Freitag, 16. Mai 2014

o.T. (Kontaktaufnahme)

Ein Museum: Das Erawanmuseum in Thailand













Museumsszene (Besucherorientierte Museumsarbeit)

Yoga im San Diego Museum of Art

Das Caixa Forum Madrid



Die spanische Caixa, "Kassa" ist eine Großbank, die die größte Kulturstiftung der Welt unterhält und in ganz Spanien verschiedene Einrichtungen errichtet hat und betreibt. 2008 wurde das CaixaForum in Madrid eröffnet, auf dem Gelände und unter Verwendung von Gebäudeteilen eines ehemaligen Elektrizitätswerk, dem Central Eléctrica del Mediodía. Das Forum liegt in unmittelbarer Nähe der Museen Prado und Reina Sofia. Das von den Architekten Herzog & de Meuron geplante Gebäude ist ein Forum für Musik und bildenden Kunst, Ausstellungen, sozialen Programmen, der Bildung und der Geisteswissenschaften. Es steht damit weit mehr in der Tradition der Kulturhäuser, aus der etwa (in der französischen Tradition) das Centre Pompidou in Paris entwickelt wurde, als in der des Museums, als welches das CaixaForum gelegentlich bezeichnet wird.
Das Forum ist ein Beispiel dafür, wie sehr Architekturfotografie ein Gebäude weitab seiner tatsächlichen Dimension und Situierung verändern, um nicht zu sagen, verfälschen kann. Ich hatte ein großzügiges Gebäude erwartet, mit einem ebenso großzügigen eleganten Foyer, das sich monumental in seiner städtischen Umgebung positioniert. Tatsächlich ist das Gebäude maßstäblich im Vergleich zu umgebenden Wohnbauten durchaus angepasst. Auch der offenbar meist mit Weitwinkel fotografierte Vorplatz ist ein bescheidener, zur Hauptstraße hin geöffneter Vorraum, von dem aus man das Gebäude betritt. Dessen Besonderheit ist, daß es wie abgeschnitten weit auskragt und den Platz gewissermassen teilweise überkragt. Dabei ist die Höhe so knapp bemessen, daß man das Gefühl hat, man kann grade noch unten durchgehen. Mit einer ziemlich verschachtelten Zugangssituation, unglücklicher Platzmöblierung und der relativen Dunkelheit dieser Zone, kam mir dieser Teil des Gebäudes ziemlich verunglückt vor, abweisend, alles andere als zum Verweilen und Aufenthalt einladend. Ausgerechnet dort steht man Schlange, wenn man zu einer vielbesuchten Ausstellung will.
Ohne eine singuläre expressive Geste kann offenbar heute kein Museums-, oder wie in diesem Fall, Ausstellungsbau mehr bestehen. Das eine "Überraschungselement" ist das statisch gewollt widersinnig wirkende vom Grund wie abgeschnittene Gebäude, das andere eine Überdachung aus perforierten, rostbraunem Material, dessen Ornamentalität und Lichteffekte sich allerdings im Inneren, wenn man das eher konventionell möblierte Café besucht, als nicht besonders spektakulär entpuppt.
Im Vergleich zu Fotos entpuppte sich der Veranstaltungssaal und das zugehörige Foyer als besonders merkwürdig. Was auf Fotos unglaublich elegant und weit wirkt, verliert durch seine in Wirklichkeit geringere Dimension, vor allem aber sind wir hier in einem nur durch Kunstlicht erhellten Untergeschoß, dessen braune, "erdige" Täfelung eher stickig und höhlenartig auf mich gewirkt hat, als elegant.
Das Innere ist ein Pasticcio von Stilen und Materialen. Man betritt den Ausstellungsteil über eine Metalltreppe, das Geschoß mit Empfang und Kassen hat einen Metallboden, in dem sich die frei und gebogen durch den Raum schwingenden Leuchtstoffröhren spiegeln. Die sechs Geschosse sind durch ein gesondertes Treppenhaus in kühler Farbigkeit und jugendstilhafter Geschwungenheit erschlossen. Die eigentlichen Ausstellungsräume unterscheiden sich als pragmatische Zeigeräume in nichts von konventionellen White Cubes.
Den spektakulärsten und - auch von den Besuchern - meistfotografierten Teil des Forums findet man seitlich vor dem Gebäude.  Die Feuermauer des Nachbarhauses wurde mit mit rund 15.000 Pflanzen und 250 Pflanzenarten bepflanzt (Patrick Blanc), ein von Wasser durchrieselter vertikaler Garten.





Fotos G.F. 2014

Dienstag, 13. Mai 2014

Entrée 116


Entrée 115


Das global-neoliberale Megaprojekt: Der Louvre Abu Dhabi


In der Neuen Zürcher Zeitung vom 7. Mai 2014 berichtet Marc Zitzmann über den Louvre Abu Dhabi. Anlass ist eine Ausstellung im Louvre, in der jene 160 Werke gezeigt werden, die als (zeitlich begrenzte) Leihgaben dem arabischen Museum, das im Dezember des kommenden Jahres eröffnet werden soll, zur Verfügung gestellt werden. Der Louvre unterstützt die Entstehung des Museums aber auch mit Beratung beim Sammlungsaufbau. Und schließlich wurde die Marke "Louvre" bis 2037 gegen viel Geld an das Museum in Abu Dhabi verliehen. Marc Zitzmann: "Im Gegenzug bezahlt das Emirat 164 Millionen Euro für die «Aufbauhilfe» bis 2026, 190 Millionen Euro für die Dauer- und 195 Millionen Euro für die Wechselausstellungen sowie 400 Millionen Euro für die Nutzung des Namens «Louvre»."
Weiters wurden der Louvre und neun andere staatliche Kulturinstitutionen wie das Musée d'Orsay, das Centre Pompidou und die Nationalbibliothek, das Museum in Versailles dazu verpflichtet, "über zehn Jahre hinweg jährlich 300, dann 250 und endlich 200 Werke (darunter ein Drittel aus dem Louvre) für eine völlig unübliche Leihdauer von zwölf Monaten nach Abu Dhabi zu schicken, um die noch im Aufbau befindliche Sammlung aufzustocken. Bei diesen Leihgaben wird es sich um Spitzenwerke handeln, die fast alle aus den Museumssälen des Louvre oder des Musée d'Orsay geholt werden müssen – etwa Leonardo da Vincis Belle Ferronnière oder Manets Fifre" (...) "Zusätzlich müssen die Franzosen jährlich vier ebenfalls mit eigenen Sammlungsstücken bestückte Wechselausstellungen ausrichten, über fünfzehn Jahre hinweg". (Zitzmann) Die Kuratoren des Louvre waren gegen diese Kooperation. Im Zentrum der Bedenken stand beim Bekanntwerden der Pläne auch das konservatorische Risiko, das von der "Reisetätigkeit" hochkarätiger Museumsobjekte nun mal ausgeht.
Unter Nutzung des klangvollen Namens des berühmtesten und größten Museums der Welt scheint der Ehrgeiz des Emirates auf ein Universalmuseum zu zielen, aber möglicherweise und auf lange Zeit doch nur in einem konturlosen Sammelsurium zu münden. Denn selbst ein so reiches Land wie die Vereinigten Arabischen Emirate hat heute keine Möglichkeit mehr, eine große und - nach welchen Kriterien auch immer - konsistente Sammlung zusammenkaufen zu können. Vorerst gibt es ein Mobile von Calder, ein ottomanischer Fußboden, Fotografien von Roger Fenton,ein altpersisches Goldarmband, Möbel von Josef Hoffmann, Mogul-Malerei, ein Koran aus dem 14.Jahrhundert, ein Mondrian-Gemälde von 1922 usw. Der Ankaufsetat ist hoch, aber Preise für museumsreife Spitzenwerke sind das auch.


