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Montag, 7. Februar 2011

Entgleitende Bilder. Die Dauerausstellung des Jüdischen Museums der Stadt Wien


Die im Internet zirkulierenden Bilder von der Zerstörung der Hologramme der Dauerausstellung des Jüdischen Museums der Stadt Wien haben ein heftiges Echo ausgelöst. Seit mehreren Tagen werden die das Museum und die Hologramme betreffenden Posts dieses Blogs massenweise abgerufen. An den Reaktionen zeigt sich, daß es nicht bloß um den Abbruch geht, sondern um die Haltung gegenüber einer exzeptionellen Ausstellung und um die zukünftige Ausrichtung des Museums.
Um zu verdeutlichen, worum es geht, worin die Qualität der Ausstellung lag und was auf dem Spiel stehen könnte, veröffentliche ich hier einen Aufsatz der 2004 erschienen ist.
Gottfried Fliedl


Sabine Offe, Gottfried Fliedl

Entgleitende Bilder. Über die Dauerausstellung des Jüdischen Museums der Stadt Wien


Aus: Wiener Jahrbuch für Jüdische Geschichte, Kultur & Museumswesen, Bd.6, Wien 2004. S. 19 – 26
Ungekürzt. Anmerkungsnachweise entfernt.

Das Jüdische Museum in Wien ist eine Zumutung. Es stellt die Erwartungen, die Besucher an konventionelle Ausstellungen herantragen, infrage, es verunsichert sie, es fordert sie heraus. Manche führen das darauf zurück, dass es in der Ausstellung an Informationen, an begleitender Belehrung, an Vermittlung fehle. Tatsächlich aber ist das Jüdische Museum nicht nur das konzeptionell und ästhetisch eindrucksvollste unter Jüdischen und kulturhistorischen Museen überall, sondern auch ein Museum, das sich in besonderem Maße seines Vermittlungsauftrags angenommen hat. Dem sind nicht nur die umfangreichen Programme für Besuchergruppen gewidmet, über die in diesem Heft an anderer Stelle berichtet wird, sondern auf “Vermittlung“ ist auch jedes Detail der Gestaltung der Dauerausstellung angelegt.

Der Begriff “Vermittlung“ ist in den letzten Jahren an die Stelle des herkömmlichen der “Museumspädagogik“ getreten. Vermittlung könnte einen nicht-hierarchischen Prozess bezeichnen, an dem beide Seiten beteiligt sind, Museum und Besucher eine Beziehung aufnehmen mit dem Anspruch wechselseitiger Verständigung und sich der Anstrengung der Verständigung ebenso aussetzen wie der Möglichkeit von Missverständnissen und der Chance der Anerkennung und des Aushaltens von Missverständnissen. Vermittlung, so verstanden, entfaltet sich in der Wechselwirkung von Ausstellungsintentionen und deren Aneignungsweisen durch die BesucherInnen, daran beteiligt sind institutionelle Traditionen, personelle Entscheidungen, Besucherreaktionen, Dinge, Gebäude, Texte. Vermittlung bildet “Mitten“, involviert emotionale ebenso wie kognitive, bewusste ebenso wie unbewusste Erzählungen von Ausstellungsmachern und Ausstellungsbesuchern. Ein Modell solcher Vermittlung für das Lehren und Lernen von Geschichte hat Volkhard Knigge entwickelt. Vermittlung, so Knigge, ist gekennzeichnet von einer „Doppelbewegung“: „Einerseits evoziert der historische Gegenstand [oder das Objekt im Museum, S.O.] etwas am Subjekt, beispielsweise Assoziationen, Erinnerungen und Querverbindungen, Gefühle und Körperzustände. Auf diese Weise vermittelt er Subjekteigenschaften oder setzt er Effekte am Subjekt, die auf ihn selbst verweisen. Diese können sich [...] zu Spuren verdichten, in denen sich Eigenschaften des Vergangenheitsmaterials am Subjekt selbst zum Ausdruck bringen.“ Gemeint sind hier körperlich wie mental erlebte Angst, Schrecken, Mitleid, oder auch positiv identifikatorische Formen des Miterlebens, die als Reaktion auf den "Gegenstand" auftreten können. Andererseis tragen die Subjekte gleichzeitig und gegenläufig ihre „Vorerfahrungen, affektiven Prägungen und (unbewußten) Wünschen“ (Volkhard Knigge) an die Gegenstände der Vermittlung heran. Diese Wechselbewegung kennzeichnet Vermittlung, sie lässt sich als Gegenentwurf zum  kontrollierenden Gestus autoritativer Besucherbelehrung verstehen. Damit verbunden ist das Risiko, dass Besucher und Ausstellende sich in den Ergebnissen solcher Wechselwirkung nicht wiedererkennen, die Ausstellenden ihre Absichten in der Rezeption verfehlt sehen, die Besucher ihrerseits enttäuscht sind, dass ihnen nicht Informationen angeboten werden, die sie getrost und getröstet über die Gewissheiten vermeintlich besser Wissender nach Hause tragen können.

Vielerorts wird in der Diskussion über Museen die “Abwesenheit“ dessen beschworen, was im Museum ausgestellt und nur als “Spur“ in den Dingen, denen es Raum gibt, erhalten scheint. Diese Debatte greift ein festgefügtes Fundament der Museumsarbeit an: die vermeintlich durch originale Gegenstände verbürgte Authentizität von Erfahrungen, eine der durch visuelle Evidenz unbezweifelbar scheinende Gewissheit, die verborgene Macht des Museums bei der Zuweisung von Bedeutungen und Lesarten. Wiewohl alle Museen von dieser Reflexion betroffen sind, scheinen sie weithin in der Praxis resistent gegen derartige theoretische Einsichten. Nur dort, wo der “Gegenstand“ des Museums konfliktreich oder traumatisierend in die Gegenwart hereinragt, stellt sich die Museumsarbeit, etwa in postkolonialen Konstellationen, den neuen Anforderungen. Namentlich die Erschütterung durch den Holocaust, die nachhaltige Beschädigung des mit dem Projekt der Moderne entwickelten Modells der Zivilisierung des Menschen und der damit verknüpften Hoffnungen, stellt auch die traditionellen und konventionellen Formen von Darstellung und Vermittlung in Museen infrage. Es überrascht nicht, dass die seit den achtziger Jahren im deutschsprachigen Raum entstandenen Jüdischen Museen besonders sensibel, facettenreich und innovativ auf theoretische Debatten auch der Museologie reagieren. Sie reagieren darauf, dass Museen es kategorial mit Abwesendem und Fremdgewordenem zu tun haben, mit neuen architektonischen Konzepten und neuen Strategien des Ausstellens und Vermittelns. Diese spiegeln die Ambivalenzen der Aufgabe der Institution: die Geschichte der Juden und deren wechselvolle Entfaltung als Teil europäischer Geschichte seit deren Anfängen zu zeigen, und an die Vernichtung der europäischen Juden im Nationalsozialismus zu erinnern. Anders als etwa in den USA sind Jüdische Museen in Österreich und Deutschland nicht nur Museen, sondern immer auch Mahnmale. Als Museen sind sie Teil einer Institution, die Kontinuität und kulturelles Erbe der bürgerlichen Gesellschaft repräsentiert und in den Dienst der Konstruktion von “kulturellem Gedächtnis“ und Identitätsstiftung stellt. Als Mahnmale hingegen repräsentieren sie nicht die Kontinuität, sondern die fundamentale Erschütterung bürgerlicher Kultur, den Zivilisationsbruch in der europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert.

Jüdische Museen sind oft nicht einmal Räume für Dinge, sondern selbst lediglich die Spur einer abwesenden materiellen Überlieferung jüdischer Kultur, die so systematisch vernichtet wurde wie die Menschen. Jede Rekonstruktion und Repräsentation von Geschichte und Kultur der Juden gerät daher in Gefahr, die Geschichte der Vernichtung museal ungeschehen zu machen, Lücken und Leerstellen zu verdecken und zu verstellen. Die Konzeption der Dauerausstellung des Jüdischen Museums in Wien thematisiert diese Ambivalenz von Anwesenheit und Abwesenheit in allen Bereichen der in drei Stockwerken eingerichteten drei Teilen der ständigen Sammlung und in drei unterschiedlichen Formen. Die Vergangenheit/Geschichte wird nicht im Rahmen konventioneller Darstellungsweisen erzählt, sondern Besucher sehen sich der Frage, wie sie zu erzählen und zu vermitteln sei, ausgesetzt. Die Ausstellung wendet sich an BesucherInnen, deren Familienbiographien in verschiedener Weise geprägt sind von NS-Geschichte, in der Mehrheit an Nachkommen der Tätergeneration. Die Besucher Jüdischer Museen sind daher immer schon in der einen oder anderen Weise beteiligt an Auseinandersetzungen über Deutungen und langfristige Folgen dieser Geschichte. Ein Museum wie das Wiener Jüdische Museum kann davon ausgehen, dass BesucherInnen wissen, was geschehen ist, aber es muss auch davon ausgehen, dass jedes Wissen über den Holocaust begleitet wird vom Schatten des Nichtwissens, des Nichtwissenwollens, des Nichtbegreifenkönnens – dem Schatten der Traumatisierung, die der Holocaust auch für die gegenwärtige Kultur Europas bedeutet.

Das Risiko wechselseitiger Missverständnisse geht das Jüdische Museum in Wien nicht nur ein, sondern es zeigt, dass sie unumgänglich, ja vielleicht  sogar wünschenswert sind. Der Imperativ Zachor!, Erinnere Dich!, des religiösen wie säkularen (nationalstaatlichen) Judentums, ist dem gesamten Museum eingeschrieben. Aber anders als im Jüdischen Museum Berlin, in dem die körperliche, kognitive und affektive Gängelung der BesucherInnen durch Architektur und Ausstellung keine Abwege, Umwege, eigenständige Assoziationen und Abweichungen von der großen Museums-Geschichtserzählung vorsieht, belässt es das Wiener Museum bei Angeboten an die Besucher, diesem Imperativ zu folgen.

Bereits im Eingangsbereich das Hauses, der ganz zuletzt gestaltet wurde, erinnert eine Inschrift (deutsch und englisch) an die ermordeten Juden. Die Schrift an der Wand erscheint farbig changierend auf  weißem Grund, sie ist schwer lesbar je nach Beleuchtungssituation und Standort des Lesers, ein Menetekel, das wahrzunehmen den Eintretenden überlassen bleibt. Ebenfalls im Erdgeschoss, im Museums-Café, erinnert eine Tafel an die erste und Eröffnungs-Ausstellung: “Hier hat Teitelbaum gewohnt“. (Felicitas Heimann-Jelinek) Da das “Café Teitelbaum“ dieser Ausstellung den Namen verdankt, verweist die Tafel auf den gegenwärtigen Ort des Lesers als einen Ort, der in der Vergangenheit der eines anderen gewesen ist oder gewesen sein könnte und damit auf Zusammenhänge ebenso wie auf deren Zerstörung. Auch ist die Tafel ein Kommentar zur Selbstmusealisierung des Museums, sie erinnert an die Ausstellung und zugleich an ‚Teitelbaum’, also stellvertretend unter dem einst verbreiteten Familiennamen an die Juden Wiens. Die Bedeutungen verschränken sich, sie zu entziffern bedarf es des Vorwissens, die Cafébesucher können sie im Raum belassen oder sie mitnehmen in den ersten Raum der Dauerausstellung. Dieser ist verbunden mit dem Veranstaltungsraum, der über alle Geschosse reicht und überwölbt wird von einem lichten Zeltsegel und darüber einer Kuppel aus Glas und Eisen.


Die nach oben sich öffnende Bewegung wird verstärkt durch die auf die hellen Wände verstreuten farbenfreudigen Stempelbilder von Nancy Spero, verfremdete Bildzitate: ein Detail des zerstörten Leopoldstädter Tempels (nach einem Foto), die Judenverbrennung in Erdberg (nach der Schedelschen Weltchronik), die Ansicht der (Wiener) Judenstadt (Vogelperspektive), Razzia in der Wiener Kultusgemeinde am 18. März 1938, Lesen der Haggada, Mazzesbacken (nach mittelalterlichen Illustrationen), Gustav Mahler, Tänzerinnen.


Diese Bilder haben keine Ordnung, bilden keine Erzählung, folgen keinem Zeitraster, sondern stellen Einzelheiten, Facetten der Überlieferung vor, können Auslöser für Assoziationen werden. Sie thematisieren Erinnerung in der Gestalt von Vergessenem, von den BesucherInnen nicht oder kaum Bekanntem. Sie drängen ihre Geschichten niemandem auf, aber sie geben sie auch nicht un-vermittelt preis. Wer Näheres erfahren will, muss sich auf die Suche machen.


Die im selben Raum ausgestellte Sammlung von Ritualobjekten aus der Sammlung Berger scheint zunächst noch am ehesten den habitualisierten Erwartungen von Museumsbesuchern zu entsprechen. Sie stehen gereiht und geordnet in Vitrinen, sie sind schön und kostbar. Aber Bibelzitate, die auf das Glas der Vitrinen geklebt wurden, erschweren und verdecken den Blick auf diese Objekte, sie verweisen auf den Vorrang der Schrift gegenüber der Materialität der Dinge im Judentum, sind keine Erläuterung des Gezeigten.


Wer die Sammlungsgegenstände frontal betrachtet, hat im Augenwinkel eine unscheinbare Inschrift, die über Motiv und Geschichte der Sammlung und des Sammlers Auskunft gibt, aber nur wie beiläufig, beiseite gesagt, neben der Vitrine in einer Raumecke angebracht. Es ist eine Widmung des Sammlers, gerichtet an seine ermordete Familie. Vielleicht führt diese Beiläufigkeit dazu, dass Besuchern  erst nach dem Verlassen des Museums, aber umso jäher, das Erschrecken widerfährt über die Ungeheuerlichkeit des Geschehenen mitten im Glanz der Schönheit der Dinge und Bilder dieses Raumes – erzwungen wird dieses Erschrecken nicht.

Wenn Museumsbesucher den großen Saal im zweiten Stock des Museums betreten, scheint dieser zunächst leer, falls nicht Sonderausstellungen diesen beabsichtigten Eindruck der Leere verstellen. In der Mitte des Raums wurde ein Karree von Stelltafeln errichtet, die zum Saal hin transparent wirken wie aus Glas. Begibt sich der Besucher in den von den Tafeln gebildeten Innenraum sieht er sich jedoch umgeben von Bildern, denn die gläsernen Tafeln sind Hologramme. Nach Maßgabe der Position, die der Besucher einnimmt, scheinen auf jeder Tafel Bilder auf, die - wie ephemere Dias - Fragmente ehemaligen Wiener jüdischen Lebens zeigen, eine Straßenansicht der Leopoldstadt, ein Porträt von Theodor Herzl, Ritualobjekte, Industrieerzeugnisse, alltägliche Gegenstände, - und sie verschwinden wieder, wenn der Besucher weiter geht, sich bückt oder reckt.


„Das Medium der Transmissionshologramme thematisiert (das) Verschwinden, thematisiert, dass sich Geschichte uns entzieht. Darüber hinaus stellt es den absoluten Ausgangspunkt des historischen Objekts ebenso in Frage in Frage wie das Konzept einer ‚wahren’ historischen Rekonstruktion. Keine Ausstellung kann deutlich machen, was österreichisch-jüdische Geschichte in ihrem ganzen Ausmaß tatsächlich war.“ (Felicitas Heimann-Jelinek) Das ‚Verschwinden’, das Ephemere der ‚Bilder’ des Hologramms verweigert auch eine phantasmatische an das Museum gerichtete Erwartung: dass es durch dauerhafte Sicherung, Fest-Stellung von Dingen dauerhaft Erinnerung sichern und aufbewahren könnte.


Jeglicher ‚Feststellung’ entzieht sich auch die Gestaltung des Raumes, die der Architekt  Martin Kohlbauer entwickelt hat. Sein Wohnliches und Inwendiges wird zum Kippen gebracht, wenn man den durch die Hologramme gebildeten Raum betritt, einen in den Parkettfußboden eingelassenen gepflasterten Platz. Dieser ist ein Innenraum, der einen Außenraum in einem Interieur bildet, ein Platz, dem die fließenden Bilder der Hologramme keine feste Begrenzung verleihen, der weniger durch die Sammlung von Bildern, sondern durch das Sich-Sammeln der Besucher definiert zu sein scheint. Selbst das memoriale Zeichen, das auf fast keinem Platz fehlen darf, bietet hier trotz seiner monumentalen Festigkeit nur neue Ambivalenzen. Der aus der  Mitte des Gevierts gerückte Block – der die Form- und Gedächtnisgelegenheit des Denkmals evoziert -  trägt eine Tafel mit einem der ältesten Aufzeichnungsmedien, eine chronologische Liste. Doch aus der lakonischen Aufzählung von zwischen 903 und 1994 ausgespannten Daten lässt sich keine zusammenhängende Erzählung rekonstruieren. Die räumliche und thematische Inszenierung der Hologramme stellt keinen Zusammenhang her, vielmehr sagen sie etwas aus über das Fehlen solchen Zusammenhangs, über die Abwesenheit der vernichteten Wiener jüdischen Kultur vor 1938, die sich dem Besucher nicht zu schönen Erinnerungsbildern verklärt. Die Hologrammbilder dieser Kultur reagieren auf seinen Blick, seine jeweilige und gegenwärtige Perspektive, tauchen mit diesem auf und verschwinden. Sie vermitteln zwischen dem, was das Museum zeigen und dem, was der Besucher sehen kann und bringen zur Anschauung, dass das Vergangene eine gegenwärtige Konstruktion des Museums und dass der Besucher an dieser Konstruktion beteiligt ist.

Im dritten Stock und im letzten Raum der Dauerausstellung schließlich wurde ein Schaudepot eingerichtet - eine fast den gesamten Raum einnehmende Vitrine, in der Dinge, vor allem Ritualobjekte, stehen. Sie wurden nach ehemaligen Funktionen zu Gruppen weniger geordnet als abgestellt. Es sind Reste von nach 1938 geborgenen aus individuellem und Gemeinde-Eigentum stammenden Gegenständen. Kein Text mit Erläuterungen zu ihrer Herkunft oder Festgebräuchen, zu ihrer Funktion oder ihrem Erhaltungszustand – manche Objekte zeigen Spuren gewaltsamer Deformation - entlastet den Besucher vor dieser so überwältigenden wie bedrückenden Menge von im Museum so offenkundig nutzlosen Gegenständen, die sich in der Menge gegen die Zumutung sperren, "jüdische Kultur" zu repräsentieren. Karg wie die Metallregale, die sie aufbewahren, ist auch das schriftliche Inventar, das bereitliegt und erlaubt, erste Spuren zu diesen Dingen aufzunehmen – mehr nicht. Der Raum und seine spröde Möblierung bilden keine Arche, in der die Gegenstände zur befriedeten musealen Ruhe gekommen wären, mehr einen Transitraum, in dem die Reise des Entzifferns und Lesens erst in Gang kommen muss.

Das Wiener Museum macht keinen Gebrauch von der "Geschichtslosigkeit von Gefühlen" (Werner Hanak), die Besucher werden nicht aufgefordert, sich in die Geschichte hineinzuversetzen, sondern sich bewusst zu werden, dass ihr Blick aus der Gegenwart und von außen auf die Geschichte im Museum gerichtet ist. Der Simulation solcher Gefühle, die andere Museen mit entsprechend aufgeladenen Inszenierungen zu fördern suchen, setzt die Dauerausstellung in Wien das Fremde und Befremdliche von Objekten und Inszenierungen entgegen. Sie verweist auf die Ferne der Vergangenheit und auf die Gegenwart des Museums, die sie zu einer gegenwärtigen Installation von Geschichte aufbereitet. Das Museum verzichtet damit sehr weitgehend auf die vorbehaltlose Ausübung seiner Autorität über Erzählweisen und Bedeutungskonstruktionen, indem es Objekte nicht als fraglose Garanten gesicherter Erkenntnisse präsentiert, sondern als Symbolisierungen, an denen Fragen und Antworten, vielleicht jede Sprechfähigkeit, immer wieder abgleiten und neu ansetzen müssen.

Mit diesem Verzicht auf verordnetes Gedenken und identifizierende Nachempfindung geht das Wiener Jüdische Museum einen Weg der Vermittlung, der Besucher auch irritieren und verunsichern kann. Dies geschieht gerade dort, wo dem Museum konventionell eine seiner vorrangigen Aufgaben, nämlich kollektive wie individuelle Identität zu verbürgen, zugemutet wird. Im Wiener Jüdischen Museum verweigert die Gestaltung und Inszenierung auch hier jede beruhigende oder abschliessende Gewissheit. So wurden zwei Hologrammstelen aus dem Geviert der übrigen Bildträger in einer Weise herausgerückt, dass sie eine Art Tor bilden. Sie zitieren und suggerieren die traditionelle Bedeutungsanmutung einer architektonischen Würdegeste, eine achsial-symmetrisch geordnete und hierarchisch gesteigerte Anlage. Doch diese Geste wird durch die Wahl der Bildsujets und deren Konfrontation unterminiert: Die Hologrammbilder von Israel- und Österreichfahne, mit Judensternen bedruckter Stoff und zwei Zitate von Jean Améry werden ineinandergespiegelt. Die Zitate sind Sätze über Identität und Heimat und über als Nummer tätowierte Identität, die ihre Träger zur Vernichtung bestimmte. Diese Spiegelung spiegelt und spielt mit der Ungewissheit und Gefährdung von individueller, nationaler, kollektiver “Identität“ und deren Fixierung in Bildern, Texten, Dingen. Sie spiegelt keine Ähnlichkeiten zwischen dem, was sie zeigt und den BesucherInnen, diese können sich darin nicht erkennen. Diese verweigerte Identifizierung wirkt zurück auf die Besucher als Infragestellung der eigenen individuellen und kollektiven Selbstgewissheit, als Kippen der Identität im Blick auf kippende Identitätsprojektionen in den Hologrammbildern.

Hologramme sind keine Mahnmale, sie sind Antimonumente in reiner Form: angewiesen auf den Blick der Museumsbesucher und ihre Bereitschaft zu erinnern – sonst findet Erinnerung nicht statt. Die entgleitenden Bilder führen vor, was Erinnerung an das Geschehene nicht einholbar und nicht nachvollziehbar machen kann, sie verknüpfen Wissen und Nichtwissen. Sie bewahren die Erinnerung an Tod und Vernichtung, aber lösen sie zugleich aus der Überwältigung durch den Entzug ihrer Materialität. Die Besucher sehen und erfahren sich als an dieser Vermittlung von Geschichte und Erinnerung Beteiligte, und diese Weise der Vermittlung lässt ihnen auch Raum für die den Rundgang immer begleitende Wahrnehmung der Gegenwart des Hauses, seiner stadtzugewandten Offenheit und Transparenz. Das Museum ist kein statischer Ort der Bewahrung von Vergangenheit, die Spuren und Lebenszeugnisse der ehemaligen jüdischen Bewohner Wiens in den Bildern der Hologramme, die Häuser, Straßen und Plätze Teitelsbaums und anderer ermöglichen die Wahrnehmung der historischen Veränderungen auch des gegenwärtigen Raumes. Vom Museum ausgehend, kann sich der Blick auch auf die kollektiven und individuellen Geschichten in dieser Stadt, auf die vergangene Geschichte der Interaktion von Juden und Nichtjuden und auf deren Bedeutung für die heutigen Bewohner oder Reisenden, also die Museumsbesucher selbst, verändern.

Die im doppelten Wortsinne reflektierende/reflexiveVermittlung von Geschichte im Jüdischen Museum Wien stellt die institutionelle und konventionelle Autorität des Museums infrage, nimmt sie zurück, vermindert sie, und fördert damit neue Wahrnehmungen, die Bereitschaft zum Nachdenken über eigene Positionen. Die Ausstellung gibt die Gegenstände nicht als Geschichten aus, sondern zeigt sie als gegenwärtige Schatten vergangener Geschichte. Diese Geschichte wird nicht durch Anwesenheit, sondern durch ihr Fehlen und Fehl-am-Platz sein im Museum bezeugt und bedarf immer neuer und gegenwärtiger Erzählungen und Aneignung durch die Besucher. BesucherInnen des Jüdischen Museums in Wien haben nach dem Rundgang durch die Dauerausstellung keinen “Gesamtüberblick“ über Geschichte, Religion, Kultur “der Juden“, wie manche ihn von der Ausstellung eines Museums erwarten zu können meinen  – aber sie können erkennen und unterscheiden zwischen dem, was sie im Museum gesehen haben und dem, was wirklich geschehen ist und im Museum keinen Raum finden kann, zwischen dem, was vergangen und dem, was gegenwärtig ist, zwischen dem, was gewusst und dem, was nicht gewusst und vermittelt werden kann. Vermittelt wird ihnen, dass Geschichte und Gedächtnis weder institutionell noch individuell verfügbar sind, dass sie auf ihre Fragen und Nachfragen und die Bereitschaft, sich den Zumutungen des Museums auszusetzen, angewiesen bleiben. Und die Ausstellung verweist sie auf die Möglichkeit, auch solche Fragen zu stellen, die nicht durch Objekte und Informationen als schnelle Antworten zum Schweigen gebracht werden können.

Alle Fotografien: Gottfried Fliedl. Sie können bei Nennung des Namens gerne alle Fotos herunterladen und weiterverwenden.


Siehe auch: Das wahre Bild der Vergangenheit, sowie zum Abbruch der Hologramme ein kurzes Statement und bilder und einen Kommentar von Sabine Offe dazu hier.

Donnerstag, 24. Juni 2010

Neuerscheinung - In eigener Sache



Eben erschienen: Gottfried Fliedl, Gabriele Rath, Oskar Wörz (Hg.): Der Berg im Zimmer. Zur Genese, Gestaltung und Kritik einer innovativen kulturhistorischen Ausstellung. transcript. Bielefeld 2010
148 S., kart., zahlreiche farbige Abbildungen, 21,80 € ISBN 978-3-8376-1248-6

In dem Band wird die Ausstellung vorgestellt, der Produktionsprozess erläutert, in drei Evaluationen analysiert und mit je einem historischen, alpinistischen und psychoanalytischen Beitrag zur "Unverständlichen Leidenschaft" kontextualisiert.

Zur Ausstellung und ihren Auszeichnungen siehe den Post dazu.

Montag, 15. März 2010

Museumsanalyse. Eine Aufforderung zur Diskussion

Mit freundlicher Erlaubnis von Markus Walz und H-Museum veröffentliche ich hier die Rezension zum Buch von Joachim Baur (Hg.): Museumsanalyse. Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes. (Bielefeld: transcript, 2010. Kart., 287 S., ISBN 3-89942-814-5; EUR 26,80.)
Ich mache das, weil mir die Publikation gewichtig und ambitioniert erscheint und mit der Hoffnung auf eine Verbreiterung der Diskussion über eine einzelne Rezension hinaus.
Die deutschsprachige Museologie ist stark ‚angewandt‘ orientiert, das heißt an engen und eingrenzbaren fachlichen Fragen, auf die praxisanleitend reagiert wird und das meist ohne bezüglich des gesellschaftlichen, politischen, institutionellen Kontextes theoretisch besonders ambitioniert zu sein.
Ich unterschätze den Wert solcher Publikationen bis hin zum Handbuch oder zur ‚Anleitung‘ nicht, bedaure aber, daß theoretische Reflexion vergleichsweise wenig betrieben wird – die Namen einschlägiger Autoren und Publikationen sind recht schnell aufgezählt -, und auch kaum die Museumspraxis erreicht. Das mag aber keine Besonderheit der deutschsprachigen Länder sein.
Geschuldet ist das auch einem epidemisch grassierenden Aus- und Weiterbildungs(un)wesen, das aus institutionsegoistischer Perspektive schmalspurig entworfen nur sehr ausgedörrte Ansprüche verfolgt, ohne den enormen Reichtum transdisziplinärer Forschung und Diskussion zum Museum auch nur annähernd zu rezipieren.
In einer solchen Situation hat mich ein Buch neugierig gemacht, daß die Ansprüche eines ‚Readers‘ hat, dessen Grenzen zwar offensichtlich sind und von Markus Walz auch benannt werden, der sich aber doch über weite Strecken dem museologischen Reflexionswissen zuwendet und mit dem Titel „Museumsanalyse“ etwas programmatisch vorgibt, von dem ich nicht sofort und ausschließlich von einem einzigen Buch erschöpfende Auskunft erwarte.
Wie auch immer – ich würde es begrüßen, wenn um dieses Buch herum und seinen Anspruch, ‚ein neues Forschungsfeld‘ zu erschließen, eine Debatte zustande käme.

Gottfried Fliedl


Rezension von Markus Walz, Leipzig

Der Herausgeber ruft mit diesem Band einen neuen Forschungsansatz für museumsbezogene Studien aus: Da er der (theoretischen) Museologie eine
„philosophisch-totalisierende Herangehensweise“(8) und damit indirekt
Deduktivität unterstellt, soll sich „Museumsanalyse“ dadurch abgrenzen, dass sie von Fallstudien ausgeht, von denen sie auf „übergreifende gesellschaftliche, politische und kulturelle Verhältnisse“ schließen will (8).

Joachim Baur, „Was ist ein Museum? Vier Umkreisungen eines widerspenstigen Gegenstands“ bemüht sich, den Gegenstand Museum „hinreichend dingfest“ zu machen (15): zunächst in Typisierungsversuchen all dessen, was Museum heißt, anschließend etymologisch und begriffsgeschichtlich; dann mit der historischen Herleitung des heute als Museum bezeichneten Institutionentyps und abschließend eine Durchsicht verschiedenster Definitionsansätze der Gegenwart. Der Autor schlägt gut belesen Sichtschneisen in das umfangreiche Material, ohne zu einem bündigen Ergebnis zu gelangen, sodass man über den Widerspruch hinwegsehen mag, dass das (früh-) neuzeitliche Verständnis von Museum als eine enzyklopädisch angelegte Wissenssammlung im medialen und dinglichen Sinn zwar vorgetragen wird (20 f.), dennoch das British Museum oder das Museum Fridericianum naiv als Museen im modernen Sinn beansprucht werden (25).

Sharon Macdonald, „Museen erforschen. Für eine Museumswissenschaft in der Erweiterung“ (Zweitveröffentlichung in deutscher Übersetzung) liefert einen Überblick dessen, was in den britischen Museum Studies „New Museology“ heißt: die Verschiebung des Forschungsinteresses von Museumsinterna auf Kontexte – diejenigen, denen die Musealien entstammen, diejenigen der Museumsarbeit und diejenigen, aus denen heraus das Museum und seine Leistungen wahrgenommen werden – und deren perspektivische Umkehrung auf kulturelle Praxen, die als museumstypisch gelten, aber außerhalb dieser Institution Raum greifen.

Thomas Thiemeyer, „Geschichtswissenschaft: Das Museum als Quelle“ bietet eine kurze Verortung mit den Koordinaten Geschichte, Geschichtskultur, Tradition, Überrest und Lieu de Mémoire, bevor – ganz im Sinn eines Leitfadens für Fachfremde oder quer Eingestiegene – Methodenbausteine vorgelegt werden, zu denen man sich eine Selbstverortung in der historischen Sozialforschung anhand der bevorzugten Literatur (Lamnek) hinzudenken muss, die aber auch lehrbuchhaft zur Quellenkritik (von Droysen bis Brandt) leiten.

Eric Gable, „Ethnographie: Das Museum als Feld“ verortet sich in der Cultural Anthropology, deren jüngere Fachgeschichte mit Blick auf die Feldforschungmethodik aufgefaltet wird, bevor Fallbeispiele ethnographischer Beforschung von Ausstellungen, speziell reflexiver Präsentationen zu kolonialgeschichtlichen Themen, vorgestellt werden. Gable kritisiert ferner das Fehlen einer ethnographischen Publikumsforschung, die klären könnte, was die Gäste während des Museumsaufenthalts tatsächlich unternehmen, und schließt mit einer Selbstreflexion zu eigenen Feldforschungen im Histotainment-Park Colonial Williamsburg.

Jana Scholze, „Kultursemiotik: Zeichenlesen in Ausstellungen“ charakterisiert kurz das Anliegen der Semiotik und deren Sichtweise von Ausstellungen, bevor sie semiotisch orientierte Ausstellungsanalysen referiert: zunächst von Mieke Bal, anschließend von Scholze selbst. Im Gegensatz zu Thiemeyer wird kein Verfahrensleitfaden angeboten, sondern eher ein ausschnitthaftes Ergebnisreferat dieser zweifellos wegweisenden Literatur. Bedauerlich erscheint der Verzicht auf Untersuchungen Dritter, die Scholzes Instrumentarium bereits aufgegriffen haben, sodass nur eine Zusammenfassung von „Medium Ausstellung. Lektüren musealer Gestaltung“(2004) ohne neue Eindrücke vorliegt.

Heike Buschmann, „Geschichten im Raum. Erzähltheorie als Museumsanalyse“ stellt Begriffe und Analyseelemente der Erzähltheorie vor und illustriert deren Anwendbarkeit auf Ausstellungen; auf eine Anleitungshaltung wird hier ebenso verzichtet wie auf Ergebnisreferate (die einschlägige Dissertation der Autorin ist noch nicht abgeschlossen).

Volker Kirchberg, „Besucherforschung in Museen: Evaluation von Ausstellungen“ bietet einen historischen Rückblick sowie eine Typologie der Publikumsforschung in Museumsausstellungen an, problematisiert den Fokus auf Lernerfolgskontrolle und Verwerfungen im Selbstverständnis der Museumsfachleute durch aktuelle Tendenzen zur konstruktivistischen Erziehungswissenschaft. Im Überblick wird der Hang zu deskriptiven Studien herausgestellt und auf einige relevante Ergebnisse zur komplexen Grundlage von Lernerfolgen aufgrund von Ausstellungsbesuchen verwiesen. Eine gewisse Endlichkeit zeigt dieser kenntnisreiche Beitrag durch seine (unausgesprochene) Position in der Kultursoziologie, während in der Publikumsforschung auch betriebswirtschaftliche Marktforschung, Sozialgeographie und Umweltpsychologie agieren.

Katrin Pieper, „Resonanzräume. Das Museum im Forschungsfeld Erinnerungskultur“ referiert relevante Literatur zu den Begriffen Erinnerung, Gedächtnis, kollektives und kulturelles Gedächtnis sowie Erinnerungskultur und bezeichnet Museen als Indikatoren, Generatoren, Motoren und Produkt von Erinnerungskultur – zur Begründung dafür, Museen als Beobachtungsgelegenheit erinnerungskultureller Tendenzen, als Widerspiegelungen gesellschaftlicher, politischer Geschichtsbilder zu nehmen. Zur Vorgehensweise wird vorgeschlagen, ein Thema diachron oder in verschiedenen erinnerungskulturellen Kontexten synchron zu vergleichen, indem Texte über Museen (nicht Museen oder deren Leistungen) diskursanalytisch untersucht werden.

Anke te Heesen, „Objekte der Wissenschaft. Eine wissenschaftshistorische Perspektive auf das Museum“ akzentuiert zunächst das aktuelle Interesse für Universitätssammlungen einerseits, frühneuzeitliche Kunstkammern andererseits, bevor sie sich ganz auf Universitätssammlungen, also nur einen Ausschnitt des Beitragstitels, konzentriert. Das Interesse gilt „neuen Konstellationen“ in dem Sinn, dass im Zuge der Digitalisierung überholte Lehrmittel als Quasi-Musealien anfallen und die historisierende Tendenz von Universitätssammlungen verstärken, die ihrerseits einem wachsenden Rechtfertigungs- und Veröffentlichungsdruck unterliegen, während seriell erzeugte Sammlungsstücke durch ihre Belangarmut diesen Interessen nicht dienen. Wegen ihrer Aktualität und Historizität werden Universitätssammlungen als wertvolle Visualisationen des rasanten Wandels in der Wissenschaftskultur aufgefasst.

Volker Kirchberg, „Das Museum als öffentlicher Raum in der Stadt“ fasst Kirchbergs Werk „Gesellschaftliche Funktionen von Museen. Makro- meso- und mikrosoziologische Perspektiven“(2005) knapp zusammen. Hanna Murauskaya, Giovanni Pinna und Maria Bolaños, „Internationale Perspektiven der Museumsforschung“ bietet auf jeweils vier Druckseiten knappe Überblicke zur Situation und Literaturlage der Museologie, Museum Studies oder zu Museumsbezügen anderer Studienrichtungen in Frankreich, Italien, Russland und Spanien; die Einleitung motiviert diese eigenwillig gesetzten Schlaglichter als „Gesten“ gegenüber den international vielfältigen Ansätzen und der weder deutsch- noch englischsprachigen Literatur.

Im Überblick zeigen sich drei markante Begrenztheiten dieses Bandes. Zunächst einmal Anglophilie, die bis dahin reicht, Johannes Amos Comenius auf Englisch zu zitieren (Baur, 21); überwiegend wird auf englischsprachige Literatur rekurriert, ohne einen britisch-nordamerikanischen Fokus signalisiert zu haben. Probleme bereitet diese Haltung bei unterscheidbaren Begriffsbedeutungen. Die Nouvelle Muséologie wird als Ahnin der New Museology vereinnahmt und durch die egalisierende Übersetzung als Neue Museologie nicht unterschieden (Macdonald, 50; Kirchberg, 254), ohne dass eine Traditionslinie aufgezeigt wäre oder enge konzeptuelle Gemeinsamkeiten aufschienen; die falsche Datierung (50: angeblich in den späten 1970er-Jahren aufgekommen) ist darauf zurückzuführen, dass nur ein einzelner englischer Artikel als Literaturbasis diente.

Zweitens denken etliche der Beitragenden vorrangig an Geschichtsmuseen, nicht an die Vielfalt des Museumswesens; gelegentlich wird die Grenzüberschreitung zu den Kunstmuseen halbherzig erwogen (Pieper, 204 f.) oder als wenig zweckmäßig abgelehnt (Buschmann, 150) – andere Museumstypen bleiben unerwähnt. Inspirationen für naturwissenschaftliche Museen sucht man – außer der Standortbestimmung von Universitätssammlungen – vergebens.

Drittens ist zu bemängeln, dass zwar mehrere Beiträge das Wort Museumsanalyse verwenden, aber selten deutlich wird, dass Museen Institutionen sind, die sammeln, bewahren, erforschen, ausstellen und vermitteln: So spricht Pieper zwar umfassend von „Museum“, interessiert sich aber vornehmlich für Kommunikationsleistungen gesellschaftlicher Gruppen (203) und fasst das Museum selbst als Produkt (statt als Produzenten verschiedener Leistungen) auf (201); für Thiemeyer ist Museum ein Synonym für Dauerausstellung (80), konsequenterweise beleuchtet „historische Museumsanalyse“ vergangene Ausstellungen (81); Kirchberg und Scholze signalisieren schon im Beitragstitel, sich nur mit Ausstellungen zu befassen.

Damit lässt sich zusammenfassen, dass keine Handreichung zur Museumsanalyse vorliegt, wohl aber ein über bündige Beiträge leicht gemachter Einstieg in neuere Ansätze, Ausstellungen wissenschaftlich zu untersuchen; da zwei Beiträge auf noch laufenden Dissertationsprojekten basieren (Buschmann, Thiemeyer) bieten sich vorgreifende Einblicke in Forschungsdesigns. Eine vorbehaltlose Empfehlung verdient dieser Band nicht, da die klare Ausrichtung auf Bedarfe einer Zielgruppe fehlt: Wer den auf dem hinteren Buchumschlag und in der Einleitung angekündigten „Werkzeugkasten“ erwartet, wird von Thiemeyer bedient, ansonsten auf andere Literatur verwiesen; Historikerinnen und Historiker werden von Thiemeyer und Pieper unterfordert; mit gängigen Neuerscheinungen der letzten Jahre vertraute Kuratorinnen und Kuratoren erfahren bei Scholze oder Kirchberg nichts Neues; wer hereinschnuppern oder quer einsteigen möchte und auf die Fragmentarik von Readern gefasst ist, wird gut fundierte Einstiegsmöglichkeiten, aber auch begriffliche Nachlässigkeit (7: „Besucherzahlen“ statt richtig Besuchszahlen) und sehr uneinheitlichen Zitierweisen vorfinden (vielfach nur Verweise auf Werke, ohne Seitenzahl; Zitate nach Zitaten; der Herausgeber selbst setzt S. 37 voraus, dass alle wissen, wo „Adornos viel zitiertes Diktum“ nachzulesen ist).

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Zweitveröffentlichung mit freundlicher Erlaubnis von Prof. Walz (E-Mail: walz@fbm.htwk-leipzig.de) und H-Museum.

Copyright (c) 2010 by H-MUSEUM (H-Net), all rights reserved.
Von: H-Net Network for Museum Professionals [H-MUSEUM@H-NET.MSU.EDU] im Auftrag von H-Museum (Marra) [marra@MUSEUMSLIST.NET]
Gesendet: Donnerstag, 04. März 2010 21:21