Museum der Unschulkd. Istanbul |
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Mittwoch, 28. Juni 2017
Mittwoch, 17. Mai 2017
Orhan Pamuks Museum der Unschuld in Istanbul
Gottfried Fliedl Das Museum der Unschuld
1
Die Bekanntheit des Istanbuler Museum der Unschuld verdankt sich sicher
der Prominenz seines Schöpfers, des Schriftstellers und
Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk. Aber sein Museum ist weit mehr als ein
weiteres Autorenmuseum, das seine Besonderheit der Kreativität und Phantasie
einer einzelnen Person verdankt. Das Museum
der Unschuld hat als Experiment begonnen, die herkömmlichen Strukturen der
Institution durcheinander wirft. Es ist ein work in progress, Pamuk arbeitet an
ihm ständig weiter, läßt dokumentarische Filme drehen, betreibt eine
Facebook-Seite, hat ein kommentierendes Buch geschrieben, gibt zahllose
Interviews und veröffentlicht und bastelt ständig an einer theoretischen Kommentierung
weiter.
Grundlage des Projektes ist der dem
Museum gleichnamige Roman, eine Liebesgeschichte.
Der aus gutbürgerlichem Haus stammende Kemal lernt bei der Suche nach einem
Geschenk für seine anstehende Verlobung mit Sibil eine Studentin kennen, die
als Verkäuferin arbeitet. Die entstehende leidenschaftliche Beziehung kann
Kemal nicht davon abhalten, die Verlobung mit Sibil zu feiern. Füsün
verschwindet und Kemals leidenschaftliche Sehnsucht treibt ihn durch Istanbul
auf der Suche nach ihr, die etwa ein Jahr dauert. Er trifft sie, die inzwischen
verheiratet ist, von nun an in ihrer Wohnung, um der Wahrung gesellschaftlicher
Konvention willen aber immer nur in Begleitung. Fast acht Jahre lang und bis zu
viermal in der Woche teilt er mit ihr und Verwandten den Alltag.
Ausschnitt aus dem Stadtplan von Istanbul mit all jenen Orten, an denen Kemal auf seiner Suche nach Füsün sie zu sehen glaubte |
Gleich nahe dem Eingang des Museums: Das Tableau mit den aberhunderten Zigarettenstummeln Füsüns |
In dieser Zeit beginnt Kemal die
Unerreichbarkeit seiner Geliebten fetischistisch zu kompensieren. Er sammelt und
stiehlt gelegentlich sogar alles, was mit ihr in Berührung gekommen ist, und
wenn es die – schließlich über viertausend - Stummeln der von ihr gerauchten
Zigaretten sind. Als Besucher des Museums werden wir sie im Eingangsbereich als
Tableau finden - fein säuberlich mit Hand beschriftet.
Die Ehe von Füsun löst sich langsam
auf und die formelle Scheidung ermöglicht Kemal und Füsun an eine
Wiederaufnahme ihrer Beziehung und an Heirat zu denken. Gleich am Beginn ihrer
Hochzeitsreise kommt es zu einem Autounfall, bei dem Füsun stirbt und Kemal
schwer verletzt wird.
Um zu genesen und um zu verarbeiten
reist er und lernt Museen kennen, kleine Museen, das heißt für ihn, Museen
kleiner Leute, die nicht in die große Geschichte und Politik involviert sind
und insofern „unschuldig“. Er entdeckt, daß seine Sammlung das Potential hat,
ein solches „unschuldiges Museum“ zu werden. „Ich begriff nun, dass das wahre
Haus eines echten Sammlers sein eigenes Museum sein musste.“
Und, inzwischen
zwanzig Jahre nach seiner Genesung, beauftragt er einen ihm bekannten
Schriftsteller, Orhan Pamuk, der seinerzeit schon Gast bei der Hochzeit Kemals
mit Sibil gewesen war, die Geschichte der Liebesbeziehung zu Füsun
aufzuzeichnen.
"...das wahre Haus eines echten Sammlers..." |
In den letzten Abschnitten des Romans
wird also einerseits rückblickend erläutert, wie es zu dem Buch gekommen ist
und vorausblickend, daß es als Erzählung Grundlage eines Museums werden wird,
ja sogar wörtlich ein „Katalog“, in dem sogar schon eine Eintrittskarte
abgedruckt ist.
Ursprünglich wollte Pamuk das
Erscheinen des Buchs mit der Eröffnung des Museums zeitlich zusammenfallen
lassen, es war von Anfang an ein
Projekt, das durch verschiedene Lebensumstände zeitlich auseinandergerissen
wurde.
2
Die Spiegelung im Buch - ein Roman entpuppt sich
als museale Erzählung, die in der Realisierung des Museums fortgeführt und
vertieft wird – wird durch das Museum noch komplizierter. Was als Roman Fiktion
ist, aber wie eine dokumentarische Aufzeichnung eines tatsächlich gelebten
Lebens zur Grundlage der Ausstellung wird, wird im Museum durch die
Objektesembles definitiv beglaubigt. Das Museum legt uns mit den ausgestellten konkreten
Dingen nahe, daß hier eine Wahrheitsgeschichte erzählt wird. Im obersten
Stockwerk wird diese „Authentifizierung“ auf die Spitze getrieben, wenn wir das
Bett sehen dürfen, auf dem Kemal lag und dem auf dem neben dem Bett stehenden
Stuhl sitzenden Orhan Pamuk seine Geschichte erzählte.
Pamuk bemerkt, daß sie,
wenn er müde war, die Plätze getauscht haben, ein Fingerzeig für die Ironie,
die im Umgang des Autors mit den Realitätsebenen liegt und in der
Vertauschbarkeit von Kemal und Pamuk, die offenbar viel gemeinsam haben. Man
läßt uns wissen, in der Umgebung würde das Museum „Füsüns Haus“ genannt. Also,
wo sind wir denn hier? Im Roman? Im Museum? Oder in einer dritten Geschichte
irgendwo dazwischen?
Das Bett Kemals, der Ort, wo er Pamuk seine Geschichte erzählte |
Vor allem in einer Art von Kunst- und
Wunderkammer, in einem sorgfältig – von Pamuk selbst - in Vitrinenschränken
inszenierten Ensembles von Objekten, die kleine Geschichten erzählen oder die
Phantasie des Betrachters anregen, selbst welche zu erfinden, die etwas von der
Stadt Istanbul, ihren Bewohnern, ihrem Alltag erzählen. Auch für jemanden der
nur das Museum besucht, ohne den Roman zu kennen, „funktioniert“ das Museum als
komplexe und verschachtelte Erzählapparatur. Bespielt werden die Schaukästen
mit Objekten, die Pamuk im Laufe seines Lebens auf Flohmärkten gefunden, in
Trödelläden gekauft hat.
Jedem Romankapitel ist eine Vitrine gewidmet |
Die Vitrine, in der Füsüns Ohrring gezeigt wird |
3
Museen, die sich wie das Museum der Unschuld im Grenzbereich von
Realität und Fiktion bewegen, gibt es auch anderswo. Das ganz anders konzipierte
Museum of Jurassic Technology in Los Angeles von David Wilson ist zugleich Hommage an
das Museum wie dessen Kritik. So etwas hat Pamuk nicht im Sinn. Ihm geht es um
das Ausloten der musealen Erinnerungsfähigkeit. Das Konzept ist doppelt paradox:
Es geht um eine einzigartige Erinnerung, um die Geschichte eines individuellen
Paares, die aber über das Museum öffentlich geteilt wird. Kemal möchte, daß
seine persönliche und lebendige Erinnerung im technischen Gedächtnis einer
Sammlung bewahrt wird – was allenfalls nur für ihn gelten kann, während Pamuk
vom öffentlichen Museum und von uns Besuchern verlangt, sich in diese
Geschichte einzufühlen, sie zu teilen.
Surrealistisch anmutende Tableaus, Reliquienschrein und Asservatenkammer von Beweisstücken in einem - die Vitrinen des Museums der Unschuld |
Kemals „Museologie“ offenbart in ihrer
obsessiven Eigentümlichkeit ein Strukturmerkmal des Sammelns, nicht des
Musealen. Denn er widmet sich ausschließlich dem biografische und sentimentale
Sammeln, „das jeden Gegenstand mit einer Erinnerung verbindet.“ Jeder Gegenstand soll das liebende
Eingedenken, das jemand mit einem anderen verbindet, ermöglichen. Das gilt hier
aber nur für Kemal und Füsün. Dieses ist als strikt individuell-einzigartiges
aber nicht sozialisierbar weil es nicht teilbar und übertragbar ist. Es ist
nicht „museumsfähig“. Aber Kemals strikt private Dinge
machen auch etwas mit uns insofern sie an unsere Liebe, unseren Schmerz, unsere
Trauer erinnern.
Kemals Vermächtnis |
Pamuk beschreibt die fundamentale
Lebensfeindlichkeit des Museums präzise und bei der Wahl für den Standort des
Museums entscheidet er sich sogar, ein lebendige Dasein zu beenden, um das
Museum einzurichten zu können. Er redet nämlich seiner Tante ein, daß sie ihm
ihr Haus verkaufen also auch nicht weniger als verlassen soll. Es ist das Haus,
in dem Kemal seine jahrelangen Besuche abstattete. Seine Tante wehrt sich:
„Kemal, ich bring es nicht übers Herz! All die Erinnerungen!“. Und Kemal
erwidert: „Aber wir machen doch das Haus gerade zu einem Ort, an dem wir unsere
Erinnerungen ausstellen, Tante Nesibe.“
Füsüns Spuren |
Pamuk
verleugnet die Widersprüche, damit „...dieser Traum, aus dem man sich nicht befreien kann“ nicht zu Ende geht. Doch
weil auch die Trauerarbeitet nie beendet, das über Objekte vermittelte
fetischistische Begehren nie stillgestellt werden wird, kann weder Kemal noch
Pamuk sich daraus befreien.
Pamuk hat das Museum der Unschuld ein „Medium der Feier des individuellen Lebens“ genannt aber im selben Atemzug auch einbekannt, daß es ein „Mausoleum und Monument der individuellen Liebe“ ist.
Pamuk hat das Museum der Unschuld ein „Medium der Feier des individuellen Lebens“ genannt aber im selben Atemzug auch einbekannt, daß es ein „Mausoleum und Monument der individuellen Liebe“ ist.
Ich möchte diese Überlegungen nicht als
Kritik gegen das Museum gewendet wissen. Pamuk öffnet mit dem Museum eine
poetische Wunderkammer, einen Reflexionsraum, in dem wir uns über unsere
Erinnerung und unser Begehren sowie die Weisen, wie wir damit umgehen und das
Vergangene festhalten, klar besinnen können.
An
prominenter Stelle finden wir im Museum der Unschuld einen Text von Samuel
Taylor Coleridge, der auch dem Roman als Motto vorangestellt ist: "Wenn
ein Mensch im Traum das Paradies durchwandert, und man gäbe ihm eine Blume als
Beweis, dass er dort war, und er fände beim Aufwachen diese Blume in seiner
Hand - was dann?"
Ich
wüßte keine bessere Empfehlung an die Besucher, als sich mit diesem Satz in
dieses zauberhafte Museum zu begeben.
Ein Foto Füsüns? Ist das Füsün? Und was sind das dann für Ohrringe? |
Mittwoch, 8. Oktober 2014
Dienstag, 20. Mai 2014
Das "Museum der Unschuld" in Istanbul hat den diesjährigen Museum of the Year Award erhalten.
