Montag, 8. April 2019

Pflichtbesuche in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen?


Bertrand Perz (Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien)
Pflichtbesuche in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen?
Die unlängst von Staatssekretärin Karoline Edtstadler getätigte Äußerung, für sie sei „vorstellbar, dass alle Muslime, die nach Österreich kommen, zu einem Besuch in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen verpflichtet werden“,[1] ist zu Recht von mehreren Seiten heftig kritisiert worden, u.a. vom Mauthausen Komitee Österreich, zuletzt von der Vermittler_inneninitiative an der Gedenkstätte Mauthausen-Gusen.[2] Ähnliche Forderungen in Deutschland hat bereits Jens Christian Wagner, Leiter der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen, zurückgewiesen, nicht zuletzt stellten sie Flüchtlinge und Migranten unter Generalverdacht.[3] Weder führten verordnete Besuche von ehemaligen Konzentrationslagern automatisch zu einem besseren Verständnis der NS-Geschichte noch schützten sie vor Judenfeindlichkeit, so Wagner. Zugleich betonte er die Wichtigkeit von Gedenkstättenbesuchen – aber nicht als verpflichtende Kurzführungen für spezifisch definierte Gruppen.
Die Vorstellung verpflichtender Besuche in KZ-Gedenkstätten hat allerdings eine lange Vorgeschichte, wenn auch der Einengung auf eine ganz spezifische Gruppe eher Seltenheitswert zugesprochen werden muss.[4]
Seit KZ-Gedenkstätten ins Zentrum einer Erinnerungskultur gerückt sind, in Österreich ab den 1980er Jahren, wird ihre Funktion vonseiten der Politik oft darin gesehen, eine Art von Crashkurs in Geschichts- und Demokratiebewusstsein zu liefern. Äußerungen dazu lassen sich aus verschiedenen politischen Lagern finden. Manche Politiker bedienen sich dabei zum Teil seuchenhygienischer Metaphorik; Begriffe wie „Schutzimpfung“ und Ähnliches lassen sich finden.
In Bezug auf die Geschichte der KZ-Gedenkstätte Mauthausen ist festzuhalten, dass diese im ersten Jahrzehnt nach ihrer Einrichtung im Jahr 1949 von der österreichischen Gesellschaft mehrheitlich ignoriert wurde. Die Gedenkstätte war vor allem jenen ein Anliegen, die vom Nationalsozialismus verfolgt worden waren oder das KZ Mauthausen selbst überlebt hatten. Neben Verfolgten aus Österreich und ihren Organisationen waren es vor allem Überlebenden-Verbände aus dem Ausland wie aus Frankreich, Polen oder Italien. Erst ab den 1960er Jahren trugen die Bemühungen ehemaliger KZ-Häftlinge, die Zahl der Besuche in Mauthausen zu steigern, erste Früchte. Vermehrt konnten nun auch österreichische Jugendliche motiviert werden, die Gedenkstätte zu besuchen.
Dabei spielten die Schulen eine nicht unwesentliche Rolle. Die Vorstellung, mit Gedenkstättenbesuchen – verstanden als Teil der politischen Bildung und zeitgeschichtlichen Unterweisung –, antidemokratischen Entwicklungen entgegenzuwirken, führte in den österreichischen Schulverwaltungen zu expliziten Empfehlungen, die KZ-Gedenkstätte Mauthausen zu besuchen. Die erste derartige Empfehlung sprach der Wiener Stadtschulrat 1960 aus, bundesweite Aufforderungen benötigten allerdings mehr Zeit. Erst durch die 1973 neu geschaffene Abteilung Politische Bildung im Unterrichtsministerium ergingen Ende der 1970er Jahre entsprechende Erlässe. Es bedurfte dieser Motivierung von Schulen, sich mit dem Thema Nationalsozialismus, den Konzentrationslagern und dem Holocaust auseinanderzusetzen, um hier Veränderungen zu bewirken. Diese zähen Bemühungen zeigten vor dem Hintergrund einer grundlegenden Veränderung der Debatte über das Thema NS-Verbrechen und Judenvernichtung und eines Generationenwechsels zu einer jüngeren kritischeren Lehrer_innen-Generation, die sich hier zu engagieren begann, Wirkung. Als Katalysatoren dienten etwa die 1979 ausgestrahlte US-amerikanische Fernsehserie „Holocaust“ und – in den 1980er Jahren – die Waldheim-Debatte. Für die Gedenkstätte in Mauthausen hatte das eine massive Vermehrung der Besuche durch Heranwachsende zur Folge.
Eine wichtige Voraussetzung dafür war die Einrichtung einer zeithistorischen Ausstellung, die 1970 in Mauthausen eröffnet worden war und der Gedenkstätte neben seiner Friedhofs- und Denkmalsfunktion jene eines Museums und Lernortes hinzufügte. Die Ausstellung verdankte sich, wie schon zuvor die Gedenkstätte selbst, dem enormen Engagement von KZ-Überlebenden, die sich nun auch massiv in die Vermittlungsarbeit einbrachten, in Schulen gingen oder vor Ort persönlich Führungen hielten.
KZ-Gedenkstätten wie Mauthausen spielen so heute in der politischen Bildung insbesondere von Jugendlichen in Ländern wie Deutschland und Österreich eine enorm wichtige Rolle und werden breit angenommen. Etwa die Hälfte der rund 200.000 jährlichen Besucher_innen kommen im Rahmen von Schulbesuchen aus dem In- und Ausland nach Mauthausen.
Bei all diesen Bemühungen waren verpflichtende Besuche der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, für welche Zielgruppe auch immer, vonseiten der Überlebenden wie auch der freiwilligen und der professionellen Geschichtsvermittler_innen kein Thema. Und das aus gutem Grund.
Denn Gedenkstätten als Friedhöfe, Denkmäler und Museen können vieles anregen und anstoßen, können spezifische Diskussions- und Vermittlungsorte sein. Sie sind aber eben kein Instant-Produktionsort „richtigen“ Geschichtsbewusstseins, keine Bewusstseinsschleuse, die Menschen mit autoritärem, antisemitischem oder rassistischem Gedankengut betreten und wenige Stunde später als geläuterte Demokraten verlassen.
Genau das aber ist die Vorstellung, die in der Politik in Bezug auf die Gedenkstätten weiterhin geäußert wird, in den Worten von Staatssekretärin Edtstadler: „Denn wenn man selbst gesehen und gehört hat, welches Leid Antisemitismus erzeugt hat, wird man resistent gegen diese furchtbare Wertehaltung“.
In den KZ-Gedenkstätten werden solche Forderungen mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Nicht in erster Linie deshalb, weil man weiß, dass ein Gedenkstättenbesuch ohne entsprechenden Wertehorizont ganz anderes bewirken kann, als intendiert. So gab es in deutschen Gedenkstätten auch Besuche von Rechtsextremen, die ihren Besuch provokativ mit dem Lernziel verbanden, am Ort der ehemaligen KZs etwas über effiziente Repressionstechniken erfahren zu wollen. Solche Vorfälle sind aber eher selten. Die gemischten Gefühle kommen auch vom Wissen um den äußerst langwierigen Prozess, der mit der Vermittlung von Einstellungen und Wertehaltungen verbunden ist.
Mit einer vehementen Zurückweisung des Ansinnens, Besuche von KZ-Gedenkstätten verpflichtend zu machen, tun sich Gedenkstätten auch aus einem anderen Grund oft schwer. Denn man ist sich bewusst, dass die Erwartungshaltung, solche Besuche wirkten aufklärend, für die Politik einen Teil der Legitimation der Bereitstellung großer finanzieller Mittel für Gedenkstätten darstellt.
Dennoch gibt es aber aus vielen Gedenkstätten eine sehr klare Zurückweisung der Vorstellung von Pflichtbesuchen. So verweist einer der renommiertesten Gedenkstättenleiter in Deutschland, Volkhard Knigge, darauf, dass diese von Jugendlichen als „Aufnötigung“ wahrgenommen würden, was einer Motivierung entgegenstehe. Aber auch ein Blick auf die verpflichtenden Programme, wie sie in der DDR in Bezug auf die Herstellung von Geschichtsbewusstsein üblich waren, macht Knigge mehr als skeptisch.
Generell ist aber auch in Deutschland die Auffassung zweigeteilt. Die Forderungen nach Pflichtbesuchen für diverse Zielgruppen kommen eher aus der Politik, die Zurückweisung des Glaubens an naive Geschichtsbewusstseinsproduktion eher von den Geschichtsvermittler_innen.
Der rezente Vorschlag von Staatssekretärin Edtstadler, antisemitischen Einstellungen unter zugewanderten Muslimen durch verpflichtende Mauthausen-Besuche entgegenzuwirken, weist aber auch noch auf eine weitere Problematik hin, die vielleicht mit mangelnden Kenntnissen der konkreten historischen Geschehnisse in Mauthausen korreliert. Die Fokussierung auf die Judenverfolgung befördert eine in der Öffentlichkeit oft anzutreffende Vorstellung, in den Konzentrationslagern wie Mauthausen seien vorwiegend Juden und Jüdinnen eingesperrt gewesen.
Mauthausen steht als Konzentrationslager aber nicht zentral für den Massenmord an den europäischen Juden, wie das für die deutschen Vernichtungslager in Ostpolen oder für Auschwitz gilt. Im Lagerkomplex Mauthausen wurden – vor allem ab Frühjahr 1944 – viele tausende Juden, vorwiegend aus Ungarn und Polen, ermordet. Aber in Mauthausen starben eben auch viele andere von den Nationalsozialisten als zu vernichtende Feinde definierte Gruppen wie sowjetische Kriegsgefangene, Angehörige nichtjüdischer polnischer Bildungsschichten, französische Widerstandskämpfer, republikanische Spanier oder deutsche Zuchthausinsassen. Und unter den Opfern befanden sich auch Muslime.
Und um nochmal auf die Zielgruppe von Migrant_innen zurückzukommen. Die Frage, was ein notwendiges Wissen über die NS-Verbrechen und den Holocaust im Hinblick auf die Integration von Zuwanderern in unsere Gesellschaften ist, scheint berechtigt. Das gilt aber eben nicht nur für diese. Es bleibt festzuhalten, dass die KZ-Verbrechen und der Massenmord an den europäischen Juden und Jüdinnen in erster Linie von – meist christlich sozialisierten – Deutschen und Österreichern (vorwiegend, aber nicht nur, Männern) begangen wurden, also von Menschen, die aus der Mitte unserer Gesellschaft kamen. Nicht zuletzt deshalb hat sich die „Holocaust-Education“ in den letzten Jahren intensiv mit der Frage beschäftigt, wie man Jugendlichen mit Migrationshintergrund, deren Gesellschaften mit dem Holocaust nur wenig zu tun hatten, das Thema als relevant vermitteln kann. Dazu sind viele gute Konzepte entwickelt worden. Der Pflichtbesuch, der bestimmte Menschengruppen unter ideologischen Generalverdacht stellt, gehört nicht dazu.



[1] BMI Staatsekretariat: Edtstadler: Kampf gegen Antisemitismus wichtiger denn je. Ein Maßnahmenpaket der Bundesregierung wird in den kommenden Wochen ausgearbeitet. Muslime sollten zu Besuch in KZ-Gedenkstätte Mauthausen verpflichtet werden. (https://www.bmi.gv.at/news.aspx?id=446B54332B4344637543413D, Zugriff 5.4.2019)
[2] Edtstadlers Zwangspädagogik. Kommentar der anderen. Offener Brief, 26. März 2019. https://derstandard.at/2000100268109/Edtstadlers-Zwangspaedagogik, Zugriff 30.3.2019
[4] So hat zwar Justizminister Brandstetter 2016 als Folge der äußerst fragwürdig begründeten Einstellung eines Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft Graz gegen die Zeitschrift "Aula", in der in einem Artikel KZ-Häftlinge als "Massenmörder" und "Landplage" bezeichnet worden waren, im Rahmen des Curriculums für Richteramtswärter_innen verpflichtende Besuche der KZ-Gedenkstätte Mauthausen vorgesehen. Allerdings sollten diese Besuche in ein umfangreiches Ausbildungsprogramm eingebettet werden. (https://derstandard.at/2000032745846/Causa-Aula-Brandstetter-zieht-Konsequenzen-bei-Ausbildung, Zugriff 5.4.2019)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen