"In Mexiko
besucht Herr Palomar die Ruinen von Tula, der alten Toltekenhauptstadt. Ein
mexikanischer Freund begleitet ihn, ein begeisterter und beredter Kenner der präkolumbianischen
Kulturen, der ihm wunderschöne Legenden von Quetzalcoatl erzählt. Bevor er ein
Gott wurde, war Quetzalcoatl ein König, und hier in Tula stand sein Palast;
erhalten geblieben ist davon eine Anzahl stumpf abgebrochener Säulen, die sich
rings um ein Impluvium verteilen, ein bißchen wie in einer altrömischen Villa.
Der Tempel
des Morgensterns ist eine abgeflachte Stufenpyramide, auf deren breiter
Plattform sich vier hohe zylindrische Säulenfiguren erheben, sogenannte
»Atlanten«, die den Gott Quetzalcoatl als Morgenstern darstellen (indem sie
einen Schmetterling, das Symbol des Sterns, auf dem Rücken tragen), außerdem
vier Reliefpfeiler, die den Gefiederten Schlangengott darstellen, also wieder
denselben Gott, diesmal in Tiergestalt.
All das kann
man einfach nur glauben. Andererseits wäre es schwierig, das Gegenteil zu
beweisen. In der altmexikanischen Archäologie stellt jede Figur, jeder
Gegenstand, jedes Detail eines Flachreliefs etwas dar, alles bedeutet etwas,
das etwas bedeutet, das seinerseits etwas bedeutet. Ein Tier bedeutet einen
Gott, der einen Stern bedeutet, der ein Element bedeutet oder eine menschliche
Eigenschaft, und so weiter. Wir befinden uns in der Welt der Bilderschrift.
Wenn die Tolteken schreiben wollten, zeichneten sie Figuren, aber auch wenn
sie einfach nur zeichneten, war es, als ob sie schrieben: Jede Figur erscheint
wie ein Bilderrätsel, ein zu entziffernder Rebus. Selbst noch die
abstraktesten, rein geometrischen Friese auf einer Tempelwand können als
Sonnenstrahlen gedeutet werden, wenn man darin ein Motiv mit unterbrochenen
Linien sieht, oder man kann eine Zahlenabfolge in ihnen lesen, je nachdem, wie
sich die Mäander verschlingen. Hier in Tula wiederholen die Flachreliefs
stilisierte Tiere: Jaguare, Coyoten. Der mexikanische Freund erklärt Herrn
Palomar jeden Stein, übersetzt ihn in kosmische Mythenerzählungen, Allegorien,
moralische Reflexionen.
In den
Ruinen zieht eine Schülergruppe umher: schmächtige Buben mit indianischen
Zügen, vielleicht Nachkommen der Erbauer dieser Tempel, gekleidet in eine
schlichte weiße Uniform mit blauen Halstüchern, wie sie die Pfadfinder tragen.
Ein junger Lehrer führt sie umher, nicht viel größer als die Buben und kaum
viel älter, mit dem gleichen runden und ruhigen braunen Gesicht. Sie steigen
die hohen Stufen zur Plattform der Pyramide hinauf und scharen sich um die
Säulen, der Lehrer erklärt, zu welcher Kultur die Säulen gehören, aus welchem
Jahrhundert sie stammen, aus welchem Stein sie gehauen sind, dann schließt er:
»Man weiß nicht, was sie bedeuten«, und die Schülerschar folgt ihm wieder
hinunter. Zu jeder Statue, zu jeder Figur in einem Flachrelief oder auf einer
Säule macht der Lehrer ein paar knappe sachliche Angaben, und jedesmal fügt er
dann unweigerlich hinzu: »Man weiß nicht, was es bedeuten soll.«
Hier zum
Beispiel ist ein sogenannter Chac-mool, ein Statuentypus, dem man recht häufig
begegnet: eine halb liegende Menschenfigur, die eine flache Schale trägt. Auf
diesen Schalen, sagen übereinstimmend die Experten, wurden die blutigen Herzen
der bei den Menschenopfern Getöteten präsentiert. An und für sich könnte man
in diesen Figuren auch gutmütige, komisch-groteske Fratzen sehen, aber
jedesmal, wenn Herr Palomar eine sieht, läuft ihm unwillkürlich ein Schauder
über den Rücken.
Die
Schülerschar kommt vorbei. Der junge Lehrer erklärt: »Esto es un chac-mool. No
se sabe lo que quiere decir«, und geht weiter.
Immer
wieder begegnet Herr Palomar, obwohl er den Erläuterungen seines Freundes
folgt, am Ende der Schülergruppe und hört auf die Worte des Lehrers. Er ist
fasziniert von der Fülle an mythologischen Querverweisen, mit denen sein
kundiger Freund zu hantieren weiß, das Spiel des Interpretierens, die
allegorische Deutung sind ihm stets als eine souveräne Übung des Geistes erschienen.
Doch er fühlt sich auch von der entgegengesetzten Haltung des Schullehrers
angezogen. Was ihm zunächst als ein schroffer Ausdruck von Desinteresse
erschienen war, enthüllt sich ihm langsam als ein wohlüberlegter pädagogischer
Plan, eine bewusst gewählte Methode dieses ernsten und gewissenhaften jungen
Erziehers, eine Regel, von der er nicht abgehen will: Ein Stein, eine Figur,
ein Zeichen, ein Wort, die uns isoliert von ihrem Kontext erreichen, sind
nichts als eben nur dieser Stein, diese Figur, dieses Zeichen oder Wort; wir
können versuchen, sie als solche zu definieren und zu beschreiben, aber mehr
nicht; wenn sie hinter dem Antlitz, das sie uns zeigen, noch ein verborgenes
Antlitz haben, muss es uns verborgen bleiben. Die Weigerung, mehr zu begreifen
als das, was diese Steine uns zeigen, ist vielleicht die einzig mögliche Art
und Weise, ihr Geheimnis zu achten. Es erraten zu wollen, ist Anmaßung, Verrat
an ihrer verloren gegangenen wahren Bedeutung.
Hinter der
Pyramide gelangt man in einen Gang oder Korridor zwischen zwei Mauern, eine aus
gestampftem Lehm, die andere aus behauenem Stein: die Mauer der Schlangen. Sie
ist vielleicht das schönste Stück in Tula: ein Fries als Flachrelief, bestehend
aus lauter Schlangen, von denen jede einen menschlichen Schädel im Maul hält,
als wollte sie ihn gerade verschlingen.
Die Schüler
kommen vorbei. Der Lehrer erklärt: »Dies ist die Mauer der Schlangen. Jede
Schlange hält einen Schädel im Maul. Man weiß nicht, was sie bedeuten.«
Herrn
Palomars Freund kann nicht länger an sich halten: »Aber ja doch, das weiß man
sehr wohl! Es ist die Kontinuität von Leben und Tod, die Schlangen bedeuten
das Leben und die Schädel den Tod: das Leben, das Leben ist, weil es den Tod in
sich trägt, und den Tod, der Tod ist, weil es ohne Tod kein Leben gibt ...«
Die Schüler
stehen baff mit offenem Mund, die schwarzen Augen weit aufgerissen. Herr
Palomar denkt: Jede Übersetzung verlangt nach einer weiteren Übersetzung
und so
fort. Er fragt sich: Was bedeuteten Tod und Leben, Kontinuität und Übergang für
die alten Tolteken? Und was können sie für diese Kinder bedeuten? Und für mich?
— Doch er weiß: Nie könnte er das Bedürfnis in sich ersticken, zu übersetzen,
überzugehen aus einer Sprache in eine andere, .von konkreten Figuren zu
abstrakten Worten, von abstrakten Symbolen zu konkreten Erfahrungen, wieder und
wieder ein Netz von Analogien zu knüpfen. Nicht zu interpretieren ist
unmöglich, genauso unmöglich wie sich am Denken zu hindern.
Kaum sind
die Schüler um eine Biegung verschwunden, hebt die beharrliche Stimme des
kleinen Lehrers wieder an: »No es verdad, es ist nicht wahr, was dieser Senor
euch gesagt hat. Man weiß nicht, was sie bedeuten.«"
Aus: Italo Calvino: Herr
Palomar. München, Wien: Carl Hanser Verlag 1985