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Das rostrot gefärbelte Haus links fand Orhan Pamuk auf seinem täglichen Weg, den er mit seiner Tochter zur Schule zurücklegte. Es ist so klein, daß man die Eintrittskarte auf der Straße kauft, die einem durch ein vergittertes Fenster (dort wo die Tafel steht) gereicht wird. Für die Einheimischen ist es inzwischen "Füsüns Haus"... |
Gottfried Fliedl Das Museum der Unschuld
1
Die Bekanntheit des Istanbuler Museum der Unschuld verdankt sich sicher
der Prominenz seines Schöpfers, des Schriftstellers und
Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk. Aber sein Museum ist weit mehr als ein
weiteres Autorenmuseum, das seine Besonderheit der Kreativität und Phantasie
einer einzelnen Person verdankt. Das Museum
der Unschuld hat als Experiment begonnen, die herkömmlichen Strukturen der
Institution durcheinander wirft. Es ist ein work in progress, Pamuk arbeitet an
ihm ständig weiter, läßt dokumentarische Filme drehen, betreibt eine
Facebook-Seite, hat ein kommentierendes Buch geschrieben, gibt zahllose
Interviews und veröffentlicht und bastelt ständig an einer theoretischen Kommentierung
weiter.
In dieser Zeit beginnt Kemal die
Unerreichbarkeit seiner Geliebten fetischistisch zu kompensieren. Er sammelt und
stiehlt gelegentlich sogar alles, was mit ihr in Berührung gekommen ist, und
wenn es die – schließlich über viertausend - Stummeln der von ihr gerauchten
Zigaretten sind. Als Besucher des Museums werden wir sie im Eingangsbereich als
Tableau finden - fein säuberlich mit Hand beschriftet.
Die Ehe von Füsun löst sich langsam
auf und die formelle Scheidung ermöglicht Kemal und Füsun an eine
Wiederaufnahme ihrer Beziehung und an Heirat zu denken. Gleich am Beginn ihrer
Hochzeitsreise kommt es zu einem Autounfall, bei dem Füsun stirbt und Kemal
schwer verletzt wird.
In den letzten Abschnitten des Romans
wird also einerseits rückblickend erläutert, wie es zu dem Buch gekommen ist
und vorausblickend, daß es als Erzählung Grundlage eines Museums werden wird,
ja sogar wörtlich ein „Katalog“, in dem sogar schon eine Eintrittskarte
abgedruckt ist.
Ursprünglich wollte Pamuk das
Erscheinen des Buchs mit der Eröffnung des Museums zeitlich zusammenfallen
lassen, es war von Anfang an ein
Projekt, das durch verschiedene Lebensumstände zeitlich auseinandergerissen
wurde.
2
Vor allem in einer Art von Kunst- und
Wunderkammer, in einem sorgfältig – von Pamuk selbst - in Vitrinenschränken
inszenierten Ensembles von Objekten, die kleine Geschichten erzählen oder die
Phantasie des Betrachters anregen, selbst welche zu erfinden, die etwas von der
Stadt Istanbul, ihren Bewohnern, ihrem Alltag erzählen. Auch für jemanden der
nur das Museum besucht, ohne den Roman zu kennen, „funktioniert“ das Museum als
komplexe und verschachtelte Erzählapparatur. Bespielt werden die Schaukästen
mit Objekten, die Pamuk im Laufe seines Lebens auf Flohmärkten gefunden, in
Trödelläden gekauft hat.
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Die Vitrine, in der Füsüns Ohrring gezeigt wird |
Als überdeterminiertes Objekt – es steht als Souvenir
am Anfang und am Ende der Beziehung - hat das Objekt in der Museumsvitrine eine
Beglaubigungsfunktion wie kaum ein anderes im Museum der Unschuld. Aber wenn
man das Kleingedruckte ganz am Ende des Buches liest, das Pamuk als Erläuterung
und Begleitung veröffentlicht hat,
findet man dort eine umfangreiche Liste von „Danksagungen“, darunter den
Hinweis, daß ein gewisser Fait Tina Füsüns Ohrring hergestellt hat. Das
heißt, daß ein fiktiver Gegenstand eine fiktive Geschichte beglaubigt. In einem
herkömmlichen Museum wäre das undenkbar, der Ring wäre eine Fälschung, der die
Geschichte – und damit das Museum als Ganzes -, unglaubwürdig machte. Vom Museum
erwarten wir, daß echte Dinge wirkliche Geschichten erzählen. Das ist, auch
wenn es leicht zu erschüttern ist, immer noch ein Glaubenssatz, den ich eben
zufällig in einer Ausstellungsrezension unübertrefflich selbstsicher so
formuliert finde: “Ein Museum (…) ist eine Autorität, deren Geltung auf
Echtheit und wissenschaftlichen Urteilen gründet.” Das wird im Museum der Unschuld auf
den Kopf gestellt.
3
Museen, die sich wie das Museum der Unschuld im Grenzbereich von
Realität und Fiktion bewegen, gibt es auch anderswo. Das ganz anders konzipierte
Museum of Jurassic Technology in Los Angeles von David Wilson ist zugleich Hommage an
das Museum wie dessen Kritik. So etwas hat Pamuk nicht im Sinn. Ihm geht es um
das Ausloten der musealen Erinnerungsfähigkeit. Das Konzept ist doppelt paradox:
Es geht um eine einzigartige Erinnerung, um die Geschichte eines individuellen
Paares, die aber über das Museum öffentlich geteilt wird. Kemal möchte, daß
seine persönliche und lebendige Erinnerung im technischen Gedächtnis einer
Sammlung bewahrt wird – was allenfalls nur für ihn gelten kann, während Pamuk
vom öffentlichen Museum und von uns Besuchern verlangt, sich in diese
Geschichte einzufühlen, sie zu teilen.
Kemals „Museologie“ offenbart in ihrer
obsessiven Eigentümlichkeit ein Strukturmerkmal des Sammelns, nicht des
Musealen. Denn er widmet sich ausschließlich dem biografische und sentimentale
Sammeln, „das jeden Gegenstand mit einer Erinnerung verbindet.“ Jeder Gegenstand soll das liebende
Eingedenken, das jemand mit einem anderen verbindet, ermöglichen. Das gilt hier
aber nur für Kemal und Füsün. Dieses ist als strikt individuell-einzigartiges
aber nicht sozialisierbar weil es nicht teilbar und übertragbar ist. Es ist
nicht „museumsfähig“. Aber Kemals strikt private Dinge
machen auch etwas mit uns insofern sie an unsere Liebe, unseren Schmerz, unsere
Trauer erinnern.
Pamuk beschreibt die fundamentale
Lebensfeindlichkeit des Museums präzise und bei der Wahl für den Standort des
Museums entscheidet er sich sogar, ein lebendige Dasein zu beenden, um das
Museum einzurichten zu können. Er redet nämlich seiner Tante ein, daß sie ihm
ihr Haus verkaufen also auch nicht weniger als verlassen soll. Es ist das Haus,
in dem Kemal seine jahrelangen Besuche abstattete. Seine Tante wehrt sich:
„Kemal, ich bring es nicht übers Herz! All die Erinnerungen!“. Und Kemal
erwidert: „Aber wir machen doch das Haus gerade zu einem Ort, an dem wir unsere
Erinnerungen ausstellen, Tante Nesibe.“
Ich möchte diese Überlegungen nicht als
Kritik gegen das Museum gewendet wissen. Pamuk öffnet mit dem Museum eine
poetische Wunderkammer, einen Reflexionsraum, in dem wir uns über unsere
Erinnerung und unser Begehren sowie die Weisen, wie wir damit umgehen und das
Vergangene festhalten, klar besinnen können.
An
prominenter Stelle finden wir im Museum der Unschuld einen Text von Samuel
Taylor Coleridge, der auch dem Roman als Motto vorangestellt ist: "Wenn
ein Mensch im Traum das Paradies durchwandert, und man gäbe ihm eine Blume als
Beweis, dass er dort war, und er fände beim Aufwachen diese Blume in seiner
Hand - was dann?"