Bertrand Perz (Institut für Zeitgeschichte
der Universität Wien)
Pflichtbesuche
in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen?
Die unlängst von
Staatssekretärin Karoline Edtstadler getätigte Äußerung, für sie sei „vorstellbar, dass alle Muslime, die nach Österreich
kommen, zu einem Besuch in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen verpflichtet werden“,[1]
ist zu Recht von mehreren Seiten heftig kritisiert worden, u.a. vom Mauthausen
Komitee Österreich, zuletzt von der Vermittler_inneninitiative
an der Gedenkstätte Mauthausen-Gusen.[2] Ähnliche Forderungen in Deutschland hat bereits
Jens Christian Wagner, Leiter der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen,
zurückgewiesen, nicht zuletzt stellten sie Flüchtlinge
und Migranten unter Generalverdacht.[3] Weder führten verordnete
Besuche von ehemaligen Konzentrationslagern automatisch zu einem besseren
Verständnis der NS-Geschichte noch schützten sie vor Judenfeindlichkeit, so
Wagner. Zugleich betonte er die Wichtigkeit von Gedenkstättenbesuchen – aber
nicht als verpflichtende Kurzführungen für spezifisch definierte Gruppen.
Die
Vorstellung verpflichtender Besuche in KZ-Gedenkstätten hat allerdings eine
lange Vorgeschichte, wenn auch der Einengung auf eine ganz spezifische Gruppe
eher Seltenheitswert zugesprochen werden muss.[4]
Seit KZ-Gedenkstätten ins Zentrum einer
Erinnerungskultur gerückt sind, in Österreich ab den 1980er Jahren, wird ihre
Funktion vonseiten der Politik oft darin gesehen, eine Art von Crashkurs in
Geschichts- und Demokratiebewusstsein zu liefern. Äußerungen dazu lassen sich
aus verschiedenen politischen Lagern finden. Manche Politiker bedienen sich
dabei zum Teil seuchenhygienischer Metaphorik; Begriffe wie „Schutzimpfung“ und
Ähnliches lassen sich finden.
In Bezug auf die Geschichte der
KZ-Gedenkstätte Mauthausen ist festzuhalten, dass diese im ersten Jahrzehnt
nach ihrer Einrichtung im Jahr 1949 von der österreichischen Gesellschaft
mehrheitlich ignoriert wurde. Die Gedenkstätte war vor allem jenen ein
Anliegen, die vom Nationalsozialismus verfolgt worden waren oder das KZ Mauthausen
selbst überlebt hatten. Neben Verfolgten aus Österreich und ihren
Organisationen waren es vor allem Überlebenden-Verbände aus dem Ausland wie aus
Frankreich, Polen oder Italien. Erst ab den 1960er Jahren trugen die Bemühungen
ehemaliger KZ-Häftlinge, die Zahl der Besuche in Mauthausen zu steigern, erste
Früchte. Vermehrt konnten nun auch österreichische Jugendliche motiviert
werden, die Gedenkstätte zu besuchen.
Dabei spielten die Schulen eine nicht
unwesentliche Rolle. Die Vorstellung, mit Gedenkstättenbesuchen – verstanden
als Teil der politischen Bildung und zeitgeschichtlichen Unterweisung –,
antidemokratischen Entwicklungen entgegenzuwirken, führte in den
österreichischen Schulverwaltungen zu expliziten Empfehlungen, die
KZ-Gedenkstätte Mauthausen zu besuchen. Die erste derartige Empfehlung sprach
der Wiener Stadtschulrat 1960 aus, bundesweite Aufforderungen benötigten
allerdings mehr Zeit. Erst durch die 1973 neu geschaffene Abteilung Politische
Bildung im Unterrichtsministerium ergingen Ende der 1970er Jahre entsprechende
Erlässe. Es bedurfte dieser Motivierung von Schulen, sich mit dem Thema
Nationalsozialismus, den Konzentrationslagern und dem Holocaust
auseinanderzusetzen, um hier Veränderungen zu bewirken. Diese zähen Bemühungen
zeigten vor dem Hintergrund einer grundlegenden Veränderung der Debatte über
das Thema NS-Verbrechen und Judenvernichtung und eines Generationenwechsels zu
einer jüngeren kritischeren Lehrer_innen-Generation, die sich hier zu
engagieren begann, Wirkung. Als Katalysatoren dienten etwa die 1979
ausgestrahlte US-amerikanische Fernsehserie „Holocaust“ und – in den 1980er
Jahren – die Waldheim-Debatte. Für die Gedenkstätte in Mauthausen hatte das eine
massive Vermehrung der Besuche durch Heranwachsende zur Folge.
Eine wichtige Voraussetzung dafür war die
Einrichtung einer zeithistorischen Ausstellung, die 1970 in Mauthausen eröffnet
worden war und der Gedenkstätte neben seiner Friedhofs- und Denkmalsfunktion
jene eines Museums und Lernortes hinzufügte. Die Ausstellung verdankte sich,
wie schon zuvor die Gedenkstätte selbst, dem enormen Engagement von
KZ-Überlebenden, die sich nun auch massiv in die Vermittlungsarbeit einbrachten,
in Schulen gingen oder vor Ort persönlich Führungen hielten.
KZ-Gedenkstätten wie Mauthausen spielen so
heute in der politischen Bildung insbesondere von Jugendlichen in Ländern wie
Deutschland und Österreich eine enorm wichtige Rolle und werden breit
angenommen. Etwa die Hälfte der rund 200.000 jährlichen Besucher_innen kommen
im Rahmen von Schulbesuchen aus dem In- und Ausland nach Mauthausen.
Bei all diesen Bemühungen waren
verpflichtende Besuche der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, für welche Zielgruppe
auch immer, vonseiten der Überlebenden wie auch der freiwilligen und der professionellen
Geschichtsvermittler_innen kein Thema. Und das aus gutem Grund.
Denn Gedenkstätten als Friedhöfe, Denkmäler
und Museen können vieles anregen und anstoßen, können spezifische Diskussions-
und Vermittlungsorte sein. Sie sind aber eben kein Instant-Produktionsort
„richtigen“ Geschichtsbewusstseins, keine Bewusstseinsschleuse, die Menschen
mit autoritärem, antisemitischem oder rassistischem Gedankengut betreten und
wenige Stunde später als geläuterte Demokraten verlassen.
Genau das aber ist die Vorstellung, die in der
Politik in Bezug auf die Gedenkstätten weiterhin geäußert wird, in den Worten
von Staatssekretärin Edtstadler: „Denn wenn man selbst gesehen und gehört hat, welches Leid Antisemitismus
erzeugt hat, wird man resistent gegen diese furchtbare Wertehaltung“.
In den KZ-Gedenkstätten werden solche Forderungen mit gemischten
Gefühlen aufgenommen. Nicht in erster Linie deshalb, weil man weiß, dass ein
Gedenkstättenbesuch ohne entsprechenden Wertehorizont ganz anderes bewirken
kann, als intendiert. So gab es in deutschen Gedenkstätten auch Besuche von
Rechtsextremen, die ihren Besuch provokativ mit dem Lernziel verbanden, am Ort
der ehemaligen KZs etwas über effiziente Repressionstechniken erfahren zu
wollen. Solche Vorfälle sind aber eher selten. Die gemischten Gefühle kommen
auch vom Wissen um den äußerst langwierigen Prozess, der mit der Vermittlung
von Einstellungen und Wertehaltungen verbunden ist.
Mit einer vehementen Zurückweisung des Ansinnens, Besuche von
KZ-Gedenkstätten verpflichtend zu machen, tun sich Gedenkstätten auch aus einem
anderen Grund oft schwer. Denn man ist sich bewusst, dass die Erwartungshaltung,
solche Besuche wirkten aufklärend, für die Politik einen Teil der Legitimation
der Bereitstellung großer finanzieller Mittel für Gedenkstätten darstellt.
Dennoch gibt es aber aus vielen
Gedenkstätten eine sehr klare Zurückweisung der Vorstellung von
Pflichtbesuchen. So verweist einer der renommiertesten Gedenkstättenleiter in
Deutschland, Volkhard Knigge, darauf, dass diese von Jugendlichen als „Aufnötigung“
wahrgenommen würden, was einer Motivierung entgegenstehe. Aber auch ein Blick
auf die verpflichtenden Programme, wie sie in der DDR in Bezug auf die Herstellung
von Geschichtsbewusstsein üblich waren, macht Knigge mehr als skeptisch.
Generell ist aber auch in Deutschland die
Auffassung zweigeteilt. Die Forderungen nach Pflichtbesuchen für diverse
Zielgruppen kommen eher aus der Politik, die Zurückweisung des Glaubens an naive
Geschichtsbewusstseinsproduktion eher von den Geschichtsvermittler_innen.
Der rezente Vorschlag von Staatssekretärin
Edtstadler, antisemitischen Einstellungen unter zugewanderten Muslimen durch
verpflichtende Mauthausen-Besuche entgegenzuwirken, weist aber auch noch auf
eine weitere Problematik hin, die vielleicht mit mangelnden Kenntnissen der
konkreten historischen Geschehnisse in Mauthausen korreliert. Die Fokussierung
auf die Judenverfolgung befördert eine in der Öffentlichkeit oft anzutreffende
Vorstellung, in den Konzentrationslagern wie Mauthausen seien vorwiegend Juden
und Jüdinnen eingesperrt gewesen.
Mauthausen steht als Konzentrationslager
aber nicht zentral für den Massenmord an den europäischen Juden, wie das für die
deutschen Vernichtungslager in Ostpolen oder für Auschwitz gilt. Im
Lagerkomplex Mauthausen wurden – vor allem ab Frühjahr 1944 – viele tausende
Juden, vorwiegend aus Ungarn und Polen, ermordet. Aber in Mauthausen starben
eben auch viele andere von den Nationalsozialisten als zu vernichtende Feinde
definierte Gruppen wie sowjetische Kriegsgefangene, Angehörige nichtjüdischer
polnischer Bildungsschichten, französische Widerstandskämpfer, republikanische
Spanier oder deutsche Zuchthausinsassen. Und unter den Opfern befanden sich
auch Muslime.
Und um nochmal auf die Zielgruppe von
Migrant_innen zurückzukommen. Die Frage, was ein notwendiges Wissen über die
NS-Verbrechen und den Holocaust im Hinblick auf die Integration von Zuwanderern
in unsere Gesellschaften ist, scheint berechtigt. Das gilt aber eben nicht nur
für diese. Es bleibt festzuhalten, dass die KZ-Verbrechen und der Massenmord an
den europäischen Juden und Jüdinnen in erster Linie von – meist christlich
sozialisierten – Deutschen und Österreichern (vorwiegend, aber nicht nur,
Männern) begangen wurden, also von Menschen, die aus der Mitte unserer
Gesellschaft kamen. Nicht zuletzt deshalb hat sich die „Holocaust-Education“ in
den letzten Jahren intensiv mit der Frage beschäftigt, wie man Jugendlichen mit
Migrationshintergrund, deren Gesellschaften mit dem Holocaust nur wenig zu tun
hatten, das Thema als relevant vermitteln kann. Dazu sind viele gute Konzepte
entwickelt worden. Der Pflichtbesuch, der bestimmte Menschengruppen unter
ideologischen Generalverdacht stellt, gehört nicht dazu.
[1] BMI Staatsekretariat: Edtstadler: Kampf gegen Antisemitismus
wichtiger denn je. Ein Maßnahmenpaket der Bundesregierung wird in den kommenden
Wochen ausgearbeitet. Muslime sollten zu Besuch in KZ-Gedenkstätte Mauthausen
verpflichtet werden. (https://www.bmi.gv.at/news.aspx?id=446B54332B4344637543413D,
Zugriff 5.4.2019)
[2] Edtstadlers Zwangspädagogik. Kommentar der anderen. Offener Brief,
26. März 2019. https://derstandard.at/2000100268109/Edtstadlers-Zwangspaedagogik,
Zugriff 30.3.2019
[4] So hat zwar Justizminister Brandstetter 2016 als Folge der äußerst
fragwürdig begründeten Einstellung eines Verfahrens durch die
Staatsanwaltschaft Graz gegen die Zeitschrift "Aula", in der in einem
Artikel KZ-Häftlinge als "Massenmörder" und "Landplage"
bezeichnet worden waren, im Rahmen des Curriculums für Richteramtswärter_innen
verpflichtende Besuche der KZ-Gedenkstätte Mauthausen vorgesehen. Allerdings
sollten diese Besuche in ein umfangreiches Ausbildungsprogramm eingebettet
werden. (https://derstandard.at/2000032745846/Causa-Aula-Brandstetter-zieht-Konsequenzen-bei-Ausbildung,
Zugriff 5.4.2019)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen