Montag, 5. Juli 2021

Quote

 

Kunsthaus Graz, neulich
  

Die „Quote“, das heißt der „Besucherumsatz“, die statistische Erhebung der Zahl der Besucher (eigentlich: der Besuche) ist zum Universalmaßstab für die Bedeutung von Museen geworden, eine Rechtfertigung ihrer Existenz, ein Nachweis ihrer demokratischen Funktion – schließlich sind sie ja „jedermann“ (wie die ICOM-Definition weiß) zugänglich.

So problematisch die Methodik und die Manipulationsanfälligkeit der Erhebung ist, inzwischen scheinet die Veröffentlichung von „Erfolgszahlen“ unverzichtbar, vor allem bei großen Ausstellungen, wo es unter sechsstellig kaum noch geht. Dabei wird die schiere Zahl zum Wertmaßstab und ersetzt die Mühsal der Kritik durch eine simple Ziffer. Die „Quote“ treibt die Museen in eine Konkurrenz untereinander und weckt bei potentiellen Museumsbesuchern Versäumnisängste - „muß ich nicht dort gewesen sein?“.

Vor allem aber verdeckt die „Quote“ den Ausschluss, der Museen in sozialer Hinsicht als Voraussetzung ihrer Existenz kennzeichnet. Grob gesagt besuchen etwa 50% einer Stadt, einer Region, eines Landes „ihre“ Museen har nicht und denken auch gar nicht daran. Das sind Menschen, die auf Grund ihrer sozialen Stellung nie in den Genuss einer kulturellen Sozialisation gekommen sind und für die das Museum lebensweltlich schlicht inexistent ist.

Vielleicht kommt einmal die Zeit, da sich die Museumsleiter:innen, die skeptisch sind, durchsetzen und Museen wie Medien verzichten aufs Zählen?!



 

Neulich in Graz.... (Texte im Museum 997)

 


Muß es sein...? (Sokratische Frage 63)

 

Müssen Ausstellungen fertig werden?

Das Museum als Lernort...

 


Bunte Dinge (Entrée 171)

Freitag, 25. Juni 2021

"museumdenken" - Was wir vorhaben


Was haben wir vor? Wir, das sind Hanno Loewy (Leiter des Jüdischen Museum Hohenems), Anika Reichwald (Kuratorin am selben Museum) und ich, Gottfried Fliedl, Museologe. 

Wir haben ein Netzwerk von Personen und Institutionen geknüpft, die unsere Vorstellungen teilen und unterstützen. In wenigen Tagen kommt es zum ersten Treffen mit MuseumsmitarbeiterInnen, MuseologInnen, WissenschafterInnen aus Österreich, Deutschland und der Schweiz. In der kick-off-Veranstaltung wird es um Die Festlegung von Zielen gehen und um Formen der Kooperation. Aber auch um gemeinsame Veranstaltungen.

Seit Wochen ist eine Webseite in Ausarbeitung, die seit wenigen Tagen online ist. www.museumdenken.eu

Auf dieser Webseite gibt es Essays - zunächst zur zentralen Frage einer wünschbaren Zukunft von Museen, einen Blog und ein Glossar mit bereits über einhundert Einträgen. Die Webseite soll eine Plattform der Debatte und der Information werden.

Worum es uns grundsätzlich geht, haben wir in einem "mission statement" zusammengefasst.

Wer mit uns Kontakt aufnehmen will und an Mitarbeit interessiert ist, findet hier die Mailadressen, mit denen man uns erreicht: https://www.museumdenken.eu/post/kontakt


"museumdenken" - Eine neue Initiative für eine breite und diverse Museumsdiskussion. Zur Zukunft der Museen angesichts vielfacher Krisen

museumdenken ist eine Initiative für eine breite und diverse Debatte zur Zukunft der Museen

Der unmittelbare Anlass ist die Krise der gesellschaftlichen Bewertung der Museen. Weltweit sind tausende Museen von der Pandemie betroffen, in Lockdowns geschickt, zu Sparmaßnahmen gezwungen, von endgültiger Schließung bedroht. Schwer wiegt, dass die Bedeutung der Museen als vernachlässigter eingeschätzt wird. Sie gelten als kaum systemrelevant. Das symbolische Kapital, das sich die Institution Museum seit ihrer Entstehung erworben hat, scheint erstmals nachhaltig beschädigt.


Die Folgen der Corona-Pandemie für Museen werfen viele Fragen auf. Weitermachen wie bisher, scheint nicht mehr möglich. In den letzten Jahren und Monaten sind noch andere Probleme auf die Museen zugekommen: der demografische Wandel, die Forderung vieler marginalisierter Gruppen nach Berücksichtigung, der soziale Elitismus der Institution und der Mangel an demokratischer Haltung, die fortschreitende Ökonomisierung, die Frage kolonialer Beute in Museumssammlungen u.a.m.

museumdenken ist als Plattform für Debatten und den Austausch von Information gedacht – für all jene, die wie wir an einer Diskussion über die wünschbare Zukunft der Museen und ihrer gesellschaftlichen Relevanz interessiert sind. Als virtuelle Plattform steht die Webseite www.museumdenken.eu zur Verfügung, für den praktischen Austausch unterschiedliche Debattenforen, deren Gestaltung durch die Teilnehmer:innen erfolgt.

museumsdenken hat sich als loser Zusammenschluss von Personen und Museen gebildet, als Netzwerk, in dem Expert:innen aus Museen und anderen Kultursektoren verschiedener Länder eingebunden sind. Wir sind an Debatten interessiert, die nicht ausschließlich in der Sprache und in den fachlichen Denkbahnen der Insider geführt werden.

Wir halten eine breite Museumsdebatte für nötig und überfällig.

Wir glauben, dass das aufklärerische und demokratische Potential von Museen noch lange nicht voll ausgeschöpft ist.

Gottfried Fliedl, Hanno Loewy, Anika Reichwald

Mittwoch, 23. Juni 2021

Knochenarbeit oder das Unbewußte in der Museumsarbeit

 


Schaurestaurierung der Reliquie des heiligen Eusebius im Museum am Dom St. Pölten!
An ausgewählten Tagen wird Textilrestauratorin Elisabeth Macho-Biegler eine barocke Ganzkörperreliquie live im Museum restaurieren. Machen Sie sich selbst ein Bild von der kleinteiligen und zeitintensiven Arbeit, die im wahrsten Sinne des Wortes mitunter auch „Knochenarbeit“ ist.
Zutritt mit gültigem Museumticket zu den regulären Öffnungszeiten.
Schaurestaurierung an folgenden Terminen:
26. Juni 2021
10. Juli 2021 (12.00-16.00 Uhr)
15. Juli 2021 (10.00-18.00 Uhr)
24. Juli 2021
8. Juli 2021
13. August 2021
Weitere Termine für den Herbst werden noch bekannt gegeben!
 

Kommentar:

„Die Reliquie ist das, was von dem Toten aufbewahrt wird, damit es im Namen der Realität dafür garantiere, daß er nicht wiederkehrt. Das heißt schon, daß dem mit dem Reliquienkult verknüpften Ritual – im individuellen Mythos wie im kollektiven Glauben – die Allmacht der Verschwundenen durchaus gegenwärtig ist. ‚Wir wissen’, sagt Freud, ‚daß die Toten mächtige Herrscher sind...’ (...) Die Reliquie verwirklicht den illusorischen Kompromiß, dessen der Mensch sich bedient, um der Todesangst widerstehen zu können, so daß es ihm niemals gelingt, die Vorstellung vom Tod mit der – Schicksal gewordenen – Notwendigkeit eines Nichtmehr in Einklang zu bringen. 

 

Pierre Fédida

Dienstag, 15. Juni 2021

Nur ein Boot. Kolonialer Kulturraub an einem Beispiel (Eine Mikroausstellung)

Für "Nur ein Boot" greife ich ich auf eine schon lange nicht mehr verwendete Darstellungsform zurück, die (zweidimensionale) Ausstellung. Texte, Zitate und Abbildungen werden in "Vitrinen" gezeigt und erzählen dem "Besucher" eine Geschichte. Diesmal von einem Boot, das bis vor kurzem, wenn man das so sagen mag, "in aller Unschuld" im Humboldt-Forum in Berlin zu sehen war und - nun weniger unschuldig - zu sehen ist. Denn nun hat sich Götz Aly dieses Objekts angenommen und die Geschichte des Bootes in einem Buch rekonstruiert. Diese Geschichte ist die militanter Kolonisierung, verschleierter Überlieferungsgeschichte, verweigerter Recherche. Auf einen eigenen Kommentar wird in der "Mikroausstellung" verzichtet. 




Nur ein Boot 

Vitrine 1 „Ausgestorben“ 

 „In meiner Kindheit bin auch ich regelmäßig in Dahlem gewesen. An Winterwochenenden machte mein Vater mit meinem knapp zwei Jahre älteren Bruder und mir Touren durch die West-Berliner Museen. Von allen Ausstellungsstücken, ob im Musikinstrumenten-Museum, dem Museum für Vor- und Frühgeschichte oder im Museum für Verkehr und Technik, sind mir die ozeanischen Boote im Ethnologischen Museum am besten in Erinnerung geblieben. Weil sie nicht hinter Glas versteckt sind, sondern zum Anfassen, Klettern und Spielen einladen. (…)“ 

Ich war „seit ungefähr 30 Jahren nicht mehr im Ethnologischen Museum. Die Boote stehen aber noch genau so da, wie ich es aus meiner Kindheit in Erinnerung habe: auf einem Teppichpodest mit schrägem Boden, als würden sie eine Welle hinabsurfen. (…) Im Humboldt-Forum sollen die Boote ganz anders präsentiert werden, in den Mittelpunkt der Ausstellung soll das Meer rücken – als geschäftiger Verkehrsweg, identitätsstiftender Kommunikationsweg und überlebenswichtiger Nahrungslieferant. In Dahlem sind die Boote vor allen Dingen: Boote. Lediglich kleine Schilder erklären in leicht angestaubter Museumssprache, was das Auge sieht. Zum Beispiel das Fischerboot zum Bonito-Angeln aus Samoa, um 1870 gebaut und „mit Brotfruchtbaumharz kalfatert“. 

Über das Segelboot aus Luf, Para-Mikronesien, erfährt man, dass es Anfang dieses Jahrhunderts – gemeint ist das Jahr 1904 – nach Berlin überführt wurde. Es ist das letzte seiner Art, „die Bevölkerung von Luf ist um 1940 ausgestorben“. (5) 

 „Für die Südsee kann man generell sagen, dass sehr viele Objekte auf gewaltsame Weise beschafft wurden. Daneben war der unredliche Tausch gegen Glasperlen und miserablen Tabak der Sorte »Niggerhead« gang und gäbe. Es handelt sich um systematisches Absaugen, Abgrasen und Ausrauben. Die Kolonie Deutsch-Neuguinea bestand von 1884 bis 1914. Spätestens um 1900 war auf diesen Inseln kaum mehr etwas zu holen. Berlin schickte dann seine Ethnologen auf die Kriegsschiffe mit der Aufforderung: Holt die Reste, bevor es zu spät ist! Die Museumsleiter betrachteten die »untergehenden Kulturen der Naturvölker« bald selber als ein abgeschlossenes Sammlungsgebiet. Ihnen war klar, dass die Ureinwohner der Inseln die Konfrontation mit dem Kolonialismus nicht überleben würden.“ (9) 




Vitrine 2  „Ahoi, liebes Luf-Boot!“ 

 „In der Nacht vom 28. Mai 2018 fuhr ein Schwertransport über den Potsdamer Platz. Auf der Ladefläche, verpackt in einer 20 Meter langen Kiste, ein einmaliges Wunderwerk der Menschheitsgeschichte: das reich verzierte Auslegerboot von der Insel Luf im heutigen Papua-Neuguinea. Generationen von Schulkindern haben es im Ethnologischen Museum in Dahlem bewundert. Nun war es auf dem Weg ins Humboldt-Forum, wo es ebenfalls eine der Hauptattraktionen sein wird. Mit 16 Metern ist das Boot so riesig, dass es nur durch ein frei gehaltenes Loch in der Fassade ins Stadtschloss passte. "Ahoi, liebes Luf-Boot!", grüßte die Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) auf ihrem Blog.“ (2) 

 „Im Humboldt-Forum sollen die Südseeboote des Ethnologischen Museums Dahlem einmal einen prominenten Platz einnehmen. Dort sollten sie auf die Bedeutung des Meeres verweisen, sagte die Kuratorin der Südsee-Sammlung, Dorothea Deterts, im DLF. (Deutschlandfunk) Es gehe um das Meer als Identitätsstifter, Verkehrs- und Kommunikationsweg.“ (4) 

Vitrine 3 „Reise“ „Die Reise des Südseebootes aus dem Ethnologischen Museum (gemeint ist die Übersiedlung des Bootes ins Humboldt-Forum; GF) begann auf der Insel Luf in Papua-Neuguinea. Aus einem Baumstamm und vielen Planken ließ der Häuptling Labenan den Rumpf des Bootes bauen. Offiziell kam es jedoch nie zum Einsatz, bis Max Thiel, ein Geschäftsführer der deutschen Handelsgesellschaft Hernsheim & Co das Boot 1903 erwarb und es zu einer Niederlassung der Firma auf der Insel Matupi transportieren ließ. Noch im selben Jahr wurde es vom Museum für Völkerkunde in Berlin angekauft und zunächst nach Hamburg verschifft. Von hier kam es dann im Februar 1904 ins Museum für Völkerkunde in die heutige Stresemannstraße in Berlin. (…) 

1970 wurde unser Luf-Boot schließlich aus dem Dornröschenschlaf geweckt und kam in die Dauerausstellung des Ethnologischen Museums, in der es bis 2017 verweilte. Dann schloss das Museum in Dahlem seine Pforten und die Vorbereitungen für den großen Umzug in das Humboldt Forum in Berlin-Mitte begannen.“ (3) 




Vitrine 4 „Erworben“ 

„Der Historiker Götz Aly erzählt in seinem (eben) erschienen Buch "Das Prachtboot" die erschreckende Geschichte eines der spektakulärsten Objekte, das im Humboldt-Forum gezeigt werden wird: des "Luf-Boots", das, so Aly, 1903 in der damaligen Kolonie Deutsch-Guinea geraubt wurde.“ (2) 

„Das Luf-Boot, zeigt Alys ebenso schmissig geschriebene wie umfassend recherchierte Studie, ist keineswegs auf faire und gerechte Weise vom Deutschen Reich erworben worden, wie es die Staatlichen Museen suggerieren. Vielmehr gelangte es am Ende eines jahrzehntelangen Prozesses der Ausrottung und Verdrängung der Ureinwohner Ozeaniens ohne nachweisbare Bezahlung in den Besitz eines „weithin bekannten Kunsträubers und Kulturschänders“ (Aly). Das Prachtboot der Südsee-Sammlung im Humboldt Forum ist, anders gesagt, ein Stück koloniales Raubgut.“ (7)

„Ellmenreich: Wie sind die nach Berlin gekommen ins Ethnologische Museum? Deterts: Auch ganz unterschiedlich. Die meisten wurden angekauft. Ein Boot, das größte unserer Boote, von der Insel Luf. Das ist eine Insel, die heute zum Staat Papua-Neuguinea zählt. Das ist angekauft worden und 1899 wurde es auf Luf gesehen in einem Bootshaus, konnte dort aber, weil es nur noch wenige Männer vor Ort gab, nicht mehr fortbewegt, geschweige denn gesegelt werden, und ist dann von einer deutschen Handelsgesellschaft, Hernsheim & Co, angekauft worden, dem Ethnologischen Museum in Berlin angeboten worden und dann 1904 nach Berlin gekommen.“ (4) 

„Der Hamburger Unternehmer Eduard Hernsheim, einer der größten Player im Pazifik, hörte von einem angeblichen Überfall auf seine Handelsstation auf Luf. Untertänigst bat er Bismarck deshalb um "häufigeren Besuch" deutscher Kriegsschiffe. Bismarcks Strafexpedition erreichte die Insel an Weihnachten. Obwohl die rund 400 Bewohner keine Gegenwehr leisteten, töteten die Soldaten etwa die Hälfte von ihnen und brannten alle Häuser und Schiffe nieder. 20 Jahre später besuchte der damalige Direktor von Hernsheim & Co, Max Thiel, die Insel. Die überlebenden Lufiten hatten ein neues Bootshaus und ein neues, großes Boot gebaut. Für Hernsheim war der Handel mit geplünderten "Kuriositäten" von den Inseln ein wichtiger Geschäftszweig neben den Plantagen. Er wusste, dass Luschan, inzwischen Leiter der Ozeanien-Abteilung im Berliner Völkerkundemuseum, außer Schädeln nichts so liebte wie Schiffe. Er schaffte das Boot von der Insel und verkaufte es ihm für 6000 Mark.“ (2)


 

Vitrine 5 „Gesammelt“ 

 „Über eine weitere von den Marinesoldaten des Kanonenboots Möwe exekutierte Strafexpedition berichtete der Südseereisende Wilda, den Dr. Schnee zur Teilnahme eingeladen hatte. Diesmal zielte die »Züchtigung« auf die »verhältnismäßig sehr wohlhabende« Bevölkerung von Buka, der nördlichsten Insel der Salomonen-Gruppe. Wie üblich sicherten sich die deutschen Herren »die ethnographisch wertvollen Sachen«, bevor sie alle erreichbaren Hütten in Flammen aufgehen ließen. In diesem Fall wurde die Aneignung musealer Herrlichkeiten dokumentiert und als strafweise »Fortnahme des Besitzes« umschrieben. Dr. Schnee kümmerte sich persönlich darum, dass zwar die Kanus wie üblich zerschlagen oder angezündet, aber »die guten Fischernetze aus Brotfruchtfaser sorgfältig« verpackt und nach Berlin verfrachtet wurden.“ (1) 

„Die Museumsleute kauften im großen Stil bei skrupellosen Plünderern ein. Sie wirkten an den "Völkerschauen" mit. Sie hatten teils Karrieren wie Franz Emil Hellwig, der sich als "Wildschweinjäger, Fabrikbesitzer, Hausierer, Uhrmacher" versucht hatte, bevor er - aus der Südsee zurückgekehrt - Kurator im Hamburger Völkerkundemuseum wurde. Schon damals mokierten sich Wissenschaftler über den "methodisch unfertigen Zustand der Ethnologie" und die "sinnlose Anhäufung von Gegenständen, besonders ... aus unseren Kolonien“. Und dann ist da noch die Vorarbeit, die Ethnologen und Anthropologen für die Rassenlehre leisteten: Überschwänglich dankte der Freiburger Anatom Eugen Fischer etwa für die "Liebenswürdigkeit", dass ihm, gleich nach der Hinrichtung ihrer Besitzer, zwei "Papuaköpfe" in "Formol" geschickt wurden. Bernhard Meyer vom Ethnographischen Museum in Dresden bettelte um "Menschenschädel" und "ganze Skelette", auch "aus Gräbern“.“ (2) 

„Georg Thilenius, Direktor des Hamburger Völkerkundemuseums, (gab) den Teilnehmern der Südsee-Expedition von 1908 den Auftrag, bestimmte Gebiete „leerzuforschen“.“ (7) 

„Von November 1902 bis Januar 1903 war (Franz Emil) Hellwig als Sammler ethnographischer Gegenstände im Auftrag der Firma Hernsheim an Bord der Gazelle. U. a. zusammen mit dem Regierungsarzt Otto Dempwolff und dem Kaufmann Heinrich Rudolph Wahlen besuchte er verschiedene Inseln. Auf der Insel Luf (1° 31' 60" S, 145° 4' 6" O) nahe den Admiralitäts-Inseln blieb er alleine zurück, um Sitten und Sprache der Einheimischen zu studieren. Im Jahre 1904 begab er sich wieder nach Deutschland. Die auf diese Expedition gesammelten Gegenstände wurden von Max Thiel, Direktor von Hernsheim an Georg Thilenius, den Direktor des Völkerkundemuseums Hamburg für 20000 M verkauft. Aus den Erlösen seiner privaten Sammlertätigkeit konnte Hellwig 1907 in Halle ein Kolonialwarengeschäft erwerben. In den Jahren 1908 bis 1910 nahm er an der Hamburger Südsee-Expedition, die im ersten Jahr von Friedrich Fülleborn geleitet wurde, als Sammler und Photograph teil. Nach Ende der Expedition wurde Hellwig am Völkerkundemuseum in Hamburg beschäftigt.“ (6) 

 „Aly: Um ihr Gewissen zu beruhigen, behaupteten die vielfach räuberisch vorgehenden Sammler gern, sie würden die Zeugnisse untergehender Kulturen retten. Diese Form der Rechtfertigung hält sich bis heute. Aber die sogenannten Retter gehörten selbst zu den europäischen Stoßtruppen kultureller Verwüstung.“ (8) 

 Vitrine 6 "Weltweit einmalig“ 

„Aly: Das Reiseboot ist wunderschön und ein höchst wichtiges, ja strahlendes Weltkulturerbe. Aber warum existiert von diesem Bootstyp nur noch ein einziges Exemplar auf der Welt? Die Antwort darauf führt in ein düsteres Kapitel deutscher Kolonialgeschichte.“ (8) 

„Weltweit einmalig“ (Stiftung Preussischer Kulturbesitz. „Wie man sich das »Kaufen« der Agenten Hernsheims beziehungsweise die fließenden Übergänge zwischen Abpressen, Übervorteilen, Betrügen und Rauben vorstellen muss, schilderte Richard Parkinson 1904 in einem Brief an das Berliner Völkerkundemuseum: »Die Firma Hernsheim & Co. hat [die Inseln] Maty [Wuvulu] und Durour [Aua] rattenkahl absammeln lassen; es ist ein ethnographischer Raubzug, wie ich ihn noch nicht gesehen [habe].« Allerdings hatte Parkinson knapp vier Jahre zuvor selbst von Luschan gefordert, »einen ständigen Agenten« für die Südsee zu ernennen, der dort möglichst viele »größere wertvolle Sammlungen« erwerben solle, bevor überhaupt nichts mehr zu haben sei: »Es ist erstaunlich, wie schnell jetzt alle Sachen verschwinden, auch das Allergewöhnlichste wird allmählich zu einer Seltenheit.«“ (1) 

„Im Sommer 1882 erfuhr Eduard Hernsheim, der gerade in Deutschland weilte, dass seine Station auf einer Nachbarinsel von Luf von Eingeborenen niedergebrannt und eines seiner Schiffe zerstört worden war. Daraufhin erwirkte er beim Reichskanzler Bismarck eine militärische Strafaktion, die vom 26. Dezember 1882 bis zum 5. Januar 1883 durch das Kanonenboot „Hyäne“ und die Korvette „Carola“ vollzogen wurde. In diesen elf Tagen zerstörten die Mannschaften der beiden deutschen Schiffe sechs Dörfer, zahlreiche Hausgeräte und Pflanzungen und mehr als fünfzig „Kanoes“, darunter zahlreiche Exemplare von der Größe und Qualität des Luf-Boots. Die Bevölkerung, deren Lebensgrundlage vernichtet war, sollte sich von diesem Schlag nicht mehr erholen. Hatten vor der Aktion bis zu vierhundert Menschen auf Luf gelebt, so waren es wenige Monate später nur noch etwa sechzig.“ (7) 




Vitrine 7 „Mahnmal des Schreckens“ 

 „In den 1880er Jahren unterwarf die deutsche Kaiserliche Kriegsmarine einen Teil von Neuguinea und umliegender Inseln, den hinfort so bezeichneten Bismarck-Archipel.“ (1) „Mit (Götz) Alys Buch ist das "liebe Luf-Boot" nun ein ebenso unmögliches Exponat geworden. Die Leute, die es nach Berlin brachten, sind verantwortlich für den Untergang eines Volks und seiner Kultur.“ (2) „In einer ersten Reaktion erklärte eine Sprecherin der SPK gegenüber der SZ, man werde das Boot weiterhin zeigen - nur jetzt als "Mahnmal der Schrecken der deutschen Kolonialzeit". 

Auf die Herkunft des Boots und die Strafexpedition, in deren Zuge etwa die Hälfte der Bewohner getötet wurde, soll in der Ausstellung eingegangen werden.“ (2) 

„Das heutige Papua-Neuguinea ist eines der ärmsten Länder der Welt.“ (8) 

Vitrine 8 „Auktionsbewertung 160 000 bis 200 000 Euro“ 

„Einzelne Stücke aus Hellwigs Raubgut werden bis heute gehandelt. So konnte man 2014 die Ankündigung »Museale Neuguinea-Figur unterm Hammer« lesen. Das hochvornehme Wiener Auktionshaus Dorotheum, 1938 bis 1944 führend an der Versteigerung des Eigentums entrechteter, geflohener und ermordeter Juden beteiligt, veranstaltete die Auktion, zu der mit folgendem Text eingeladen wurde: »Spitzen-Objekt der Dorotheum-Auktion ›Stammeskunst / Tribal Art‹ vom 24. März 2014 ist eine sehr seltene, alte Aufsatz-Figur einer ›Heiligen Flöte‹ der Biwat ( ... ) von vorgelagerten Inseln im Nordosten Neuguineas. Gesammelt im Jahr 1904 von dem deutschen Abenteurer und Kaufmann Franz Emil Hellwig. ( ... )“ 



Vitrine 9 „Nur ein Boot“ 

„Die originalen Eingangsbücher und Inventare enthalten wesentlich deutlichere und zahlreichere Hinweise auf das Sammeln wertvoller Ethnographica mit Hilfe von Kanonenbooten und im Kontext ungezählter sogenannter Strafexpeditionen. Genau deshalb weigern sich die meisten Direktoren ethnologischer Museen bis heute, die großen handgeschriebenen ursprünglichen Verzeichnisse, also die dokumentarischen Grundlagen ihrer Bestände, der interessierten Öffentlichkeit in digitaler Form zugänglich zu machen.“ 

 „Aly: Ich habe die Inventare des Berliner Ethnologischen Museums zur Südsee durchgelesen, insgesamt sieben handgeschriebene Folianten. Das geht sehr schnell. Vieles wiederholt sich. Dabei fällt auf, dass in der öffentlich zugänglichen Datenbank der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die längst nicht alle Stücke enthält, eine »Strafexpedition« zur »Expedition« verniedlicht wird, da wird ein Max Braun als Sammler geführt und nicht mitgeteilt, dass er Unterzahlmeister des Kanonenboots »Möwe« war, der Sammler Jakob Weisser diente in ähnlicher Funktion auf dem Kanonenboot »Hyäne«, da wird ein Auktionshaus in London, das regelmäßig koloniales Raubgut unter den Hammer brachte, zur »Sammlerin Webster«.“ (8) 

 „Aly selbst schlägt vor, der Republik Papua-Neuguinea, auf deren Territorium die Insel Luf liegt, das Auslegerboot zunächst rechtsgültig zu übereignen. Über eine Rückführung könne man später immer noch reden.“ (7) 

 „Aly: Angemessen erklärt führt dieses zum Museumsobjekt gemachte Boot mitten hinein in die deutsche Kolonialpolitik, zu den Bestrafungsbefehlen des Reichskanzlers Otto von Bismarck und zur grausamen Behandlung der Menschen in den deutschen »Schutzgebieten«. Außerdem ist dieses Boot das letzte Zeugnis einer großen Kultur. Es kann 50 Menschen tragen, gegen Wind kreuzen, ist hochseetüchtig. Es gibt eine Vorstellung davon, mit welchen Fahrzeugen die entlegensten Südseeinseln vor vielen 1000 Jahren besiedelt wurden – zu einer Zeit, als man im heutigen Deutschland noch in Höhlen hauste.“ (8) 

 „Zunächst sollten wir uns – konkret die Stiftung Preußischer Kulturbesitz – als Treuhänder und Bewahrer dieser Kulturschätze verstehen. Ich bin unbedingt dafür, dass sie öffentlich gezeigt werden. Ich plädiere aber auch dafür, in den Museen endlich damit zu beginnen, die kolonialen Gewaltgeschichten zu erzählen. Der Betrachter soll mit dem Zwiespalt zwischen jahrtausendealter Hochkultur und moderner Brutalkultur konfrontiert werden. Wie der Staat Papua-Neuguinea auf die Dauer reagiert, das werden wir sehen, aber ich bin dafür, dass wir diesen Staat rückwirkend als Treugeber betrachten und uns nicht als Eigentümer sehen. Wie es dann weitergeht, das ist eine Aufgabe für die nächste Generation. Es sollte nichts übereilt geschehen.“ (9) 

Literatur 

(1) Götz Aly: Das Prachtboot. Frankfurt/M. 2021 Leseprobe daraus in: Perlentaucher 11.5.2021 https://www.perlentaucher.de/vorgeblaettert/goetz-aly-das-prachtboot-leseprobe.html 

(2)Jörg Häntzschel: Raubkunst:"Mahnmal der Schrecken". Das Luf-Boot soll auch weiterhin im Humboldt-Forum gezeigt werden, erklären die Verantwortlichen in ersten Reaktionen auf das neue Buch von Götz Aly. In: Süddeutsche Zeitung, 10. Mai 2021 https://www.sueddeutsche.de/kultur/humboldt-forum-restitutionsdebatte-raubkunst-kolonialismus-goetz-aly-1.5290781 (2) Jörg Häntzschel: Koloniale Raubkunst: Das neue Buch von Götz Aly: Unmögliches Exponat. In: Süddeutsche Zeitung 10. Mai 2021 https://www.sueddeutsche.de/kultur/luf-boot-humboldt-forum-goetz-aly-1.5289074 

(3) Von der Insel Luf ins Humboldt Forum: Die Geschichte eines Südseebootes. Blog Staatliche Museen zu Berlin. Stiftung Preussischer Kulturbesitz, 25.Mai 2018 

(4) Südseeboote in BerlinTeil der Identität der Kulturen im Pazifik. Dorothea Deterts im Gespräch mit Maja Ellmenreich: Im Humboldt-Forum sollen die Südseeboote des Ethnologischen Museums Dahlem einmal einen prominenten Platz einnehmen. Deutschlandfunk 13.8.2015 https://www.deutschlandfunk.de/suedseeboote-in-berlin-teil-der-identitaet-der-kulturen-im.691.de.html?dram:article_id=328255 

(5) Lars Spannagel: Museen Dahlem Ein letzter Besuch vor dem Umzug ins Humboldt-Forum, in: Der Tagesspiegel 2.1.2016 https://www.tagesspiegel.de/kultur/museen-dahlem-ein-letzter-besuch-vor-dem-umzug-ins-humboldt-forum/12781932.html 

(6) Franz Emil Hellwig; Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Franz_Emil_Hellwig 

(7) Andreas Kilb: Pazifizierung im Schutzgebiet Kein fairer Erwerb: Der Historiker Götz Aly führt den Nachweis, dass ein ethnologisches Vorzeigestück des Humboldt-Forums koloniales Raubgut ist. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.6.2021 https://zeitung.faz.net/faz/feuilleton/2021-05-08/118d3dc17f5203176d36b866db6b36f5/?GEPC=s2&fbclid=IwAR3fH3SitprFBKeo6UJE09a8XoPQDw6dje-u8RWpPZVyEUh0_G_Extt373U 

(8) »Die Deutschen zerstörten ein Paradies – und behaupten bis heute das Gegenteil« Ein Segelboot von der Südseeinsel Luf soll ein Highlight der Ausstellung im Berliner Stadtschloss werden. Der Historiker Götz Aly sagt: Das Exponat steht für ein düsteres Kapitel deutscher Geschichte. Ein Interview von Felix Bohr und Ulrike Knöfel in: Der Spiegel 8.5.2021 https://www.spiegel.de/kultur/deutscher-kolonialismus-in-der-suedsee-historiker-goetz-aly-ueber-die-zerstoerung-eines-paradieses-a-a4e4c3b8-b142-4b88-a5dd-749a1a9465fa 

(9) »Schuld und Sühne sind keine historischen Kategorien«. Ein geraubtes Boot aus der Südsee und seine Folgen: Ein Gespräch mit dem Historiker Götz Aly über das Erbe des deutschen Kolonialismus. Ijoma Mangold im Gespräch mit Götz Aly, in: Die Zeit, 11.5.2021 https://epaper.zeit.de/article/6c5134ed9e7a2946129495850675efc8ea48e6bc252cd6cef0bcadc033c827ab?fbclid=IwAR1y-9k7dng85KUHiHv2RgIeafO6yJiYVQKluMUAZOjfK14pjoGZ_eIetRQ

Freitag, 11. Juni 2021

Was man über den Oberösterreicher unbedingt wissen muss (Texte im Museum 994)

 

Stifterhaus Linz

Offenes Decodieren (Texte im Museum 993)



Eine Erläuterung, aus dem Internet gefischt: Die temporäre Kunstinstallation (von Cristoph Hinterhuber, G.F.) an der Außenfassade des Ferdinandeums verwandelt das Museum selbst in eine Skulptur und setzt ein Zeichen für die Zukunft des Museums und der Kulturarbeit in Tirol. Decode bedeutet „entschlüsseln“, recode „umcodieren“. An sich sind die beiden Begriffe eindeutig zu interpretieren. Werden sie allerdings durch de- und re- erweitert, eröffnen sie eine gedankliche Endlosschleife. Die eigentlichen Bedeutungen werden außer Kraft gesetzt, neue entstehen. In den vier möglichen, am Ferdinandeum dargestellten Varianten de-decode, de-recode, re-decode und re-recode entsteht ein Denkraum, der an den bevorstehenden Umbau des Ferdinandeums anknüpft und diesen symbolisch vorwegnimmt.