vergangenheit und Deuten Zukunft und versammeln das in der Gegenwart, an einem Ort der sowohl imaginär wie topografisch konkret sein kann: Das Museion. Eine Wiese, ein Hain. Ein vage bezeichneter und ebenso vage lokalisierbarer Platz.
Dieser Ort ist meist einer in der freien Natur, wo es weder Gebäude (etwa einen Tempel) gibt noch - das schon gar nicht - eine Sammlung von Gegenständen. Die Musen singen und tanzen, sie sammeln nicht. Ihr Gedächtnis ist das lebendige der gesprochen Sprache, nicht der Buchstabe des fixierten Textes.
Wenn man in Berlin "Museum" mit "Ruheort" übersetzt, könnte man das als Historisierung der Kunst verstehen. Im Rückgriff auf den Gedächtnisort des Museion und des Gedächtnismediums Musen wäre dann im Museum Kunst ein Gedächtnismedium, erst einmal eines ihrer eigenen Geschichte, die ab nun - chronologisch-kanonisch - das Sujet, der "Gegenstand", der Inhalt des Museums wäre.
Die allmähliche Transformation des Musenmythos, den er in der Antike durchmacht, hat mehrere Aspekte. Einer ist die - konfliktreiche, als Krise des Gedächtnisses in der Philosophie der Antike thematisierte - Ablösung des lebendigen Gedächtnisses, des 'liebenden Eingedenkens' -, durch ein technisches, das sich vom Sprecher und damit von Zeit und Ort lösen kann. Also die durch die Erfindung des Alphabets mögliche und damit auch transgenerationelle 'Monumentalisierung' des Gedächtnisses im Aufzeichnungsmedium Text. Da wurde schon eine für unsere Ohren ganz zeitgenössisch klingende Debatte geführt, ob die Aufzeichnungsmedien nicht das lebendige Gedächtnis zerstörten. Und das taucht ja auch tatsächlich in der Museologie als Frage auf: zerstört Musealisierung von Dingen nicht genau jene Erinnerung (mit den Funktionen), die einmal mit Objekten verknüpft waren? Ist das Aufbewahren von Objekten im Interesse der Erinnerungsfähigkeit nicht eine Zerstörung alles dessen, was einmal mit ihnen an Wissen, Emotionen, Handhabungen usw. verknüpft war. Also im Grunde ein Vergessen?
Die zweite Transformation ist die, die ich als Enteignung der Musen bezeichnen möchte. Ihre Gabe des Erzählens und Deutens geht auf Spezialisten über, z.B. auf den Aioden, der, sich selbst auf einfachen Saiteninstrument begleitend, tausende Versstrophen umfassende, dann auch aufzeichenbare Texte (Hesiod, Homer) verfasst und vorträgt. Oder auf die Philosophen, die nun zu Produzenten und Hütern jenes Wisssens und jener Kunstfertigkeiten werden, die die Musen nur noch beschützen dürfen.
Das Wissen von den Musen verdanken wir gerade diesen Aufzeichnern und Aufschreibern, wie der Schilderung Hesiods in seiner Theogonie, wo er - etwas dreist - den Musen begegnet sein will, die ihn gleichsam beauftragt hätten, ihr Werk weiterzuführen. Da findet eine folgenreiche Übertragung der Wissens- und Erinnerungsmacht auf säkulare und irdische Instanzen statt, die auch die Funktion des "Museion" verändert.
In der Blütezeit der antiken Polis, mit der Gründung der Akademien (die erste entsteht in Athen), ist das Museion das kultische Zentrum eines urbanen, von männlicher Priesterschaft definierten und besetzten Wissensortes.
Das ist auch noch so, bei dem für die Genealogie des Museums scheinbar so wichtigen, im hellenistischen Alexandrien unter der paternalistischen und protektionistischen Politik eines Fürsten errichteten Instituts, bei der wieder das Wort Museion die Bezeichnung Akademie überlagert. Was man davon weiß ist wenig, daß es eine große, enorm wertvolle Bibliothek war, die in einem Brand unterging.
Was im Streiten über das Wort Museum in Berlin in den 20er-Jahren des 19.Jahrhunderts aktualisiert wird, ist die älteste Bedeutungsschicht von Museion: der kollektive Gedächtnisort, an dem Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart versammelt werden. Allerdings, wie wir sehen, kommt die antike Vorstellung Aber noch ganz ohne jene Verdinglichung und technischen Speicherbildung aus, ohne die uns das Museum undenkbar scheint, und um derentwillen man in Berlin ja auch nahe dran war, das Wort zu verwerfen, weil sie völlig "unantik" war.
Der Konflikt aber, der sich zwischen dem lebendig wirkenden Gedächtnis einerseits und seiner technischen, verdinglichenden, 'musealen' Formierung andrerseits eröffnete, ist seit Anbeginn des Museums der Moderne virulent geblieben. Bis heute. Museen vor allem als Sammlungen zu sehen und ihre Existenz in der Bewahrung von Objekten (welcher Art auch immer), löst diesen Konflikt nicht sondern entscheidet ihn zu Gunsten von Verdinglichung und Fetischsierung. Die Aufgabe der Vermittlung, des Erinnerns verblaßt in diesem Verständnis vom Museum.
Anläßlich der unter anderem aus der Beraubung europäischer Sammlung (unter Napoleon) und in der Französischen Revolution gegründeten Museen, namentlich des Louvre, entsteht sofort eine fundamentale Kritik des Museums. Und sie entzündet sich sofort auch an dem beschriebenen Dilemma.
Friedrich Schiller legte in einem kurzen Gedicht, eine Kritik am Bildersturm der Revolution, den Finger in diese Wunde, die sich nie wieder geschlossen hat:
Friedrich Schiller: Die Antiken zu Paris
Was der Griechen Kunst erschaffen,
Mag der Franke mit den Waffen
Führen nach der Seine Strand,
Und in prangenden Museen
Zeig' er seine Siegstrophäen
Dem erstaunten Vaterland!
Ewig werden sie ihm schweigen,
Nie von den Gestellen steigen
In des Lebens frischen Reihn.
Der allein besitzt die Musen,
Der sie trägt im warmen Busen;
Dem Vandalen sind sie Stein.
Fortsetzung folgt.
Abb.: Muse, römische Kopie nach griechischem Original, 2.Jh.n.Chr. Kapitolinische Museen / Centrale Montemartini, Rom. - Mosaik mit Darstellung der platonischen Akademie in Athen. Pompeji, um 50 v.Chr. Museo Nazionale Napoli. Antikes Wikipedia: Wahrscheinlich Platon deutet mit einem Stab auf einen drehbaren Himmelsglobus am Boden. Im Hintergrund die Stadtmauer von Athen. An der Säule eine Sonnenuhr und links vier Öllampen zur abendlichen Beleuchtung. Der Rahmen des Mosaiks ist besonders relevant zum Verständnis der Darstellung. Es handelt sich bei den Köpfen um typische antike Theatermasken mit offenem Mund zur besseren Hörbarbeit der Schauspieler. Das Mosaik ist daher nicht der Akademie selbst, sondern einem unbekannten Theaterstück über die Akademie gewidmet.- Hubert Robert: Salle des Saisons, Musée Napoleon / Louvre. Louvre, Paris
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen