Der Text geht weit über eine aktuellen Appell an die Politik hinaus, doch endlich die Museen wieder zu öffnen. Helmut Bien spricht über gesellschaftliche Aufgaben, die Museen übernehmen sollten, also über eine wie mir scheint auch neue Aufgabenstellung. Während Museen während der Coronakrise überwiegend auf Digitalisierung setzten, auf oft nicht mehr als eine Transformation schon vorhandener Informationen ins Netz, wird hier eine weitaus umfassendere und anspruchsvolle Rolle der Museen diskutiert. Das interessiert mich und deswegen stelle ich den Text in meinen Blog. GF
Und hier meine Replik
Und hier meine Replik
Helmut M. Bien
Öffnet die Museen! Eine Petition
Der #Shutdown, diese Vollbremsung des Alltagslebens, war nötig. Auch die Letzten müssen begreifen, dass es in der Krise auf alle ankommt. Besonders in Gesellschaften, in denen man zuerst an sich selbst denkt, geht es nur so. Das Soziale kann sich kaum anders als durch Regeln effizient zur Geltung bringen. Das war auch schon 1973 bei den autofreien Sonntagen inmitten der Ölkrise so. Seit diesen Tagen hat uns die Energiefrage nie wieder verlassen. Dass jetzt und künftig die persönliche Gesundheit auf dem Spiel steht, haben alle kapiert. Auch diese Sorge wird nicht wieder verschwinden wie eine Grippe. Das ahnen wir. Und weiter?
Wir sehen, dass die Politik ‚auf Sicht’ durch die Krise navigiert, dass selbst die beratenden Experten vor allem wissen, dass sie zu wenig wissen oder sich sogar wechselseitig Unwissen vorwerfen. Alle, die Entscheidungen für sich und andere treffen müssen, brauchen Zugang zu den Wissensspeichern der Gesellschaft. Deshalb war es eine kontraproduktive Entscheidung, die Museen zu schließen. Dieser Fehler muss umgehend korrigiert werden. Öffnet sofort die Museen! Dort findet sich all das, was wir bisher an Wissen gesammelt haben über den Umgang mit Krisen und Seuchen, ihren Folgen und zu ihrer Bewältigung.
Geschichte ist die beste Zukunftswissenschaft, die wir haben. Weil wir im Rückblick auf die Vergangenheit sehen können welche Zukunftsoptionen, Szenarien und Entwicklungspfade wir wählen können, wollen oder sollen. Der Kulturhistoriker Egon Friedell hat seine ‚Geschichte der Neuzeit’ 1348 mit der Pest in Florenz beginnen lassen und die Seuche als einen Treiber für Literatur, Philosophie und Technologie identifiziert, aber auch als Anlass für Hexenverfolgung und Antisemitismus. Die Muster und Mechanismen haben sich viel weniger geändert als uns lieb wäre. In der Geschichte sehen wir welcher Weg wohin geführt hat. Aus dieser Erfahrung ergibt sich keine Zwangsläufigkeit für das Heute aber zumindest eine Warnung zu Risiken und Nebenwirkungen.
Das betrifft auch die Kunstgeschichte, die Beispiele zeigt, welche Strategien Künstler gewählt haben, um heil durch Krisen zu kommen. Claude Monet malte seine Seerosenbilder in Giverny, um mit der Verzweiflung über den ersten Maschinenkrieg 1914 – 1918 fertig zu werden. Das sind Geschichten der Krisenerfahrung, die nur die Museen im Angesicht ihrer Exponate erzählen können. Natürlich sind dabei auch digitale Wahrnehmungshilfen dienlich, aber immer auch ein wenig fahl und flau gegenüber den analogen Objekten. Deshalb öffnet die Museen und zeigt in den Sammlungen Objekte, die verstehen helfen. Beschäftigt Künstler nicht dafür, dass sie nichts tun sondern beispielweise Führungen machen, in denen sie ihre Sichtweisen und Strategien veranschaulichen. In der großen Depression in den USA gab es ein Künstlerprogramm, das Photographen beauftragte das Leben in der Krise zu dokumentieren. Aus diesem Programm gingen künftige Weltstars wie Walker Evans hervor, es entstand überhaupt erst etwas, das man als amerikanische Kultur bezeichnen konnte.
Öffnet auch die archäologischen Sammlungen und zeigt die Cloaca Maxima der Römer, ohne die eine Millionenstadt wie Rom niemals möglich gewesen wäre. Denn diese Cloaca schuf die Voraussetzung für die ungeheuere Verdichtung von Menschen an einem Ort. In Hamburg brauchte es erst einen Robert Koch, der 1892 zur Bekämpfung der Cholera in der Stadt engagiert wurde und den Zusammenhang von Seuche und fehlender (Abwasser)Infrastruktur aufdeckte.
Öffnet die Museum! Schöne Idee, aber wie soll das praktisch gelingen? Für den kommerziellen Raum gibt es die Regel, dass 1 Kunde auf 10 qm zulässig sein soll. Eine übliche Sonderausstellungsfläche im Museum hat 800 qm und damit Platz für 80 Besucher gleichzeitig. Für die meisten Museen in Deutschland dürfte das nicht wenig sein. Mundschutz-Benutzung und Hygienekonzept lassen sich leichter umsetzen als in jedem Geschäft. Sanitäre Anlagen werden sowieso penibel gewartet. An der Kasse lassen sich Plexiglashauben installieren wie an der Supermarktkasse. Selbst Führungen über Headphones sind machbar, weil die Zuhörer nicht dicht gedrängt um einen Guide herum stehen müssen.
Blockbuster-Ausstellungen arbeiten mit einem digitalen Ticketsystem, das online Karten verkauft und Zeitslots für den Besuch zuweist, damit nicht unnötig Warteschlangen entstehen. In kleineren Häusern ließe sich leicht eine Rezeption einrichten, die man telefonisch kontaktieren kann, um Karten und Besuchszeiten je nach Kapazität zu buchen. Jedes Restaurant macht es so mit seinen Reservierungen.
In Krisenzeiten erweist sich was Sonntagsreden wert sind. Systemrelevanz und Unverzichtbarkeit sind da wohlfeil, um dann in der Krise die Kultureinrichtungen sofort und reflexartig dichtzumachen und den hilfesuchenden Künstlern Einmal-Zahlungen anzubieten mit der impliziten Empfehlung, sich ein anderes Geschäftsmodell zu suchen.
Es wäre gut, wenn die Kulturverwaltungen eher Arbeit organisieren würden als Unterstützungsbedürftige zu betreuen. Niemals zuvor seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges war die Kultur wichtiger als im Augenblick. Die Bedeutung der Kultur wird genau in dem Augenblick unterschätzt (übrigens auch von vielen Künstlern) wo die Gesellschaft dringend auf sie angewiesen wäre.
Die phantasievollen Streaming-Aktivitäten im Internet sind nur dann eine nachhaltige Lösung, wenn sie mit Bezahlmodellen verknüpft sind und nicht weitere Selbstausbeutungsinstrumente der Künstler, denen bei der nächsten Vertragsverhandlung nach der Krise vorgehalten wird, sie wären ja auch damals für umsonst aufgetreten.
Lasst die Museen vorangehen, sie sind für das #PersonalDistancing bestens geeignet im Unterschied zu den darstellenden Künste, die ihr Publikum in Raum und Zeit konzentrieren. Lasst 2020 zum Museumsjahr werden!
Helmut Maternus Bien
westermann kulturprojekte
Studium der Philosophie, Psychologie und Pädagogik in Berlin. Redakteur, Autor, Zeitschriften- und Katalogmacher. Ausstellungskurator. Seit 1976 publizistisch tätig für Tageszeitungen wie die WAZ, Fernsehsender wie SAT 1, Zeitschriften-Legenden wie Transatlantik oder das FAZ-Magazin. Schwerpunkte: Kunst und Kultur, Kulturgeschichte des Alltags (Tourismus, Werbung, Esskultur) und wirtschaftsnahe Themen wie Unternehmens- und Produktkarrieren, Design, Marketing und Messewesen. Seit 2002 Animator und Kurator der Luminale.
Inzwischen hat Helmut Bien, der den Text geschrieben hat, ehe der Öffnung der Museen angekündigt wurde (in Deutschland und in Österreich Mitte Mai bzw. Anfang Juni), auf diese Ankündigung reagiert: Die Berliner Museen gehen voran und eröffnen am 11.Mai ! DANKE an alle, die mitgeholfen haben, die Petitition 'ÖFFNET DIE MUSEEN" zu verbreiten. Die Resonanz (nicht nur auf FB) war nachhaltig. Bitte verbreitet die Petition weiter. Denn die Öffnung ist nur der erste Schritt. Die Museen können jetzt die Rolle annehmen, zu Orten der Selbstverständigung unserer Gesellschaft zu werden. Sie haben die Lage in der Stadt, die Multirfunktions-Räume, die Kontakte in die Stadtgesellschaften. Die Museen können Kerne eines öffentlich geförderten PUBLIC ART PROGRAM bilden, das Beschäftigung für Kulturschaffende aus allen Sparten schafft und vor allem dafür sorgt, dass #PersonalDIstancing nicht zu #SocialDistancing mutiert...
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