Montag, 17. Januar 2011

Das Ruhr Museum in Essen. Eine Kritik

Ausstellungskritik ist selten, Museumskritik erst recht. Mit freundlicher Erlaubnis der Autorin Vera Hierholzer und H-Soz-u-Kult, wo ich diese Museumskritik zum Ruhr Museum gefunden habe, übernehme ich sie gerne - und ungekürzt. Zumal sie ein wichtiges Museum betrifft, das für kulturhistorische Museen schon lange ein Modell war und das sich nun vollkommen neu präsentiert.


Keiner Sparte zurechnen lassen will sich das Essener Ruhr Museum auf der Zeche Zollverein und schon gar nicht „nur“ ein Industriemuseum sein. Dementsprechend bezeichnet es sein Direktor Ulrich Borsdorf auch gerne als „Hybrid“. Und tatsächlich fällt eine Einordnung des im Januar 2010 als Auftakt zum Kulturhauptstadtjahr eröffneten Museums schwer – im positiven Sinne: Das Ruhr Museum bietet nicht nur eine Melange aus Kultur-, Heimat-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, sondern stellt auch eine reizvolle Verbindung zur Naturgeschichte her, die in der Auseinandersetzung mit dem Ruhrgebiet durchaus naheliegt, aber deshalb längst nicht selbstverständlich ist. Wie sein Vorgänger, das Ruhrlandmuseum, in den 1980er-Jahren verlässt das Ruhr Museum die ausgetretenen Pfade der Museumsgestaltung. Wie dieses wuchert es mit seinen Pfunden – den umfangreichen, facettenreichen Sammlungen –, verabschiedet sich aber von der nach Sparten getrennten Präsentation. Die Verknüpfung der disziplinär geprägten Perspektiven wird zum roten Faden der neuen Dauerausstellungen.
In der ehemaligen Kohlenwäsche der einst größten und modernsten Zeche Europas, im Schatten des mächtigen Förderturms, der zum Wahrzeichen der Region geworden ist, empfängt die Nachfolgeinstitution des Ruhrlandmuseums ihre Besucher. Wie einst die Kohle, die in der Kohlenwäsche in verschiedenen Etappen von Ton, Mergel und Schiefer reingewaschen wurde, durchmessen die Besucher das Gebäude von oben nach unten. Die zu diesem Zweck von außen angebaute, 25 Meter lange Rolltreppe zum neu geschaffenen Eingang auf der obersten Ebene ist die wohl umstrittenste bauliche Veränderung der 1928 errichteten, unter Denkmalschutz stehenden Kohlenwäsche. Da eher gigantische Maschine als von Menschen zu nutzender Raum musste der Bau nach der Entscheidung, hier das Ruhr Museum unterzubringen, einer Reihe von Umbauten unterworfen werden, um geeignete Bedingungen für die Besucher und musealen Objekte zu schaffen. Der Stararchitekt Rem Koolhaas führte Regie bei der „Bauertüchtigung“, in Vielem sehr zum Missfallen der Denkmalschützer. 


Im Inneren verbindet eine mächtige, durch leuchtend orange Lichtbänder an glühenden Stahl erinnernde Treppe die verschiedenen Ebenen der rund 5.000 qm und 6.000 Objekte umfassenden Dauerausstellung.[1] Diese folgt keiner chronologischen, sondern einer thematischen Ordnung. Auf der „17-Meter-Ebene“ werden die Besucher zunächst mit der Gegenwart konfrontiert, mit dem also, was das Ruhrgebiet heute ist oder zu sein scheint. Den Einstieg in den Rundgang bilden Projektionen ikonenhafter Fremd- und Selbstbilder – rußgeschwärzte Gesichter, feuerspeiende Hochöfen und rauchende Schornsteine, heldenhafte Industriebarone, Fußballszenen und Männer am Büdchen. Diese „Mythen“ werden in der ersten eigentlichen Ausstellungseinheit aufgegriffen: Fotoserien dokumentieren – flankiert durch Medienstationen und serielle Objektzusammenstellungen – charakteristische „Phänomene“, die das Ruhrgebiet prägen – sei es die gesichtslose, gleichförmige Architektur der Städte, die durch den Bergbau geprägte, aber überraschend grüne Landschaft, die allerorten präsente Vereinskultur oder der Schrebergartenkitsch der Vororte. Humorvoll werden Brüche geschaffen und so die Heterogenität und Widersprüchlichkeit der Region herausgestellt: liturgische Geräte stehen Sportpokalen gegenüber, Videoinstallationen spielen mit den Klischees von Mantafahrern, Laubenpiepenbesitzern und Dönerbudenbetreibern. Reviergrößen wie der unvermeidliche Herbert Grönemeyer kommen zu Wort und die eigenwillige Sprache des Ruhrgebiets wird aufs Korn genommen. Teils finden sich überraschende, vielfach aber auch allzu erwartbare Themen und Exponate, so dass die Klischees eher liebevoll gepflegt als hinterfragt werden. Erst in der angrenzenden Ausstellungseinheit „Strukturen“ erfolgt eine Unterfütterung dieser Impressionen: Projektionen und Medienterminals liefern hier eine fast schon erschlagende Fülle an sorgfältig recherchierten Hintergrunddaten und -fakten.
Abgetrennt durch eine Glaswand, die wie ein überdimensioniertes Herbarium filigrane, gepresste Pflanzen aus der Region zeigt, folgt ein kontemplativ inszenierter Ausstellungsteil. Dezidiert selektiv und assoziativ werden unter der Überschrift „Zeitzeichen“ Erinnerungsstücke der heutigen Ruhrgebiets-Bewohner in gläsernen Stelen präsentiert; das einzelne Objekt und seine Geschichte stehen im Vordergrund. Es finden sich persönliche Andenken wie Teile eines Porzellanservices, das an langjährige Krupp-Beschäftigte verschenkt wurde, aber auch Kuriositäten wie Flaschen der chinesischen Biermarke „Hans“, benannt nach einem Ingenieur aus dem Ruhrgebiet, der nach dem Strukturwandel als Berater nach Fernost ging. Durchmischt wird dieses Musée sentimental mit Naturobjekten – versteinerten Schachtelhalmen, Baumstümpfen und Fossilien, die als Zeugen des „ewigen“ Naturgedächtnisses den subjektiven und kurzlebigen menschlichen Erinnerungen gegenübergestellt werden. Die Abteilung regt so zum Nachdenken über das Funktionieren menschlicher Erinnerung und des „kollektiven Gedächtnisses“ an.
Auch die folgende, dem „Gedächtnis“ gewidmete „11.80-Meter-Ebene“ legt derartige Reflektionen über die Speichermedien der Geschichte und das Museum als Sacharchiv nahe. In der Manier frühneuzeitlicher Wunderkammern zeigen Sammlungsräume ausgewählte Schätze aus den Antiken-, ethnologischen, geologischen und naturhistorischen Sammlungen des Museums, die auf den Beständen des Historischen Vereins der Stadt und des Stifts Essen fußen und damit auch die lange Geschichte des Ruhr Museums spiegeln. Die Sammlungspräsentation fügt sich in den ersten historisch-chronologisch gegliederten Ausstellungsteil ein, der die Geschichte der Region von der Bronze- und Römerzeit über die Siedlungen der Franken und Sachsen, die Christianisierung und Hansezeit bis zur Reformation und Aufklärung nachzeichnet. Ganz bewusst beschränkt sich das Museum so nicht mehr auf die Zeit ab der Industrialisierung, die das Ruhrgebiet als solches überhaupt erst erschuf, sondern spürt auch den weiter zurückreichenden, lokal teils sehr unterschiedlich ausgeprägten Entwicklungslinien und Traditionen nach, die durch die Industrialisierung verschüttet, modifiziert oder abgeschnitten wurden. Regelrechte Kleinodien wie der Grabstein des römischen Offiziers Marcus Caelius, Stücke aus dem Essener Domschatz und Urkunden hanseatischer Städtebündnisse finden sich unter den Exponaten.
Auch ästhetisch gesehen ist diese Ausstellungsebene die überzeugendste: Ägyptische und griechische Skulpturfragmente erstrahlen vor technischen Maschinenteilen, kultische Tiermasken und Bronzestatuetten kontrastieren mit den dunkel verwitterten Wänden und Jahrtausende alte Ammoniten ragen wie aufgespießte Insekten aus Kohletrichtern empor. Dieses von den Ausstellungsarchitekten des Stuttgarter Büros HG Merz kunstvoll inszenierte Zusammenspiel von Exponaten und Gebäude ist in den anderen Ebenen nicht in derselben Weise gelungen. Die Maschinen der Kohlenwäsche werden ebenso wie die Geschichte des Gebäudes bedauerlich wenig in die Ausstellung einbezogen – ihre Erläuterung wird ganz dem räumlich getrennten Denkmalpfad überlassen.
Gerade beim dritten und letzten Ausstellungsteil auf der „6-Meter-Ebene“, der abschließend die „eigentliche“ Geschichte des Reviers erzählt, fällt dies auf. Seine sehr kompakten und starr wirkenden Vitrinen- und Sockelbauten greifen zwar die Formen und Strukturen der Förderbänder und anderer Maschinenteile auf, lassen diese selbst aber vielfach regelrecht verschwinden und wirken im Vergleich zu den vorherigen Sammlungsräumen recht konventionell. Die Industriegeschichte wird hier zum „Drama“: Umrahmt von einem Prolog zu den naturräumlichen und geologischen Voraussetzungen und einem bilanzierenden Epilog handeln fünf „Akte“ von den ersten industriellen Anfängen im frühen 19. Jahrhundert, vom eigentlichen take off um die Jahrhundertmitte mit seinen technischen und unternehmerischen Innovationen, von der Hochindustrialisierung und ihrer fortschreitenden Rationalisierung und Kartellbildung, den folgenden Wechseln von Krisen- und Aufschwungszeiten sowie vom langsamen Niedergang der alten Industrien und allmählichen Strukturwandel. Äußerst dicht ist die Erzählung, kaum ein Thema wird ausgespart. Aber gerade durch ihre Fülle und Bemühtheit um Vollständigkeit bleibt sie seltsam unpersönlich, zumal die sehr vom Ende her gedachte Konzeption als „Schauspiel“ etwas gekünstelt wirkt. Originell ist aber erneut die Integration von geologischen und naturkundlichen Sammlungsstücken. Geschickt wird die Natur- mit der Industriegeschichte verwoben – etwa durch die Thematisierung der Bodenschätze, die die Basis der rasanten Industrialisierung bildeten, aber auch durch die Darstellung der Kleingartenkultur und der Umweltzerstörung. Hier wird der Bogen zur gegenwartsbezogenen Eingangsebene besonders deutlich: Was dort als Phänomen beschrieben, aber nicht tiefer ergründet wird, erhält auf dieser letzten Ausstellungsebene seine historische Erklärung – mal mehr, mal weniger direkt und offensichtlich. Ein ambitioniertes, gut durchdachtes, aber in Teilen möglicherweise auch zu komplexes Konzept.
Die drei Ausstellungsebenen haben jeweils eine ganz eigene Formensprache, Ästhetik und Atmosphäre, die mit den Inhalten korrespondieren – von der bunten Vielfalt gegenwärtiger Eindrücke über die fast sakralen Räume des kollektiven und des kulturellen Gedächtnisses bis zur Meistererzählung der Industrialisierung. In Vielem knüpft das Ruhr Museum an das Ruhrlandmuseum an: Wie dieses setzt es Medientechnik wohltuend zurückhaltend ein. Zwar finden sich hochmoderne Touchscreens mit allerlei Applikationen, Filmpräsentationen, Geruchsstationen und Klangduschen, aber die in vielen neueren Museen übliche audiovisuelle Dauerberieselung unterbleibt.[2] Setzte bereits das Ruhrlandmuseum Inszenierungen nicht als Anmutungen des Authentischen ein, sondern als höchst artifizielle „Objektbilder“, die die Objekte als Zeichen verstanden und ihre Materialität betonten, führt das Ruhr Museum diesen Ansatz konsequent fort und inszeniert ganze „Raumbilder“. Dem Auratischen wird jedoch – insbesondere in den Ausstellungsteilen, die sich dem kollektiven Gedächtnis und den Sammlungen widmen – deutlich mehr Raum gewährt. Ergänzende Ausstellungstexte – auf die das Ruhrlandmuseum in seinen ersten Jahren ganz verzichtete – erhalten einen größeren Stellenwert. Das Historische muss nun erläutert werden – nicht nur, weil das neue Museum einen viel weiteren Bogen schlägt und die Konzentration auf die Zeit seit der Industrialisierung aufgibt. Viele der lange Zeit selbstverständlichen Strukturen, Abläufe und Techniken sind inzwischen erklärungsbedürftig. Das Historische aber soll seinerseits die Gegenwart erklären, so der Anspruch des Museums, den es insbesondere durch die vielen gebotenen Perspektiven auch tatsächlich einlöst. Gerade im Vergleich mit seinem Vorgänger wird das Ruhr Museum so selbst zum Anschauungsobjekt der von ihm erzählten Geschichte und trägt damit dem eigenen Anspruch Rechnung, über seine Funktion als „Gedächtnis" der Region hinaus den noch andauernden Prozess der „Neufindung“ der Region zu beeinflussen.
Anmerkungen: 
[1] Der Katalog zur Dauerausstellung stellt nicht nur einzelne Ausstellungsebenen mit ausgewählten Objekten vor, sondern informiert auch ausführlich über die Geschichte des Ruhr Museums, die Kohlenwäsche und ihre Sanierung sowie das Gestaltungs- und Medienkonzept der Ausstellung. 
[2] Auch sogenannte Hands-on-Stationen sucht man vergebens, für Kinder wurde stattdessen eine Ralley samt Quiztasche mit (Original-)Exponaten zum Anfassen entwickelt.

Vera Hierholzer: Ausstellungs-Rezension zu: Ruhr Museum 10.01.2010, Ruhr Museum Essen, in: H-Soz-u-Kult, 15.01.2011, .
Copyright (c) 2011 by H-Net, Clio-online, and the author, all rights reserved.





Vera Hierholzer studierte in Münster Geschichte und öffentliches Recht. Nach ihrer Promotion am Frankfurter Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte absolvierte sie ein wissenschaftliches Volontariat am Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim. Im Anschluss war sie freie Kuratorin am Museum für Kommunikation in Frankfurt. Seit 2008 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar der Goethe-Universität Frankfurt. Im Rahmen eines Drittmittelprojektes kuratiert sie derzeit eine Ausstellung am Frankfurter Goethe-Haus zum Thema "Goethe und das Geld. Der Dichter als Ökonom".

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen