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Montag, 15. November 2010

Sublime Gier. Der gute Ruf privater Sammler und Sammlungen

Beim "Aufräumen" im Computer habe ich einen Text gefunden, den ich verloren geglaubt habe - ein Interview eines bolivianischen Privatsammlers. Ich hatte den Text 'archiviert' weil er ungewöhnlich offenherzig, wenn auch nicht in der Absicht offen zu sein, über Usancen privaten Sammelns und die Rolle die illegitimer Erwerb und Besitz dabei spielen.Während in den USA gesetzliche Regelungen und öffentliche Debatten ein Bewußtsein für die Rolle des unrechtmäßigen Erwerbs von Kunst- und Kulturgütern geschärft haben, ist hierzulande das Thema "Raubkunst" ganz von den Praktiken der NS-Zeit und ihrem Umgang damit (nach 1945 bis heute) überlagert.
Erst ganz langsam wird an spektakulären Fällen, wie dem Einschleusen von gefälschter Kunst über nicht existierende Privatsammlungen, das jüngst in Deutschland aufflog, deutlich, welche illegitimen Energien und Potentiale im (weltweiten) Kunsthandel schlummern.
Ortiz' Interview ist weder besonders ausführlich noch in der Sache sehr weit führend, aber die Umstandslosigkeit mit der hier jemand sein auf Reichtum und sozialem Status gründendes 'Recht' erläutert, gibt einen Blick frei auf Praktiken, die umfassend geübt werden.

Um den Text verstehen, ist es sinnvoll, einige Umstände zu erläutern, die im Gespräch nur angetippt werden. So ist der erwähnte Großvater Simon Patino nicht einfach nur einer der reichsten Männer der Zeit, sondern er kontrollierte den Zinnabbau und die Verarbeitung weltweit. Er war kontrollierte nicht nur den Zinnbergbau in Bolivien, er dominierte auch die Politik dieses Landes, das ganz auf die Ausbeutung seiner Bodenschätze ausgerichtet war.
Seit dem 16.Jahrhundert war das so, wo zuerst das Silber abgebaut wurde, unter der Kontrolle Spaniens. Um 1900 wurde, als die Silbervorkommen erschöpft waren, Zinn abgebaut, das sich rasch zum gewinnträchtigen Wirtschaftszweig entwickelte, bis sich in den 50er-Jahren auch diese Vorkommen erschöpften, die Preise verfielen und politische Revolten ausbrachen.
Bolivien, das heißt die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung, hat von der mehrhundertjährigen Ausbeutung seines Reichtums nie etwas gehabt. Er floß ins Ausland oder in den Familienbesitz buchstäblich einer Hand voll von Tycoons.
Bolivien ist heute das ärmste und instabilste Land (seit der Unabhängigkeit gab es 200 Putsche und Putschversuche) Südamerikas. Und dieser Zustand hat direkt mit der die Politik dominierenden Ausbeutungspolitik zu tun. Die traf und trifft besonders die indigene Bevölkerung, aus der sich jene Arbeiterschaft rekrutierte, die in den Silber- und Zinnminen unter barbarischen Bedingungen und zu unsagbaren Löhnen für zuerst die ausländischen dann die einheimischen 'Investoren' arbeiteten.
Mit der Wahl des ersten indigenen Präsidenten hat sich die Situation erst vor kurzem geändert - wie grundlegend und vor allem wie nachhaltig, wagt niemand vorherzusagen.

Normalerweise interessiert sich niemand für derartige 'Geschichten', wenn sie und wie sie den Hintergrund einer Sammlung und ihrer Geschichte bilden. Im Gegenteil: Sammeln gilt als kulturell wertvolle und hoch angesehene Betätigung, das das Prestige des Sammlers bestimmt. Seine individuelle Befriedigung, seine sublime Gier, wird als erfolgreich sozialisiert angesehen, vor allem dann, wenn die Sammlung - mehr oder minder - öffentlich wird.
Was den privaten Sammler in den Augen der Öffentlichkeit auszeichnet ist die Vermutung oder Behauptung, daß seine Tätigkeit eine Art von Opfer sei, ein Opfer an Zeit, Energie, Leidenschaft und vor allem Geld, der Allgemeinheit dargebracht und zu ihrem Wohl verschwendet.
Im Fall von Ortiz waren dabei große Institutionen in Berlin London behilflich, wo in solchen Fällen weder die Provenienz der Sammlung und schon gar nicht deren politischer und ökonomischer Hintergrund interessiert, sondern allein der Wert und die Aura bedeutender Kulturgüter.
Alles vorgängig, direkt und indirekt Bedingung des Zustandekommens der Sammlung war, gilt als wie gelöscht durch eine, nun sagen wir ebenso großzügige wie leichtfertige Übertragung der individualpsychologischen Sublimationstheorie auf die sozioökonomischen Prozesse. Geld stinkt vor allem dann nicht, wenn es sich in Gold, in altes Gold, verwandelt, das noch dazu Kultur und Kunst ist.

Es fehlt nicht an Aufmerksamkeit gegenüber dem, was da vorgeht; beim Recherchieren zu Ortiz' Sammlung bin ich auf einen Blog gestoßen, wo umfangreiches Material und beträchtliche Rechercheanstrengungen in die Aktualität der globalen Raubkunst-Praktiken investiert wird. In "Looting Matters" wird man auch zur Sammlung Ortiz fündig und zu merkwürdigen Transfers zwischen Sammler, Auktionshäusern und Museen.
Anders als im lange zurückliegenden Interview scheint Ortiz jetzt auch die Notwendigkeit zur Rechtfertigung einzuholen. Und die fällt eindeutig aus. Als ziemlich dreiste Zurückweisung von gesetzlich verankerten Rechten und Pflichten im Namen seiner Humanität.
So klandestin, wie noch im Interview, muß Ortiz nicht mehr sein. Über eine Webseite kann man sich zur Sammlung informieren. Und dort weist er die einschlägige UNESCO-Konvention von 1970 ebenso zurück, wie die der UNIDROIT von 1995, denn "As a humanist and collector, I passionately oppose the Conventions as drafted, believe that their creators are misled by the Utopian idea that every created object has its perfect or natural location and must remain in situ, overlooking the fact that art is cross cultural and, in many aspects, timeless."

Und nun das Interview, das Fred David mit dem Kunstsammler George Ortiz führte. Auszüge. Quelle: Der Standard, 1.3.1996, Album, S.1f.

Sie wurden in Paris geboren, sind Bolivianer, lebten lange in den USA und Großbritannien. Warum sind Sie gerade in Genf hängengeblieben?
Ortiz: Wegen meiner Kunstsammlung. Die französische Regierung stellte den Kunsthandel unter scharfe Kontrollen, man darf keine französischen Kulturgüter aus dem Land nehmen. Ich war also nicht frei, über meine Sammlung zu verfügen. Deswegen ging ich 1964 nach Genf.

Ist der Kunsthandel von der Schweiz aus ungehindert möglich?
Ortiz: Im Moment noch. Aber die Schweiz will sich wie auch Deutschland dem Unesco-Vorschlag zur Einschränkung des Kunst- und Kulturgüterhandel anschließen. Das wird harte Konsequenzen haben.
Es geht vor allem um archäologische Kulturgüter. Insbesondere im letzten Jahrhundert geraubte und in westeuropäischen und amerikanischen Museen stehende Stücke sollen zurückgegeben werden.

Was künftig an Antikem gefunden wird, soll in den einzelnen Ländern bleiben. Ist doch gar nicht schlecht.
Ortiz: Da ist viel Ideologie und Desinformation im Spiel. Der Druck geht von den Enwicklungsländern aus. Es wird nicht berücksichtigt, daß Schutz und Bewahrung solcher Kulturgüter, ebenso die wissenschaftliche Erforschung stark eingeschränkt werden. Zudem haben die meisten dieser Länder keinerlei Möglichkeit, ihre Kulturgegenstände einem größeren Publikum zu zeigen.

Aber der private Kunsthandel floriert doch, die Preise steigen.
Ortiz: Drei Viertel des antiken Materials, das auf den Markt kommt, ist für Wissenschaft und Museen uninteressant. Wenn es kein Material mehr zu verkaufen gibt, gibt es auch keinen Markt. Höchstens im Untergrund.

Ihnen konnte das nur recht sein. Der Wert Ihrer Sammlung steigt damit ins Unermeßliche.
Ortiz: Stimmt, mir persönlich nützt dieses Gesetz. Aber. ich kämpfe aus idealistischen Gründen dagegen. Kulturgegenstände sind nicht nur Handelsware; es sind Botschaften des Humanismus. Sie gehören nicht nur einem Staat, sie sind ein Erbe der Menschheit.

Ihre Sammlung ist nur selten zu sehen, wie im März im Alten Museum in Berlin. Warum verbergen Sie diese Schätze sonst vor der Öffentlichkeit.
Ortiz: Das hat praktische und finanzielle Gründe. Ich habe kein eigenes Museum. Einen Teil gab ich als Leihgabe an Museen. Eigene Ausstellungen zu machen ist unglaublich aufwendig. Der größte Teil meiner Sammlung befindet sich in meinem Haus irgendwo im Großraum Genf.

Den genauen Ort wollen Sie nicht verraten?
Ortiz: Nein, um Gottes willen! Ich will keine ungerufenen Gäste. Das Risiko ist zu groß. Keines meiner Stücke ist versichert. Touch wood! Die Versicherungen sind zwar wie die Teufel hinter mir her. Aber auch als wohlhabender Zeitgenosse kann man das gar nicht mehr bezahlen.

Ihre Kollektion hat einen realen Hintergrund: Ihr Großvater war Simon Patino, der Zinnkönig Boliviens, einer der reichsten Männer seiner Zeit.
Ortiz: Natürlich, ich hatte das Glück, aus einer wirklich sehr reichen Familie zu stammen. Mein Vater war Botschafter in Den Haag und Paris und gehörte einer der angesehensten Aristokratenfamilien Boliviens an, mit großem Grundbesitz. Und der Vater meiner Mutter war Simon Patino, in dessen Zinn- und Silbergruben 5000 Bergleute arbeiteten.

Was blieb vom riesigen Patinoimperium übrig?
Ortiz: Simon Patino war schwer herzkrank. Die Gruben liegen in einer Höhe bis zu 5000 Metern. Er mußte in tiefere Regionen wechseln und Bolivien verlassen. Aber es gibt nichts Schlimmeres als ein dauernd abwesender Patron. Er hatte sich nie in die Politik eingemischt, was ein Fehler war. Seine Direktoren taten es umso mehr und sehr ungeschickt. Sie provozierten eine Revolution. 1952 wurden die Gruben von der Regierung konfisziert, ebenso die Ländereien meines Vaters.

Ihre Familie hatte beträchtlichen Besitz ins Ausland geschafft.
Ortiz: Dummerweise eben nicht. Ein Teil des Zinnprofits steckte in der Banco Mercantile. Im Ausland blieben ein paar Zinnminen-Holdings in Malaysia, der Zinnhandel in London und ein paar andere Dinge. 1976 krachte der Rest des Trusts völlig zusammen. Vom Patino-Glanz blieb nicht viel übrig.

(...) Welchen Wert hat Ihre Sammlung heute?
Ortiz: Ehrlich, ich weiß es nicht. Bis vor drei Jahren wußte ich nicht einmal, wie viele Objekte meine Sammlung umfaßt. Für meine erste Ausstellung 1993 in der Eremitage in St. Petersburg mußte ich dann ein  Inventar machen, ich hab's in ein Schulheft eingetragen und kam auf 1600 Objekte. 300 wählte ich aus, es war eine Tortur, weil ich mich schwer entscheiden konnte, etwas
wegzulassen.

Donnerstag, 1. Juli 2010

Die nicht gewürdigten Verdienste des Rudolf Leopold

Die Nachrufe auf den Sammler Rudolf Leopold in den österreichischen Zeitungen und in der internationalen Presse halten sich an das Gesetz, über Tote nichts Schlechtes zu sagen. Kritik wird in Watte verpackt, zwischen den Zeilen versteckt. Im übrigen bedient man sich meist der von den Nachrichtenagenturen vorgestanzten Textbausteine. Wirklich Neues oder Überraschendes liest man nirgends.
Zwei 'Verdienste' Rudolf Leopolds habe ich nirgends erwähnt gefunden. Es sind Verdienste, die er nicht absichtsvoll erworben hat, sondern die Effekte seiner Interessen und Handlungen waren.

Da ist zum einen das sogenannte "Museumsquartier". Der dazu seinerzeit ausgeschriebene Wettbewerb brachte ein Siegerprojekt hervor, das allgemein sehr wohlwollend, wenn nicht enthusiastisch begrüßt wurde. Städtebaulich wurde es als offensive und sebstbewußte Auseinandersetzung mit der historischen monumentalen Bebauung der Nachbarschaft gewürdigt, architektonisch als Ensemble kontrastierender Module, die flexibel nutzbare öffentliche Räume definierte, inhaltlich als Aufbruch in eine nicht mehr herkömmlicher Musealität gehorchender Repräsentanz aller modernen Künste und Medien.
Der Widerstand der Kronen-Zeitung, die Mobilisierung von Ressentiments gegen moderne Architektur und moderne Kunst hatte zur Folge, daß es eine langes und unerfreuliches Gezerre um die Bebauung gab und der preisgekrönte Plan mehrfach verändert wurde.
Der definitive Bruch in der Konzeption des Ganzen war nicht die medial sehr stark wahrgenommene Verhinderung der Errichtung des Bibliotheksturmes, sondern die Entscheidung des damals zuständigen Ministers Erhard Busek, die Sammlung Leopold anzukaufen und dem Privatsammler auf Staatskosten ein Museum im Museumsquartier zu errichten. Wer erinnert sich noch an die austro-patriotische Rechtfertigung dieser überraschenden Wende durch Minister Busek? Wer erinnert sich noch an die unsägliche Begutachtung der Sammlung? Wer erinnert sich noch daran, daß der Ankauf erfolgte, ohne daß die Öffentlichkeit erfuhr, woraus diese Sammlung eigentlich bestand? Und vor allem, wer erinnert sich noch daran, daß aus dem großen avantgardistischen Museumsprojekt ein nur noch in Maßen modernes, zaghaftes Pasticcio eher zufällig und nach und nach gefundener und nachgebesserter Funktionen und Inhalte wurde? Es war Erhard Busek, der der Einrichtung einer Stiftung zustimmte und - mit großen Konsequenzen -, die Einsetzung des Sammlers als Direktor des Museums auf Lebenszeit ermöglichte. Ohne diese Regelung, auf deren Fragwürdigkeit als einzige Zeitung bisher - heute - die Neue Zürcher Zeitung hinweist, gäbe es kein Restitutionsproblem Leopold-Museum.

Aber der Satz, "ohne Rudolf Leopold gäbe es kein Restitutionsproblem", hat noch eine zweite Bedeutung. Die Beschlagnahme zweier Gemälde der Sammlung Leopold in New York, brachte eine Lawine ins Rollen. Erst dadurch wurde einer breiten Öffentlichkeit bewusst, daß in Museen (nicht nur in Österreichischen) hunderte, tausende von Objekten als rechtmäßiger Besitz ausgestellt oder deponiert waren (und sind), die im Zuge der 'Arisierung' der NS-Zeit oder durch andere rechtsbrüchige oder sittenwidrige Umstände in Museumsbesitz gelangt waren. Ohne diese Beschlagnahme in New York hätten sich Öffentlichkeit, Medien, Wissenschafter und Politik nicht mit der Tatsache konfrontiert gesehen, daß nach 1945 mit der widerrechtlichen Aneignung von jüdischem Besitz neuerlich jenseits oder am Rande der Legalität umgegangen worden war, die Interessen und Ansprüche der Beraubten missachtet oder negiert wurden und das museale kulturelle Erbe der Museen in nicht unwesentlichen Teilen - etwa Teile der Klimt-Sammlung des Belvedere -, 'Raubkunst' war.
Wenn die beiden in der Ausstellung Egon Schiele. The Leopold Collection Vienna im Museum of Modern Art New York, Wally und Tote Stadt III, nicht 1998 beschlagnahmt worden wären, wäre in Österreich nie eine Raubkunstdebatte entstanden, die weit über diesen einzelnen Fall und weit über die umstrittene Ankaufspolitik von Rudolf Leopold hinaus zur Beschäftigung mit der ganzen und komplexen Geschichte der Kunstpolitik der NS-Zeit, auch über Österreich hinaus, führte. Ohne die durch einen Artikel der New York Times ausgelösten Beschlagnahme, hätte es kein Restitutionsgesetz in Österreich gegeben, keine Provenienzforschung und auch keine dann vorbildliche Restitutionspolitik einzelner Museen.

So viel zu den 'Verdiensten' von Rudolf Leopold.

PS.: Die Medien rühmen besonders ein Verdienst Rudolf Leopolds: daß er die Bedeutung der Kunst Egon Schieles als erster erkannt hat. Das Argument wird oft mit dem Hinweis auf die Wertsteigerung von Schiele-Werken verknüpft. Bemerkenswert, wenn man bedenkt, daß einige der Schiele-Werke in der Sammlung Leopold im Verdacht stehen unrechtmäßig jüdischen Besitzern geraubt oder abgepresst worden zu sein, Sammler, die offenbar die Werke Schieles lange vor Leopold sehr geschätzt haben.


Die Abbildungen stammen von einer Protestaktion der Israelitischen Kultusgemeinde Wien von 2008

Samstag, 8. Mai 2010

Guillotine und Museum (Was ist ein Museum 07)

Um zu verstehen, wie tiefgreifend sich in der Französischen Revolution das ändert, was das Wort Museum ab nun bezeichnet, genügt es zunächst, ein wenig Ereignisgeschichte zu erzählen. Mit dem Bildersturm in der ersten Phase der Revolution werden alle Zeichen und Spuren des Despotismus, des Ancien Regime attackiert. Ganze Bauten wie Kirchen werden demoliert oder profaniert, Denkmäler gestürzt, selbstverständlich die der Könige zuerst, Bibliotheken, Archive - im Grunde alles, was an die verhasste und gestürzte Herrschaft erinnern kann -, wird verkauft, versteigert oder zerstört.
Je umfassender dieser, teils gesteurte, teils anarchische Vandalismus wird, desto mehr wird eine Kehrseite des Bildersturms sichtbar und in den Diskussionen, auch der des Nationalkonvents, bemerkbar.
Sich aller Erinnerungsspuren zu entledigen, liefe in letzter Konsequenz auf eine totale Amnesie hinaus, auf eine Aufsprengung des zeitlichen und geschichtlichen Kontinuum, wie es ja in der Einführung einer neuen Zeitrechnung bewußt angestrebt wurde.
Zu derselben Zeit schärfte sich aber das Bewußtsein eben für dieses Kontinuum des geschichtlichen, zivilisatorischen Prozesses, für die Geschichte der Gattung, für eine Entwicklung, die sich als Gesamtheit in einem (als Singular) neuen Wort bildtete: (Die) Geschichte.
Die religiösen un die alten politisch-gesellschaftlichen Sinnstiftungen implodierten und mußten durch neue ersetzt werden, und eine dieser Legitimations- und Sinnstiftungsinstanzen konnte die (nationale) Geschichte sein. Das einigende Band der Gemeinschaft, der religiöse Glaube und der an seine weltliche Statthalterschaft des Königs gebundene politische mußten ersetzt werden.
Eine Gemeinschaft, die ihre Möglichkeiten, ihr Gemeinsames auszubilden, zu symbolisieren und anzuerkennen nicht nur verliert, sondern aktiv zerstört, gerät in eine tödliche Krise; der Höhepunkt dieser Krise ist in den Jahren 1793 und 1794 erreicht, wo der Bürgerkrieg zum Exzess wird, und der König auf die Guillotine geschickt wird.
Der Großen Enzyklopädie zufolge wurde das erste Museum im modernen Sinne des Wortes (das heißt, die erste öffentliche Sammlung) am 27. Juli 1793 vom französischen Nationalkonvent gegründet. Dies würde bedeuten, daß der Ursprung des modernen Museums mit der Entwicklung der Guillotine einherging. Dieser Satz Batailles (siehe dazu den Post Das Museum lesen 10) trifft etwas Wesentliches:
Denn jetzt ist die Stunde einer neuen Idee, für die in den Debatten des Nationalkonvents, ein altes, aber mit neuem Inhalt gefülltes Wort auftaucht: Patrimoine. Erbe, väterliches Erbe. die Vorstellung eines Gesamt von ideellen und materiellen überlieferten Werten, auf die man sich in Narration und Symbolisierung beziehen kann. Und deshalb ist das auch die Stunde des Museums, auch ein altes Wort, das nun mit neuen Inhalten aufgeladen wird.
Man kann das langsame Kippen der Debatte um den Bildersturm genau verfolgen; vom frühen Enthusiasmus über erste Skepsis und Einwände bis zu den Anfängen einer Politik des Erbes, die in Maßnahmen zum Erhalt bedrohter Zeugnisse führen und schließlich zum Entschluß, Museen zu gründen.
Mit der Gründung mehrer großer Museen, beginnenden mit dem Museum im Louvre am 10. August 1793, schafft man ein Common Object an kulturell-geschichtlichen Objekten, um die sich die Gemeinschaft bilden und sammeln kann - buchstäblich und symbolisch.
Diese neuartige Identifizierung der Gemeinschaft findet in einer Verschränkung von Individuum und Gesellschaft statt. Die Eröffnung des Museums im königlichen Schloß, im Louvre – ich zitiere Andrew McClellan, den Historiker der Geschichte des Museums in der Revolutionszeit -, “was tied to the birth of a new nation. The investiture of the Louvre with the power of a revolutionary sign radically transformed the ideal museum public. To the extent that the Louvre embodied the Republican principles of Liberty, Equality, and Fraternity, all citizens were encouraged to participate in the experience of communal ownership, and clearly many did.” (vgl. Die Idee des Museums in diesem Blog)

Wovon Mc Clellan spricht, ist ein Museum, das in so gut wie allem weit über das hinausgeht, was je einer Sammlung früher zugeschrieben werden konnte. Das Museum ist nicht nur nicht eine bloß zufällig-nebensächliche kulturpolitische Maßnahme, sondern steht im Zentrum der gesellschaftlichen Integration, ja mehr als das, sie konstituiert sie - mit anderen Ereignissen und Prozessen - mit.
Welch emphatische Bedeutung die Gründung des Museums im Louvre (also im annektierten Königsschloß) hatte und seine Eröffnung am 10. August 1793, dem ersten Jahrestag der Erstürmung der Tuilerien, wird schlagartig klar, wenn man zwei weitere - bewußt synchronisierte - Ereignisse dieses Tages nennt: La fête de l'Unite, das Fest der Einheit, das man sich als eine Art Prozession vorstellen muß mit dem Höhepunkt einer Zeremonie, die auf den Trümmern der Bastille stattfand. Die Abgeordneten aller Departements Frankreichs tranken aus einem Pokal Wasser das den Brüsten einer ägyptisierenden Statue der weisheit Entsprang. Dies 'Kommunion' hatte ihre rechtliche Ergänzung in der feierlichen Deklaration der Verfassung, der ersten demokratisch-republikanischen, Frankreichs. (Daß sie aufgrund des Sturms der Ereignisse nie umgesetzt wurde, ist in diesem Zusammenhang unerheblich. Es geht um die - extrem verdichtete - Symbolik dieses Tages). 
In dieser Verfassung war unter anderem das Recht auf Bildung für jedermann verankert und die Verpflichtung des Staates das zu garantieren. 
Bildung ist das Bedürfnis aller. Die Gesellschaft muß ihre ganze Kraft daran setzen, die Fortschritte der allgemeinen Vernunft zu begünstigen und allen Bürgern Bildung zugänglich zu machen.
Diese staatliche Garantie macht den Kern des wohlfahrtsstaatlichen Verständnisses von Politik, auch von Kulturpolitik also auch von Museumspolitik aus. Und dasselbe wohlfahrtsstaatliche Konzept begründet demokratische Öffentlichkeit, das eben nur unter der Bedingung denkbar ist, daß im Idealfall alle an ihr teilhaben können und es auch sollen. 
Wir verstehen wie dürr und irreführend ein Verständnis von Museum und Öffentlichkeit ist, das darunter nur Zugänglichkeit versteht. Öffentlichkeit ist das, worin sich das wohlfahrtsstaatliche Konzept realisieren kann und eine unverzichtbare Bedingung demokratischer Vergesellschaftung - auch in der Sphäre der Kultur.
Öffentlichkeit, also auch die, die im Museum stattfindet, aber nicht nur stattfindet, sondern dort auch hergestellt wird, ist notwendigerweise diskursiv, analytisch und kritisch, denn nur so kann das permanente Aushandeln stattfinden, mit der sich der Bürger mit der Gemeinschaft und diese in sich selbst 'bilden' kann. Wenn Carol Ducan und Sabine Offe von der zivilisatorischen Rolle des Museums sprechen und sie analysieren, dann ist im Kern dieser Prozeß gemeint. In der genannten Verfassung ist das Ziel der gesellschaftlichen Entwicklung unüberbietbar formuliert; lakonisch heißt es im Artikel 1: „Ziel der Gesellschaft das allgemeine Glück“.
In dem, was wir heute mit dem Wort Bildung transportieren, wird kaum noch erahnbar, was es im Kontext von Aufklärung und Revolution bedeutete.
Der Mythos der  Aufklärung beruht auf der Vorstellung der Wissbarkeit, Darstellbarkeit und Gestaltbarkeit der Welt und ihrer  Beherrschbarkeit durch menschliche Vernunft. Der Bildungsort Museum stellte die Hoffnungen und Illusionen aus, die mit der Engführung von abendländischem Zivilisationsprozess und langfristigen Veränderungen menschlicher Verhaltens- und Empfindensstandards einhergingen. Potentiell alle Museen waren gedacht als Orte, an denen das Publikum sich ein Bild machen konnte von der Ordnung der Welt durch die Anschauung von Objekten aus Natur und Kunst und von der Ordnung der Geschichte in Artefakten, deren vergangene Bedeutung richtungweisend schien für Aufgaben der zeitgenössischen Gegenwart und Zukunft. (Sabine Offe)
Weder ist das Museum ausschließlich retrospektiv und bloß archivalisch gedacht (als ein Ort des behüteten und geschützten Schlafs der Dinge, wie es ein weitverbreitetes kuratorisches Rollenbild glaubt), noch ist es eine Agentur des Wissens, das pädagogisch Lehren erteilt.
Das Museum ist ein Ort der Selbstbeschreibung und Selbstauslegung und es kann das in individueller wie gesellschaftlicher Hinsicht sein. Die Rituale des Museums dienten der Einführung ziviler Normen, die durch öffentliche rituelle Performanz angeeignet, als allgemein verbindliche sichtbar gemacht und eingeübt wurden. Sie dienten der Dramatisierung von „Selbstbeschreibung" und „Selbstauslegung" der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Mitglieder, der Darstellung einer Zivilisierung, die sie zugleich herstellen sollten.  
Aber dabei bleibt es nicht, darin erschöpft sich die Funktion des Museums nicht. Unbeachtet bleibt hingegen das diesen Ritualen eigene ambivalente Verhältnis zur gelebten Alltagswirklichkeit. Sie haben eine latente Funktion, die in der „Zivilisierung" nicht aufgeht. Als solche stellen sie ein Wunschbild der bürgerlichen Gesellschaft dar, die sich darin nicht, wie sie ist, sondern wie sie sein sollte oder sich sehen wollte, spiegelt. Aber „zivilisierende" Rituale im Museum schaffen - wie alle Rituale - Gegenbilder, die nicht nur auf gesellschaftliche Werte und Normen, sondern auch auf ganz andere reale gesellschaftliche Erfahrungen verweisen. Sie thematisieren Verborgenes in entstellter Form. Sie bezeugen nicht nur explizit die Wunsch-, sondern auch implizit die Schreckensbilder der Zivilisation. Denn Museen, alle Museen, repräsentieren nicht nur, was zu sehen ist, sondern auch, was dem öffentlichen Diskurs und der Wahrnehmung entzogen werden soll oder verborgen bleibt, eine Geschichte gesellschaftlicher Gewalt. (Sabine Offe)
Ich breche hier - vorläufig - ab, denn von hier aus sind weitere Differenzierungen möglich und nötig. Was hier (auch) sichtbar wird, in der Ambivalenz des Museums, ist eine Ambivalenz des Umgangs mit dem Museum. Hier öffnet sich nicht nur ein Blick auf die 'abschließende' oder 'verschließende' Arbeit des Museums, das uns auf Distanz halten und uns 'Unschuldskomödien' vorspielen kann. 
Hier öffnet sich aber auch das Museum, das ein Potential zu einer institutionell selbstreflexiven Praxis hat, das sich und sein Publikum über sich selbst aufklären könnte, das das Entstellte und Verborgene sichtbar, lesbar und besprechbar machen könnte. Sichtbar wird aber schließlich auch eine instrumentelle, manipulative und hegemoniale Funktion des Museums, die schon Carol Duncan beschrieben hat. Museen sind auch (und das hat man in der Französischen Revolution schon gewusst und genutzt) „sites that publicly represent beliefs about the order of the world, its past and present, and the individual's place within it. [...] To control a museum means precisely to control the representation of a community and its highest values and truths."
Also: Reichlich was an Aufgaben wartet, bei der weiteren Beantwortung der Frage: Was ist ein Museum? Aber auch bei der: Was ist ein Museum in einer postdemokratischen Gesellschaft und angesichts des Zerfalls der Idee des Wohlfahrtsstaates?

Montag, 1. März 2010

Dracheneier und Phönixfedern. Alberto Manguel (Das Museum lesen 03)

Zu meiner Jugendlektüre gehörten die Detektivgeschichten Gilbert Keith Chestertons, die wegen ihres ‚Helden‘, Pater Brown, einem katholischen Priester, berühmt wurden und die verschiedentlich verfilmt und immer wieder im Fernsehen gezeigt wurden. Diesen Pater Brown, der sehr knifflige Fälle in immer erfolgreicher Konkurrenz zur Polizei zu lösen imstande ist, nimmt sich der Schriftsteller Alberto Manguel in seinem wunderbaren Essay zu Sammeln als Modell.
Für die Aufklärung des Todes eines schottischen Lords stehen Pater Brown nur einige Sachen als Indizien zur Verfügung, deren Zusammenhang aber völlig unklar ist. Der ermittelnde Inspektor resigniert: »Keine Anstrengung der menschlichen Phantasie vermag es, Schnupftabak und Diamanten, Wachs und lose Zahnräder in einen Zusammenhang zu bringen«.
Pater Brown schlägt dem verblüfften Inspektor eine Lösung vor: „Der Lord war ein erbitterter Gegner der Französischen Revolution und hatte den Stil der letzten Bourbonen kopiert. Er besaß Schnupftabak, weil dies ein Luxus des 18. Jahrhunderts war, Wachskerzen, weil sie zur Beleuchtung dienten, die Metallteile, weil Ludwig XVI. ein Hobbymechaniker gewesen war, und die Edelsteine verwiesen auf das Brillanthalsband der Marie Antoinette.“
Aber Pater Brown treibt nur ein Spiel, er entwirft immer neue Spekulationen, unter welchen Bedingungen diese Dinge einen gemeinsamen Sinn ergeben könnten. Was uns Manguel zu bedenken gibt ist, daß wir bestrebt sind Ordnung zu stiften, daß diese Ordnung bis zu einem gewissen Grad willkürlich und „nie unschuldig“ ist. Und, daß es viele Möglichkeiten gibt, den Dingen eine sie Bedeutung zu geben.
Auch „Ostereier des Patriarchen von Jerusalem, zwei Federn vom Schweif des Vogels Phönix, ein Dodar von der Insel Mauritius, der ob seiner Korpulenz des Fluges nicht fähig ist und Messingkugeln zum Wärmen der Hände für Nonnen“ bilden offenbar keine sinnvolle Einheit, aber alle diese Dinge fanden sich einmal in einer Sammlung - der der Tradescants.
Man muß nicht ins 16. und 17. Jahrhundert zurückgehen, in die Zeit der Kunst- und Wunderkammern, um wunderliche Dingwelten zu finden, wie etwa 'Thomas Manns Taufkleid, die Totenmaske von Brecht, Röntgenbilder von Erich Kästner, ein Diktiergerät von Hans Blumenberg oder eine Gabel, die angeblich Franz Kafka gehörte'. Das alles findet sich im Literaturmuseum der Moderne in Marbach.
Manguel entwirft eine kurze Geschichte der Ordnungssysteme, um seine These zu stützen, daß diese immer auch fragwürdig gewesen seien – bis hin zu den nationalen und öffentlichen Museen der Französischen Revolution, die sich, wie das Musée des Monuments, gerade bezüglich ihrer Willkürlichkeit Kritik von Zeitgenossen gefallen lassen mussten. Das Musée sei, ärgert sich ein Zeitgenosse, »eine Ansammlung von Trümmern und Särgen aus allen Jahrhunderten, zusammengeworfen ohne Sinn und Verstand in den Klosterräumen der Petits Augustins«.
Gerade mit der Entstehung des öffentlichen Museums werde aber jede Zusammenstellung von Dingen zu einer kategorisierbaren Sammlung, deren einzelnen Elemente im Museum zu Repräsentanten eines übergeordneten Sinns werden. „In den Räumen der Winnipeg Art Gallery ist ein Gemälde von Joyce Wieland nicht mehr das Gemälde, das von der Hand der Künstlerin stammt oder das es im Wohnzimmer von Conrad Black geworden wäre, sondern ein ausgewähltes Beispiel für die kanadische Kunst des 20. Jahrhunderts.“
Manguel zieht aus dieser Entwicklung zunächst einen konservativ-elitären Schluß: um Kunstbetrachtung und –genuß zu ermöglichen, müsse man – gegen die ‚kollektive museale Wahrnehmung‘ – wieder den individuellen Zugang in seine Rechte setzen. „Der Museumsbesuch sollte daher eine einsame Angelegenheit sein.“
Die Kernaussage Manguels ist das aber noch nicht. Erst die zurückgewonnene Individualisierung des Museumsbesuchs, erlaube es, ‚in Freiheit‘ gegen die Regeln des Museums zu verstoßen:
„In ihrem Roman Menschenkind Schreibt Toni Morrison: ‚An einen Ort zu kommen, wo man alles lieben konnte, was man wollte - und das Verlangen keiner Erlaubnis bedurfte -, das war die Freiheit.‘ Museen können solche Orte sein, doch kommen sie nicht ohne eine geordnete Struktur aus, denn es liegt im Wesen einer jeden Ausstellung, daß ihr Aufbau, willentlich oder nicht, explizit oder implizit, uns, dem Publikum, einen vorgefertigten Rahmen darbietet, eine ‚geordnete‘ Version des Ausstellungsguts, damit unser Weg durch die Ausstellung einer gewissen Logik folgt. Aber um die Freiheit zu erlangen, die wir brauchen, um die Deutungsklischees zu durchbrechen und die ästhetische Erlebnisfähigkeit wiederherzustellen, die zwangsläufig an der Schwelle zwischen der Bewußtheit und dem Unbewußten liegt, müssen wir die vorgegebene Ordnung verletzen, in Frage stellen. Um Regeln zu brechen, brauchen wir Regeln, und diese liefert uns das Museum.“
Das ist eine überraschende Schlussfolgerung. Die Regeln des Museums sind dazu da, um gebrochen zu werden, also auch die Ordnungssysteme, um unterlaufen zu werden. „Jeder Besucher muß sein Drachenei und seine Phönixfeder selbst einfordern. Und die Öffentlichkeit darf nicht als uniforme Masse, als abstrakter Begriff in Erscheinung treten, sondern als heterogene Ansammlung von Individuen, die alle ihre besonderen Sehnsüchte und ihren gesunden, anarchischen Eigensinn in die sorgsam beschilderte Museumswelt hineintragen“, so wie es der von Paul Valery formulierte Spruch tut, der, über dem Musée de l‘ Homme in Paris angebracht, die Besucher mit den Worten empfängt: „Ihr, die ihr eintretet, bestimmt, ob ich Grab oder Schatzkammer bin, ob ich spreche oder schweige. Ihr allein müßt es entscheiden. Tritt nur ein, Freund, wenn du das Verlangen spürst.“
Und die Indizien? Und der tote Lord? Pater Brown stellt „die Vermutung an, daß der Lord ein Doppelleben geführt hatte. Als Dieb benötigte er die Kerzen für seine nächtlichen Raubzüge, den Schnupftabak brauchte er, um ihn, wie alle Bösewichte es taten, seinen Verfolgern in die Augen zu streuen, die Diamanten und Zahnrädchen dienten zum Zerschneiden von Fensterscheiben.“
Aber auch damit foppt er nur den Inspektor, denn, so Pater Brown, nur „zehn falsche Theorien erklären das Universum.«

Alberto Manguel: Dracheneier und Phönixfedern oder ein Plädoyer für die Sehnsucht, in: ders.: Im Spiegelreich. Berlin 1999

Samstag, 27. Februar 2010

Alles war sehr gut und lustig. Pensionärs-Avantgarde von Spoerri und Brock in der Provinz

Daniel Spoerris Musée sentimental war einst ein das Museum - mild - attackierendes Projekt, das mit der Willkür seiner Auswahl- und Ordnungskriterien - das war das Alphabet -, die Willkürlichkeit der wisenschaftlich-musealen Ordnungen in Frage stellte. Das Musée konnte etwas tun, was das Museum damals noch kaum tun konnte, dem Alltäglichen, Banalen, Übershenen, dem Fragment, dem Abfall, dem Deponierten die Funktion einer Zeugenschaft zu verleihen, ohne die Dinge zu monumentalsieren und in ein zwingendes und dominierendes Narrativ einzubetten.
Nicht die offizielle Erzählung mit versteckter aber autoritärer Autorschaft regierte die Bedeutung der Dinge, sondern die individuelle Erinnerungsfähigkeit, die liebevolle Empathie, in den Dingen Spuren des vergangenen Lebens suchen zu wollen - so verstehe ich das ‚sentimental'. Damit wurde ein Zugang zu den Dingen gestiftet, der sie nicht in das Korsett vorgepräggter Deutungen zwängte, sondern die individuelle Arbeit an der Dechiffrierung der Dinge vom Betrachter/Besucher forderte, denn ohne diese Arbeit erwachte nichts aus der Abstraktion des Alphabets.
Das erste Musée sentimental, das ich nicht aus den Katalogbüchern und Kritiken, sondern durch den Besuch kennenlernte, das Musée sentimental de Prusse (1981), machte auf mich schon einen zwiespältigen Eindruck der Ermüdung, weil hier das Zufällige und Spielerische einer willkürlichen Ordnung von einer auf Preussens Geschichte bezogenen zweiten, implizit doch dokumentierend-erzählerischen Intention überdeckt wurde. Daß die Mitglieder der preussischen Königsfamilie hier nur noch als eingeweckte, nach ihnen benannten Obstsorten - „Gute Louise" - präsent waren, war zwar schon hart am Rand der Schmunzelkunst aber in der Wahl der Gedächtnisform immerhin noch analytisch witzig: das Rex-Glas als genuin historistisch verfahrendes ‚technisches Gedächtnis' und insofern von symptomatischer Qualität für das, wie sich Museen erinnern.
Jetzt gibt es im Kunstraum Stein (bei Krems) ein weiteres Musée sentimental, und Autor ist wiederum Daniel Spoerri selbst, der sich in der Nähe, in Hadersdorf am Kamp, ein neues Refugium geschaffen hat. Unter dem bombastischen Titel „Eine Stadt biografiert sich selbst" wird das Musée zusammen mit einem komplementären von Bazon Brock gezeigt. Er bat Bewohner von Krems ihr ‚liebstes Gut' in einer Prozession ins Museum zu tragen. Der Kalauer, der programmatisch verstanden werden will, „Zeige dein Liebstes gut. Zeige dein liebstes Gut" wird uns in einem kurzen Video von Bazon Brock als subversive Geste angepriesen, als eine Repräsentation von unten, als ein individuelles Einschreiben in das Museum.
Das nun ist es gerade nicht geworden, denn der eine Raum, in dem das liebste Gut Heimstatt hat, ist eine ziemlich lieblose, beiläufige Regalisierung - und das auch nicht in einem Museum, sondern selbstreferentiell in einem ‚Kunstraum'. Ohne sich einen Deut um die Repräsentativität der Zufallsgaben und die Motive und Objektbeziehungen der Besitzer zu kümmern, wird das ganze in die bekanntlich große Überredungskunst Brocks eingehüllt und zum in ‚Österreich noch nie dagewesenen' Projekt stilisiert.
Das ist doppelt dreist: denn - um nur ein Beispiel zu nennen - der „Berg der Erinnerungen" in Graz im Kulturhauptstadtjahr 2003 nimmt sich im Vergleich mit der Installation in Krems wie ein Bentley gegenüber einem Dreirad aus. Vor allem aber: die Idee, mit Besitztümern und Sammlungen Privater im Museum etwas zu installieren oder zu prozessieren, was sowohl die Interessen und Motive der Beteiligten anerkennt als auch, entweder als Haupt- oder Nebeneffekt etwas zur Reflexion des musealen Sammelns und Zeigens beizutragen, ist sehr alt und wurde an anderer Stelle ungleich reflektierter und intelligenter verwirklicht. Zum Beispiel im Ruhrlandmuseum Essen 2005 (Die Gegenwart der Dinge. 100 Jahre Ruhrlandmuseum) oder - hier im Blog schon gewürdigt -, Böse Dinge. Eine Enzyklopädie des Ungeschmacks im Museum der Dinge, Berlin.
Hinter dem gewaltigen Aufwand Brockscher Rhetorik findet sich so gut wie nichts und eher das Gegenteil vom der behaupteten Anerkennung und Aufwertung individueller Repräsentationswünsche: ein Raum mit der Anmutung eines Abstellkellers und ein in Form und Sache äußerst bescheidenes ‚Inventar' mit kurzen Äußerungen der Leihgeber, das ist alles.
Brock würdigt sich nicht nur selbst, er darf (im erwähnten Video) auch Spoerri würdigen (der sich auch selbst und Brock würdigen darf...usw.) und das Musée sentimental das bedeutendste Museumskonzept des 20. Jahrhunderts nennen.
Warum es im 21. immer noch gezeigt werden soll, das zu rechtfertigen, bleibt uns das Musée schuldig. In einer kurzen Flucht kleiner Räume finden sich Objekte, die irgendeinen Bezug zu Krems haben und die nach Stichworten zusammengestellt wurden. Stichworte wie: Marillen, Salz, Donau, Goldhaube, Wein, Glocken, Justizanstalt, Mariandl uam. Es zeigt sich schnell, daß das Konzept mit so wenigen Objekten schlecht funktioniert, weil die Matrix, die sich aus so wenigen Dingen und Worten weben läßt, viel zu grobmaschig wird, um auch nur annähernd so etwas wie die versprochene Biografie der Stadt Krems ergeben zu können.
Die räumliche Ordnung nach Schlagworten konterkariert die ursprüngliche Idee: man liest nun die Objekte zwangsläufig als illustrative Dokumente eines ‚Themas' - und die folgen nun vielen der Klischees, die ohnehin schon seit eh und je mit der Wachau verknüpft waren oder die beliebig sind. Oskar Werner kommt wohl hier vor, weil seine Mutter in der Wachau wohnte. Welche Bedeutung haben dann aber Dokumente wie das Service, die Brieftasche, eine Visiten- und eine Eintrittskarte aus dem Besitz Oskar Werners? Was sollen sie bezeugen? Was evozieren?
Vollends problematisch wird aber die Art und Weise, wie mit der NS-Zeit und der Judenverfolgung umgegangen wird. Die Nivellierung der Themen auf ein einziges, ‚sentimentales' Niveau, läßt die Nachbarschaft von NSDAP und Marillenbrand, Judenverfolgung und Goldhaube unerträglich werden. Krems, und ausgerechnet übrigens auch der Ort, in dem sich Spoerri niedergelassen hat, Hadersdorf (und das nahe Langenlois, ein berühmter Weinort) sind allesamt Orte mit einer immer wieder umkämpften und verdrängten Geschichte. Ausgerechnet diese Fragen auf dem Niveau einer aleatorischen Collage zu verharmlosen, das geht nicht. Da gibt es etwa das Fotoalbum des NSADAP Pressefotografen Rudolf Haas in unmittelbarer Nachbarschaft des Straf(Kriegsgefangenen)Lagers 17 B in Gneixendorf und gegenüber dann „Jüdische Geschäfte in Krems" neben einer Collage, die Spoerri aus Kopien der Fotos des erwähnten NSDAP-Fotografen gemacht hat - mit der unkommentierten Betextung „Bildersammlung Ortsgruppe Stein". Die Verwischung der Grenzen von Original und Kopie könnte anderswo auch analytisch genutzt werden, hier ist sie fahrlässig. Aber es ist irgendwie egal: eine Gipsmaske Anton Bruckners ist eindeutig ein Gustav Mahler mit schmaler Nase, scharfem Profil und wallendem Haupthaar. Über Anton Bruckners rundlich-bäurischen Kopf spross immer nur eine Glatze... Nirgendwo erzeugt das Zusammenstellen und -würfeln der Sachen irgendeinen analytischen Effekt, alles ist gleichgültig gemacht in einem selbstreferentiellen Spiel der Dinge.
Beide Ausstellungen machen einen müden, uninspirierten Eindruck, bei beiden Ideen - dem des Musée sentimental und dem des ‚Laienmuseums' - wird nur lauwarm aufgewärmt. Die Avantgarde von einst kommt in die Jahre und in die Provinz um sich selbst zu demontieren.
„Alles war sehr gut und lustig" heißt es im Besucherbuch.