Man fragt sich sowieso, warum ein arabisches Museum im sammlungspolitischen und kunstideologischen Korsett des westlichen Wertekanons entstehen soll und mit dem Anspruch der Universalität gerade deswegen zum Scheitern verurteilt ist. Eine "Abbildung" dieses Kanons leistet weltweit kein Museum und selbst annähernd repräsentativ zu sammeln ist heute nicht mehr möglich.
Mit dem Museum soll der Völkerverbindung und dem Kampf gegen Intoleranz gedient sein. Jedenfalls bewirbt der Bauherr das Museum so - ein Museumskonzept und -team gibt es noch nicht. Marc Zitzmann fragt sich zurecht, ob nicht viel dringender etwas zur "Verbesserung der Rechtslage von Arbeitsmigranten", getan werden sollte, "deren Ausbeutung NGO wie Human Rights Watch regelmässig anprangern (auch auf der Baustelle des Louvre Abu Dhabi!)". Über die verheerende Situation der Arbeitsmigranten dort und in anderen arabischen Ölstaaten weiß man schon sehr lange Bescheid, einer breiteren Öffentlichkeit wurde das erst bewusst, als man die vorbereitenden Bauarbeiten für die Fußball-WM in Katar kritisierte. Jüngst gab es mehrere Proteste im New Yorker Guggenheim-Museum (ein Guggenheimmuseum und andere Museen werden dem "Universalmuseum" benachbart auf der Saadiyat-Insel in Abu Dhabi errichtet), vergleichbare Proteste scheint es in Frankreich nicht zu geben.  
Möglicherweise hat zum Deal zwischen Frankreich und dem Emirat auch gehört, daß ein französischer Architekt das Museum plant. Jean Nouvel lässt eine schalenförmige und perforierte Überkuppelung von 180 Metern Durchmesser über einer Art dörflicher, von Meer umgebener Struktur schweben, über einem Pasticcio aus Kubaturen, Wegen, Wasseradern, Plätzen. Man wird sehen, wie das Gebäude, einmal realisiert, wirkt. Die Entwurfszeichnungen versprechen viel und Ungewöhnliches, ein Museum, wie es noch keines gegeben hat. Es ist vor allem das flirrende Lichtspiel, das mit der durchlöcherten Kuppel erzeugt wird, das besticht. Nicht ausgeschlossen, daß sich ein französischer Architekt von einem Museumsentwurf und Architekten inspirieren ließ, wo er beides finden konnte - die megalomane Kuppel über einer nahezu urbanen Struktur und das perforierte Gewölbe, das ein einzigartiges Lichtspiel in Szene setzt. Ich meine Etienne Louis Boullées Entwurf für ein Museum von 1783 und seinen Newton-Kenotaph, in dessen dunklen Höhlenleib das Tageslicht den Sternenhimmel zeichnet. Wo aber Boulées (zu seiner Zeit technisch nicht realisierbaren) Phantasien düster und erdnah wirken, ist Nouvelles Entwurf ganz hell, trotz der Größe leicht, fast schwebend.


 Soll man also sagen, der Museumsentwurf, die Architektur sei "gelungen"? Dann müsste man alle die Aspekte ausblenden, die Marc Zitzmann aufzählt und die er abschließend ohne wenn und aber als skandalös bezeichnet. Ausblenden müsste man zum Beispiel auch die Platzierung des feenhaft anmutenden Gebäudekomplexes auf der sogenannten Saadiyat-Insel, der "geplanten luxuriösen Wohn- und Tourismusstadt für Spitzenverdiener" (Zitzmann). Vor allem aber eine historisch-ideologische Frage: wie kommt es, daß ausgerechnet der Louvre in eine politisch autokratisches Land (konstitutionelle Monarchie ist die offiziöse, ziemlich schiefe Bezeichnung) geht, der Louvre, der ja nicht nur für eine glanzvolle und enorme Sammlung steht, sondern auch für Aufklärung und bürgerliche Revolution.
Als Francois Mitterand die Erweiterung zum "Grand Louvre" mit großem Publikum feierte, da fand das am 200. Jahrestag der Französischen Revolution statt, eingedenk des Louvre als eines Ortes nationaler Identifizierung und staatsbürgerlicher Selbstermächtigung. Darin gründete auch das Konzept des Museums, die gesamte (westliche) Kunst repräsentieren zu dürfen, nämlich als befreite und aufgeklärte Nation, die so lange das Recht habe, sich Kulturgüter anderer Länder anzueignen, so lange diese nicht ebenfalls im Stand der Freiheit existierten. Aus dieser Maxime entsprang auch die doppelte Museumspolitik der Revolutionszeit. Einerseits plünderte man systematisch Sammlungen der politisch-militärisch eroberten Länder, andrerseits sorgte man mit, u.a. aus dem Louvre gespeisten Sammlungen und Leihgaben für zahlreiche Museumsgründungen in den - aus französischer Sicht - befreiten Staaten und Städten und sorgte so für eine Expansion der jungen und modernen Museumsidee in Europa. Nur unter diesen Umständen konnte er werden, was er ist: ein viele Kulturen und Epochen beherbergendes Museum, ein Weltmuseum, das zugleich ein Nationalmuseum Frankreichs ist
So besehen, mag man die Expansion des Louvre - auch in Frankreich selbst -, als Revision des ursprünglichen Konzepts auffassen. Was aber in Lens eine Aufweichung des typisch französischen Zentralismus ist, wird mit der Kooperation mit Abu Dhabi zu einem Rückschritt hinter jene Ideale, aus denen heraus das Museum in den 90er-Jahren des 18.Jahrhunderts entstand. Man geht in ein autoritär, fern der uns vertrauten demokratischen Grundwerte regiertes Land und bedient dessen politisch-ökonomische Elite im Tausch gegen Geld, ohne jeden Anspruch, mit den Bildern aus Frankreich auch irgendetwas von den inhärenten Idealen mit zu transportieren.
Der "Louvre-Export" Abu Dhabi konterkariert nicht nur die Geschichte des Louvre, er beschädigt seine historisch gewachsene Identität an der Wurzel. Das ist ein sehr hoher Preis für ein Sammlesurium-Museum für Neureiche in einem exklusiven Habitat. Und es ist summa summarum das wohl derzeit kaum noch unüberbietbare global-neoliberale Projekt der Museumswelt. 






Sonntag, 11. Mai 2014

Orhan Pamuks Text über das Museum der Unschuld. Ein poetologischer und museologischer Text zu einem einzigartigen Projekt (Das Museum lesen 36)


Im Jahr 2008 erschien in Istanbul der Roman Masumiyet Müzesi, das Museum der Unschuld, von Orhan Pamuk, der 2006 den Nobelpreis erhalten hatte. Eigentlich sollte gleichzeitig mit dem Roman ein gleichnamiges von Pamuk geplantes und parallel zum Buch entwickeltes Museum eröffnen, doch aus praktischen und politischen Gründen - Pamuk wurde zeitweilig verhaftet und von radikalen Gruppen mit dem Tod bedroht -, verzögerte sich die Realisierung erheblich. 2012 war es dann so weit.

Aber was ist das für ein Museum? Mein Reiseführer "Istanbul" stellt es kurz und bündig als Alltagsmuseum vor. Sicher, es gibt hier vieles, was man so landläufig als Alltagsgegenstände bezeichnet und gelegentlich wird einem auch als Tourist, der Istanbul erst grade kennenlernt, einiges von den Bezügen zur Stadt deutlich.
Aber was sollen das für Straßen sein, "die mich an sie erinnern"? Wer spricht da, und vom wem? "Phantome, die ich für Füsun halte". "Die Sommerabschlußparty". "Eine leere Wohnung". "Die erste türkische Fruchtlimonade".
Hat sich da das sogenannte wirkliche Leben eingeschlichen? Aus dem Roman? Aus Pamuks Leben und aus Istanbul? "Wie man ein Drehbuch durch die Zensur bringt" oder "Onkel Tarik". Kann uns das interessieren, können wir das verstehen?
Oder muß man dazu den Roman gelesen haben?

Ich bezweifle, daß das viel hilft (Pamuk verneint die Frage, ob man das Buch als Voraussetzung eines Museumsbesuchs kennen müsse), selbst wenn man das erst gerade getan und ein sehr gutes Gedächtnis hat. Selbst die strikte Durchnummerierung der Vitrinen im Museum nach den Kapiteln wird nicht viel helfen.
Illustriert das Museum das Buch, oder erzählt der Roman jene Geschichte, die hier ausgestellt ist?
So viel sei verraten: Pamuk hat Roman und Museum von Anfang an als ein Projekt verstanden und es folgte das Zusammentragen einer Sammlung keineswegs dem Buch, sondern eher umgekehrt, wenn sich ein ungewöhnlicher, überraschender Fund einstellte, wurde er als Requisite in die Erzählung des Romans integriert.

In der Vitrine mit der Zahl 1 sehen wir, vor einem sich bauschenden Vorhang, "Füsuns Ohrring". Auch von ihm weiß der Autor, der des Romans wie der des Museums, von Kemal, dessen Geliebte Füsun war. Im Dachgeschoß des Museums finden wir das Bett, auf dem liegend, Kemal Pamuk, der auf einem Stuhl neben ihm saß, seine Lebensgeschichte erzählt hat. Dort muß er ihm auch berichtet haben, unter welchen Umständen der Ohrring verloren ging, und warum er sagen konnte, es sei "der glücklichste Augenblick meines Lebens" gewesen.
Noch im Roman, in dessen letzten Kapiteln, hat Kemal nach dem Tod Füsuns, Orhan Pamuk beauftragt, seine Geschichte zu erzählen und die seiner großen Liebe. Er wünschte sich von Pamuk einen Text, der gleichsam jenes Museum, das er, Kemal, einzurichten plante, begleitenden sollte oder gar einen Katalog, wie es im Roman wörtlich heißt (sogar eine Eintrittskarte ist dort schon abgedruckt).
Gibt der Roman also eine wirkliche Geschichte wieder, und ist dann das Museum so etwas wie eine - fiktive oder konkretisierende - Erweiterung, Umspielung, ein Ort der Beweise für die Wirklichkeitshaltigkeit des Buches? Eine Asservatenkammer der Indizien, die die Geschehnisse des Romans beglaubigen?
Nur was sollen wir denn mit dieser individuellen, privaten und intimen Erinnerung? Nimmt uns nicht gerade das jeglichen Zugang zur Geschichte, wenn wir das Museum besuchen? Erst wenn wir im Museum etwas begegnen, das uns – auf Grund geteilter Erfahrung, geteilten Wissens -, das Verstehen ermöglicht, können wir Gegenstände mit Bedeutung belehnen.
Nun, Pamuk spielt mit beidem, mit der Spiegelung von Buch (dem wir als Roman die Fiktion zuordnen würden) und Museum (dem wir Kraft der Konkretheit der Dinge, ihrer physischen Präsenz in unserer Gegenwart, die Wirklichkeit, die Welt der Tatsachen zuordnen würden) und mit der Spiegelung von Fiktion und Realität.
Er spricht von "ausgestellten Rätseln" und "optischen Täuschungen" und von einem "Traum, aus dem man sich nicht befreien kann".

"Der glücklichste Augenblick meines Lebens". Wer vermöchte ihn  festzuhalten - außer in der fragilen, oft entstellenden Erinnerung, die keiner gegenständlichen Stütze bedarf, also im liebenden Eingedenken, in dem eine Berührung der nackten Körper durch den am offenen Fenster wehenden Vorhang oder das Geschrei der fußballspielenden Kinder in Erinnerung bleibt. Aber nicht als Text und nicht als Ding oder Bild. Sondern ausschließlich als lebendiges Erinnern, das mit dem Tod erlischt.
Dieser Traum, aus dem man sich nicht befreien kann, soll aber dennoch nicht zu Ende gehen, aber es ist auch der, aus dem sich nicht nur der Autor, der Held, sondern vielleicht auch der Besucher nicht befreien kann und nicht befreien soll.
"Wenn ein Mensch im Traum" zitiert Pamuk zu Beginn des Romans (und im Museum taucht der Text auch auf) Samuel Taylor Coleridge, "das Paradies durchwandert, und man gäbe ihm eine Blume als Beweis, dass er dort war, und er fände beim Aufwachen diese Blume in seiner Hand - was dann?"
Das ist die dritte Ebene in Pamuks Spiegelkabinett. Wie er mit der Un-Möglichkeit des Erinnernd spielt. Ist er selbst Kemal? Gab es Kemal überhaupt je? Ist nicht alles erfunden? Und woran sollen wir uns eigentlich erinnern? Wer ist hier das Subjekt der Erzählung und wer des Gedächtnisses? Woran können uns Dinge erinnern? An jene Wirklichkeit, in der sie einmal existiert haben oder ohnehin nur an jene Träume, die sie in uns auslösen?
Aber da ist ja Füsuns Ohrring, in der Vitrine, wir sehen ihn mit eigenen Augen, den Ohrring, von dem Füsun im Roman sagt, "er sei ihr wichtig", als Kemal ihn später nicht in seiner Jackentasche findet. Dort hat er ihn verstaut, nachdem er ihn gefunden hat. Aber inzwischen hat er die Jacke gewechselt und kann ihn Füsun nicht zurückgeben.

Während der Planung und der Realisierung des Museums ist Pamuk von Kindern angesprochen worden, ob er ihnen nicht die über den Zaun geschossenen Bälle zurückgeben könne. Konnte er nicht, schreibt Pamuk, weil der Freiraum um das Haus derart vermüllt war, daß man erst bei Baubeginn mit dem Entrümpeln beginnen konnte. Dann fand man siebzehn Bälle.
Ist einer der Bälle derjenige, mit dem die Kinder in der Gasse spielten, als sich Füsun und Kemal in ihrem Zimmer bei offenem Fenster liebten?
Jedenfalls gibt es einen Ball in einer Vitrine des Museums. Und Füsuns Führerschein. Und selbstverständlich die  4213 Stummel, die von Füssens gerauchten Zigaretten übrigblieben. Aber das ist eine andere Geschichte. Die erzähle ich ein anderes mal.
Und im Kleingedruckten, am Ende des Buches, dort, wohin man als Leser vielleicht nie hingelangt, unter Danksagung, erfährt man auch, wer Füsuns Ohrring fürs Museum hergestellt hat...

Um Pamuk besser zu verstehen, seine - soweit ich sehe einzigartige - Idee, einen Roman und ein Museum als komplementäre Teile eines Projektes zu entwickeln, kann man auf ein anderes Buch von ihm zurückreifen (das auch auf Deutsch vorliegt): "Die Unschuld der Dinge. Das Museum der Unschuld in Istanbul". (München 2012). Es gibt einen einleitenden Teil mit ausführlichen Texten Pamuks zum Roman und vor allem zum Museum und einen Teil, in dem in 74 Abschnitten - reich bebildert - die Stationen und Vitrinen des Museums vorgestellt werden. Und das wiederum so, daß die Texte eher Erweiterungen denn Erklärungen sind. Sein poetologischer Zugang ist subtil, leicht, wunderbar zu lesen. Etwa wie die Geschichte der Entdeckung des Hauses, das er als Museum wählte, am Schulweg, den er täglich mit seiner Tochter zurücklegte. So nebenbei kann von Pamuk lernen, wie man ein Museum vorstellt.
Pamuk hat aber auch eine veritable Museologie zur Hand, die er seit dem Roman sichtlich weiterentwickelt hat und die einem zusätzlich hilft, seine Ideen und sein Konzept des Doppelprojektes besser zu verstehen. Dieser Museologie (die einer gesonderten Auseinandersetzung lohnte) liegt das begeisterte Stöbern und Sammeln zugrunde, aber Pamuk ist auch ein begeisterter Museumsbesucher (übrigens wie Kemal, von dem im Roman gesagt wird, daß er nach Füsuns Tod über 4000 Museen bereist habe). Ein Besucher vor allem kleiner Museen und da wiederum solcher Museen, die möglichst die Spuren der Personen, die dort gelebt haben, noch bewahrt haben. Das war ein nicht geringes Vergnügen, zu erfahren, wie sehr Pamuks Museumsvorlieben sich mit meinen decken. Mit wenigen Ausnahmen kannte ich die Orte, die er ausdrücklich als Inspiration für Roman und sein Museum nennt.
Mit diesem „Begleit“-Buch in der Hand, wird man sich dem Spiel der Verweise und dem changieren der Ebenen des Museums viel besser aussetzen können, wird tiefer in die eigentümlich zweideutige Welt des Romans, des Museums und Orhan Pamuks eintauchen können.