Veröffentlicht am 3. Oktober 2018
Die deutsche Geschichtswissenschaft ist geprägt von großer
Stimmenvielfalt und einer Zurückhaltung hinsichtlich politischer
Statements. In den letzten Jahren äußern sich jedoch zunehmend
HistorikerInnen im Rahmen gesellschaftlicher Debatten, die aus ihrer
Sicht Gefahr laufen, zu ideologischen Irrläufern zu werden und damit
historisches Wissen zu verfälschen, zu negieren oder für politische
Meinungsmache zu nutzen.
Die Diskussionen auf der
Mitgliederversammlung des Verbandes der Historiker und Historikerinnen
(VHD) Deutschlands auf dem 52. Deutschen Historikertag in Münster
zeigten, dass es neben der Stimmenvielfalt eine übergroße Einigkeit gab
im Willen, sich zur derzeitigen gesellschaftspolitischen Lage im Land zu
äußern.
Im Folgenden finden Sie den Text der Resolution, über die in der
Mitgliederversammlung des VHD am 27. September abgestimmt wurde und die
mit großer Mehrheit von den Anwesenden angenommen worden ist.
A. Schuhmann
Verabschiedet von der Mitgliederversammlung am 27. Sept. 2018 in Münster
In Deutschland wie in zahlreichen anderen Ländern bedrohen derzeit
maßlose Angriffe auf die demokratischen Institutionen die Grundlagen der
politischen Ordnung. Als Historikerinnen und Historiker halten wir es
für unsere Pflicht, vor diesen Gefährdungen zu warnen. Streit ist
essentiell in einer pluralistischen Gesellschaft, aber er muss
bestimmten Regeln folgen, wenn er nicht die Demokratie selbst
untergraben soll.
Geschichtswissenschaft hat die Aufgabe, durch die Analyse
historischer Entwicklungen auch zur besseren Wahrnehmung von
Gegenwartsproblemen beizutragen und die Komplexität ihrer Ursachen
herauszuarbeiten. Angesichts einer zunehmend von demoskopischen
Stimmungsbildern und einer immer schnelllebigeren Mediendynamik
getriebenen Politik möchten wir betonen, dass nur ein Denken in längeren
Zeiträumen die Zukunftsfähigkeit unseres politischen Systems auf Dauer
gewährleisten kann.
Die folgenden Grundhaltungen des demokratischen Miteinanders in Politik und Gesellschaft halten wir deshalb für unverzichtbar:
Für eine historisch sensible Sprache, gegen diskriminierende Begriffe
Zur politischen Diskussion in der Demokratie gehört eine prägnante
Sprache, die die eigene Position auf den Punkt bringt, anderen aber den
grundsätzlichen Respekt nicht versagt. Heutige Beschimpfungen von
Politikern als „Volksverräter“ oder der Medien als „Lügenpresse“ nehmen
die antidemokratische Sprache der Zwischenkriegszeit wieder auf.
Zahlreiche historische Beispiele gibt es auch für die verhängnisvolle
Wirkung abwertender Begriffe zur Ausgrenzung vermeintlich „Anderer“
aufgrund ihrer Religion, ihrer ethnischen Herkunft, ihres Geschlechts
oder ihrer sexuellen Orientierung.
Für parlamentarische Demokratie und pluralistische Streitkultur, gegen Populismus
Politische Willensbildung in pluralistischen Demokratien vollzieht
sich in öffentlichen Debatten, in denen die Vielfalt politischer
Meinungen und sozialer Interessen zum Ausdruck kommt. Ein einheitlicher
Volkswille, den dazu Berufene erfassen können, ist dagegen eine Fiktion,
die vor allem dem Zweck dient, sich im politischen Meinungskampf
unangreifbar zu machen. In der Weimarer Republik ebnete die Idee des
„Volkswillens“ einer Bewegung den Weg zur Macht, deren „Führer“ sich als
dessen Verkörperung verstand.
Für ein gemeinsam handelndes Europa, gegen nationalistische Alleingänge
Angesichts der zahlreichen gewaltsam ausgetragenen innereuropäischen
Konflikte der Vergangenheit ist die europäische Einigung im Zeichen von
pluralistischer Demokratie und unantastbaren Menschenrechten eine der
wichtigsten Errungenschaften des 20. Jahrhunderts. Auch wenn die
Legitimität unterschiedlicher nationaler Interessen außer Frage steht,
gefährden nationalistische Alleingänge diese historische Leistung.
Ausschließlich nationale Problemlösungsstrategien können den
politischen, humanitären, ökologischen und ökonomischen
Herausforderungen einer globalisierten Gegenwart nicht angemessen
begegnen. Nicht zuletzt im Lichte der kolonialen Gewalt, die Europäer in
anderen Teilen der Welt ausgeübt haben, gilt es, der gemeinsamen
Verantwortung für die Folgen unserer Politik im außereuropäischen Raum
gerecht zu werden.
Für Humanität und Recht, gegen die Diskriminierung von Migranten
Migration ist eine historische Konstante. Ungeachtet aller mit ihr
verbundenen Probleme hat sie die beteiligten Gesellschaften insgesamt
bereichert – auch die deutsche. Deshalb ist auf eine aktive, von
Pragmatismus getragene Migrations- und Integrationspolitik
hinzuarbeiten, die sowohl die Menschenrechte als auch das Völkerrecht
respektiert. Es gilt, das durch die Verfassung garantierte Recht auf
politisches Asyl sowie die Pflicht zur Hilfeleistung in humanitären
Krisensituationen so anzuwenden, wie es Deutschland nicht nur aufgrund
seiner ökonomischen Potenz, sondern auch aus historischen Gründen
zukommt.
Für eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, gegen den politischen Missbrauch von Geschichte
Die Bundesrepublik Deutschland ist heute eine stabile Demokratie.
Dazu beigetragen hat auch, dass die Deutschen nach anfangs erheblichen
Widerständen inzwischen mehrheitlich selbstkritisch und reflektiert mit
der Geschichte des Nationalsozialismus umgehen. Diesem Prozess hat sich
auch unser eigenes Fach erst spät geöffnet. In jedem Fall setzt ein
verantwortungsvoller Umgang mit der Vergangenheit die Befunde einer auch
zur Selbstkritik bereiten Geschichtswissenschaft voraus, die von
politischer Einflussnahme prinzipiell unabhängig ist. Ihre Erkenntnisse
beruhen auf quellenbasierter Forschung und stellen sich der kritischen
Diskussion. Nur so ist es möglich, die historischen Bedingungen unserer
Demokratie auch zukünftig im Bewusstsein zu halten und gegen
„alternative Fakten“ zu verteidigen.
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