Das vom Schrifsteller und Nobelpreisträger Orhan Pamuk geschaffene "Museum der Unschuld" in Istanbul hat heuer den European Museum of the Year Award erhalten.
Diesmal trifft es punktgenau ein Museum, das das zentrale Kriterum des Preises, "Innovativität", wunderbar erfüllt.
Hier habe ich einen (ersten und noch vorläufigen) Versuch gemacht, das Museum ein wenig zu beschreiben und hier findet man die "Elf Museumsgebote", die Pamuk im Laufe seiner Arbeit am gleichnamigen Roman und am Museum entwickelt hat.
Diesmal trifft es punktgenau ein Museum, das das zentrale Kriterum des Preises, "Innovativität", wunderbar erfüllt.
Hier habe ich einen (ersten und noch vorläufigen) Versuch gemacht, das Museum ein wenig zu beschreiben und hier findet man die "Elf Museumsgebote", die Pamuk im Laufe seiner Arbeit am gleichnamigen Roman und am Museum entwickelt hat.
Dienstag, 13. Mai 2014
Montag, 12. Mai 2014
Sonntag, 11. Mai 2014
Orhan Pamuks Text über das Museum der Unschuld. Ein poetologischer und museologischer Text zu einem einzigartigen Projekt (Das Museum lesen 36)
Im
Jahr 2008 erschien in Istanbul der Roman Masumiyet
Müzesi, das Museum der Unschuld,
von Orhan Pamuk, der 2006 den Nobelpreis erhalten hatte. Eigentlich sollte
gleichzeitig mit dem Roman ein gleichnamiges von Pamuk geplantes und parallel
zum Buch entwickeltes Museum eröffnen, doch aus praktischen und politischen
Gründen - Pamuk wurde zeitweilig verhaftet und von radikalen Gruppen mit dem
Tod bedroht -, verzögerte sich die Realisierung erheblich. 2012 war es dann so
weit.
Aber
was ist das für ein Museum? Mein Reiseführer "Istanbul" stellt es
kurz und bündig als Alltagsmuseum vor. Sicher, es gibt hier vieles, was man so
landläufig als Alltagsgegenstände bezeichnet und gelegentlich wird einem auch
als Tourist, der Istanbul erst grade kennenlernt, einiges von den Bezügen zur
Stadt deutlich.
Aber
was sollen das für Straßen sein, "die mich an sie erinnern"? Wer
spricht da, und vom wem? "Phantome, die ich für Füsun halte".
"Die Sommerabschlußparty". "Eine leere Wohnung". "Die
erste türkische Fruchtlimonade".
Hat
sich da das sogenannte wirkliche Leben eingeschlichen? Aus dem Roman? Aus
Pamuks Leben und aus Istanbul? "Wie man ein Drehbuch durch die Zensur
bringt" oder "Onkel Tarik". Kann uns das interessieren, können
wir das verstehen?
Oder
muß man dazu den Roman gelesen haben?
Ich
bezweifle, daß das viel hilft (Pamuk verneint die Frage, ob man das Buch als
Voraussetzung eines Museumsbesuchs kennen müsse), selbst wenn man das erst
gerade getan und ein sehr gutes Gedächtnis hat. Selbst die strikte
Durchnummerierung der Vitrinen im Museum nach den Kapiteln wird nicht viel
helfen.
Illustriert
das Museum das Buch, oder erzählt der Roman jene Geschichte, die hier
ausgestellt ist?
So
viel sei verraten: Pamuk hat Roman und Museum von Anfang an als ein Projekt
verstanden und es folgte das Zusammentragen einer Sammlung keineswegs dem Buch,
sondern eher umgekehrt, wenn sich ein ungewöhnlicher, überraschender Fund
einstellte, wurde er als Requisite in die Erzählung des Romans integriert.
In
der Vitrine mit der Zahl 1 sehen wir, vor einem sich bauschenden Vorhang,
"Füsuns Ohrring". Auch von ihm weiß der Autor, der des Romans wie der
des Museums, von Kemal, dessen Geliebte Füsun war. Im Dachgeschoß des Museums
finden wir das Bett, auf dem liegend, Kemal Pamuk, der auf einem Stuhl neben
ihm saß, seine Lebensgeschichte erzählt hat. Dort muß er ihm auch berichtet
haben, unter welchen Umständen der Ohrring verloren ging, und warum er sagen
konnte, es sei "der glücklichste Augenblick meines Lebens" gewesen.
Noch
im Roman, in dessen letzten Kapiteln, hat Kemal nach dem Tod Füsuns, Orhan
Pamuk beauftragt, seine Geschichte zu erzählen und die seiner großen Liebe. Er
wünschte sich von Pamuk einen Text, der gleichsam jenes Museum, das er, Kemal,
einzurichten plante, begleitenden sollte oder gar einen Katalog, wie es im Roman wörtlich heißt (sogar eine Eintrittskarte
ist dort schon abgedruckt).
Gibt
der Roman also eine wirkliche Geschichte wieder, und ist dann das Museum so
etwas wie eine - fiktive oder konkretisierende - Erweiterung, Umspielung, ein
Ort der Beweise für die Wirklichkeitshaltigkeit des Buches? Eine
Asservatenkammer der Indizien, die die Geschehnisse des Romans beglaubigen?
Nur
was sollen wir denn mit dieser individuellen, privaten und intimen Erinnerung?
Nimmt uns nicht gerade das jeglichen
Zugang zur Geschichte, wenn wir das Museum besuchen? Erst wenn wir im Museum
etwas begegnen, das uns – auf Grund geteilter Erfahrung, geteilten Wissens -,
das Verstehen ermöglicht, können wir Gegenstände mit Bedeutung belehnen.
Nun,
Pamuk spielt mit beidem, mit der Spiegelung von Buch (dem wir als Roman die
Fiktion zuordnen würden) und Museum (dem wir Kraft der Konkretheit der Dinge,
ihrer physischen Präsenz in unserer Gegenwart, die Wirklichkeit, die Welt der
Tatsachen zuordnen würden) und mit der Spiegelung von Fiktion und Realität.
Er
spricht von "ausgestellten Rätseln" und "optischen
Täuschungen" und von einem "Traum, aus dem man sich nicht befreien
kann".
"Der
glücklichste Augenblick meines Lebens". Wer vermöchte ihn festzuhalten - außer in der fragilen, oft
entstellenden Erinnerung, die keiner gegenständlichen Stütze bedarf, also im
liebenden Eingedenken, in dem eine Berührung der nackten Körper durch den am
offenen Fenster wehenden Vorhang oder das Geschrei der fußballspielenden Kinder
in Erinnerung bleibt. Aber nicht als Text und nicht als Ding oder Bild. Sondern
ausschließlich als lebendiges Erinnern, das mit dem Tod erlischt.
Dieser
Traum, aus dem man sich nicht befreien
kann, soll aber dennoch nicht zu Ende gehen, aber es ist auch der, aus dem
sich nicht nur der Autor, der Held, sondern vielleicht auch der Besucher nicht
befreien kann und nicht befreien soll.
"Wenn
ein Mensch im Traum" zitiert Pamuk zu Beginn des Romans (und im Museum
taucht der Text auch auf) Samuel Taylor Coleridge, "das Paradies
durchwandert, und man gäbe ihm eine Blume als Beweis, dass er dort war, und er
fände beim Aufwachen diese Blume in seiner Hand - was dann?"
Das
ist die dritte Ebene in Pamuks Spiegelkabinett. Wie er mit der Un-Möglichkeit
des Erinnernd spielt. Ist er selbst Kemal? Gab es Kemal überhaupt je? Ist nicht
alles erfunden? Und woran sollen wir uns eigentlich erinnern? Wer ist hier das
Subjekt der Erzählung und wer des Gedächtnisses? Woran können uns Dinge
erinnern? An jene Wirklichkeit, in der sie einmal existiert haben oder ohnehin
nur an jene Träume, die sie in uns auslösen?
Aber
da ist ja Füsuns Ohrring, in der
Vitrine, wir sehen ihn mit eigenen Augen, den Ohrring, von dem Füsun im Roman
sagt, "er sei ihr wichtig", als Kemal ihn später nicht in seiner
Jackentasche findet. Dort hat er ihn verstaut, nachdem er ihn gefunden hat.
Aber inzwischen hat er die Jacke gewechselt und kann ihn Füsun nicht
zurückgeben.
Während
der Planung und der Realisierung des Museums ist Pamuk von Kindern angesprochen
worden, ob er ihnen nicht die über den Zaun geschossenen Bälle zurückgeben
könne. Konnte er nicht, schreibt Pamuk, weil der Freiraum um das Haus derart
vermüllt war, daß man erst bei Baubeginn mit dem Entrümpeln beginnen konnte.
Dann fand man siebzehn Bälle.
Ist
einer der Bälle derjenige, mit dem die Kinder in der Gasse spielten, als sich Füsun
und Kemal in ihrem Zimmer bei offenem Fenster liebten?
Jedenfalls
gibt es einen Ball in einer Vitrine des Museums. Und Füsuns Führerschein. Und
selbstverständlich die 4213 Stummel, die
von Füssens gerauchten Zigaretten übrigblieben. Aber das ist eine andere
Geschichte. Die erzähle ich ein anderes mal.
Und
im Kleingedruckten, am Ende des Buches, dort, wohin man als Leser vielleicht
nie hingelangt, unter Danksagung, erfährt
man auch, wer Füsuns Ohrring fürs Museum hergestellt hat...
Um
Pamuk besser zu verstehen, seine - soweit ich sehe einzigartige - Idee, einen
Roman und ein Museum als komplementäre Teile eines Projektes zu entwickeln,
kann man auf ein anderes Buch von ihm zurückreifen (das auch auf Deutsch
vorliegt): "Die Unschuld der Dinge. Das Museum der Unschuld in
Istanbul". (München 2012). Es gibt einen einleitenden Teil mit
ausführlichen Texten Pamuks zum Roman und vor allem zum Museum und einen Teil,
in dem in 74 Abschnitten - reich bebildert - die Stationen und Vitrinen des
Museums vorgestellt werden. Und das wiederum so, daß die Texte eher
Erweiterungen denn Erklärungen sind. Sein poetologischer Zugang ist subtil,
leicht, wunderbar zu lesen. Etwa wie die Geschichte der Entdeckung des Hauses,
das er als Museum wählte, am Schulweg, den er täglich mit seiner Tochter
zurücklegte. So nebenbei kann von Pamuk lernen, wie man ein Museum vorstellt.
Pamuk
hat aber auch eine veritable Museologie zur Hand, die er seit dem Roman sichtlich
weiterentwickelt hat und die einem zusätzlich hilft, seine Ideen und sein
Konzept des Doppelprojektes besser zu verstehen. Dieser Museologie (die einer
gesonderten Auseinandersetzung lohnte) liegt das begeisterte Stöbern und
Sammeln zugrunde, aber Pamuk ist auch ein begeisterter Museumsbesucher
(übrigens wie Kemal, von dem im Roman gesagt wird, daß er nach Füsuns Tod über
4000 Museen bereist habe). Ein Besucher vor allem kleiner Museen und da
wiederum solcher Museen, die möglichst die Spuren der Personen, die dort gelebt
haben, noch bewahrt haben. Das war ein nicht geringes Vergnügen, zu erfahren,
wie sehr Pamuks Museumsvorlieben sich mit meinen decken. Mit wenigen Ausnahmen
kannte ich die Orte, die er ausdrücklich als Inspiration für Roman und sein Museum
nennt.
Mit
diesem „Begleit“-Buch in der Hand, wird man sich dem Spiel der Verweise und dem
changieren der Ebenen des Museums viel besser aussetzen können, wird tiefer in
die eigentümlich zweideutige Welt des Romans, des Museums und Orhan Pamuks
eintauchen können.
Sonntag, 4. Mai 2014
Das Archäologische Museum Istanbul
Das 1891 eröffnete Archäologische Museum in Istanbul ist das älteste Museumsgebäude (Architekt: Alexandre Vallaury) der Türkei. Anlass zur Errichtung waren ungewöhnlich reiche und besondere Funde in einer Nekropole in Sidon (heute im Libanon gelegen). Fund und Museumsgründung stellen eine Zäsur in der türkischen Museumspolitik dar. Bislang hatte man antike Reste und Spolien eher beiläufig gesammelt und aufbewahrt (in einem Hof der innerhalb der Mauern des Topkapi-Palastes gelegenen Haghia Eirene), die Sorge um die Sammlungen wurde meist aus dem Ausland kommenden und einschlägig ausgebildeten Experten überlassen. Jetzt kam der Ausgräber und Spiritus rector des Museums aus der türkischen Elite, ein Maler und Wissenschafter, Osman Hamdi Bey, Sohn eines Großwesirs. Er war an den Grabungen in Sidon beteiligt, setzte sich für den Bau des Museums ein, gründete, dem Museum gegenüberliegend eine Kunstakademie - heute das Museum für den Nahen Osten und den Orient (auch: Altorientalisches Museum; 1935 gegründet) -, und veranlasste eine Gesetzgebung, die die türkischen archäologischen Funde vor Plünderung und Ausfuhr schützten.
Zum Komplex des Archäologischen Museums gehört ein drittes Bauwerk und Museum, das Fayencen-Museum, das im ältesten islamischen Profanbau Istanbuls untergebracht ist (1472 als Lustschloss errichtet, im 18. Jahrhundert verändert).
Die aus Sidon stammenden Funde, unter anderem wurden dort 18 phönizische Königsgräber gefunden, gehören zu den berühmtesten des Museums, darunter der sogenannte Alexandersarkophag und der Sarkophag der Trauernden Frauen. Die danach gemachten Grabungskampagnen im osmanischen Reich und weitere zahllose Funde machten die rasch aufeinanderfolgende Erweiterung des Baues des Museums, 1903 und 1907 eröffnet) nötig, bis zur heutigen Größe.
Derzeit wird das Museum restauriert, was auch nötig ist, denn als Bau und Schauraum ist das Museum seit seiner Gründung kaum vom Fleck gekommen. Namentlich die Lichttechnik ist problematisch, die Beschriftung karg - bis auf eine sehr informative, den ganzen Eingangsraum einnehmende Ausstellung zur Geschichte des Museums, die Vitrinen und die Ausstellungsarchitektur veraltet.
Überall in Istanbul wird an den Museen verbessert, gebaut, modernisiert. Die Stadt entwickelt sich gerade zu einer der weltweit größten Tourismusmetropolen und man ist sichtlich bemüht, die kulturellen Institutionen zu modernisieren. Im Komplex der drei Häuser umfassenden archäologischen Museen hat man einen kleinen neuen Shop zur Verfügung und einen Kiosk, um den herum man in diversen Spolien wie in einem Antikengarten (nicht nur) Tee trinken kann. Man kann aber auch in den riesigen Park unterhalb ausweichen, um sich für andere Must Sees frisch zu halten, die in unmittelbarer Nähe liegen: Topkapi Serail und Hagia Sophia.
Um die Bedeutung des berühmtesten Objekts zu charakterisieren, den Alexandersarkophag, der als attisches Werk der Zeit um 325 v.Chr. gilt, kommt mir ein Text von Franz Winter von 1912 gelegen, der auch meine - durchaus laienhafte - Überraschung angesichts des Sarkophags spiegelt: "Ein Werk feinster attischer Marmorkunst auf der reifen Stufe der Entwicklung, in die das vollendete Schaffen des Praxiteles in noch unmittelbar frischer Tradition hineinwirkte, gibt er uns in seinem Bildwerk einen ganzen Zyklus von Darstellungen der Art, wie sie das Erleben einer großen Zeit hervorrief, als Alexanders Taten die Welt erfüllten, Schilderungen glänzender Waffentaten, Bilder von Kampf und Mord und von abenteuerlichen Jagdzügen in den persischen Landen. Aber von dem Gegenständlichen zieht an diesem Denkmal die Ausführung doch immer als das überwiegend Wirkende den Blick zu sich hin und wir meinen deutlich zu spüren, daß auch dem Künstler selbst in diesem Falle die Form mehr als der Inhalt, die Aufgabe der künstlerischen Dekoration mehr als die der Mitteilung bedeutet hat. Wir besitzen kein zweites Werk von ähnlich reicher Fülle der Schmuckausstattung."
Der zweite unmittelbar auffallende Sarkophag - inmitten einer Sammlung unglaublich vieler und herausragender Objekte -, ist der Sarkophag der trauernden Frauen, der möglicherweise um 360 v. Chr. für König Straton von Sidon bestimmt war. Die Oberfläche des Sarges ist mit Reliefs verziert, die die anlässlich des Todes des Königs klagenden Frauen und seine Leichenbegängnisse darstellen.
Samstag, 19. April 2014
Ottomanisches Revival oder: Das Museum als nationale Bundeslade
Das Panorama schien ein Medium des 19. Jahrhunderts zu sein, aber in vielen, vor allem jungen gationalstaaten, hat man es als Medium der Selbstdarstellung und Identifizierung wiederentdeckt. Ein Beispiel dafür ist das erst 2009 eröffnete "Panorama 1453 Historisches Museum" in Istanbul. Das in beachtlich illusionistischer Qualität gemalte Rundgemälde stellt die Eroberung Konstantinopels durch Sultan Mehmet II. dar, also den welthistorischen Augenblick des Falls des Byzantinischen Reiches unter dem Ansturm ottomanischer Truppen. Das Gemälde zeigt den turning point des Angriffs - den Einbruch der Angreifer durch die mit Hilfe riesiger Kanonen Sturmtief geschossene Befestigung.
Es ist das erste Rundgemälde, das ich gesehen habe, das mit martialischen Kampfegeräuschen untermalt ist, mit Militärmusik, Geschrei, Zischen, Krachen und dem Wummern der schweren Kanonen. Anders als fragmentierte Museumsszeneroen bietet ein Panorama ein buchstäblich immersives Erlebnis, eine Art "Totalerfahrung", bei der die relative Primitivität des Mediums keine Rolle zu spielen scheint, deren pädagogischer Mehrwert aber um so mehr. Der Großteil der Besucher des 1453-Panorams waren denn auch Kinder und Jugendliche, in Gruppen, vermutlich Schulklassen. Wobei ich nicht so sicher bin, ob der ideologische Zweck hier wirklich durchschlagend ist. Der Modus, in dem die Kids das historisch-gloriose Getümmel wahrnehmen, ist der Handy-Snapshot, bei dem das staatstragenden Ereignis zum Hintergrund wird für Freund oder Freundin.
Ministerpräsident Erdogan betreibt eine historisierende Retropolitik, womit er im Gezipark eine mittlere Staatskrise ausgelöst hat. Zu dieser Politik gehört wohl auch dieses sonderbare "patriotische" Museum.
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