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Mittwoch, 9. Juni 2010

"Wo itzt Paläste stehn, wird künfftig nichts als Gras und Wiese seyn." Das Berliner Schloss und das Humboldt-Forum. Teil III

Wunderbar! "Wo itzt Paläste stehn, wird künfftig nichts als Gras und Wiese seyn." Mit diesem Andreas Gryphius Zitat leitet Andreas Rosenfelder seine Sympathiebekundung über soviel Wiese inmitten von Berlin ein. Auch der Prophet Jesaja - DIE WELT (Online, 9.6.2010) darf sowas - wird zitiert, um der Hybris eines Schlosses etwas entgegenzusetzen.
Der Autor kokettiert mit einer Idee, die er selber abwegig findet. Wenn er die symbolische Unterdeterminiertheit einer Wiese ziemlich easy findet, auch als ein "Gras drüber wachsen lassen" über die ganze verkorkste Idee und Debatte um die Wiedererrichtung des Schlosses und das Humboldt-Forum, warum muß er dann meinen, daß "dieses urbane Idyll nicht dazu (taugt), das von der Geschichte entkernte Zentrum der Hauptstadt mit neuer Substanz zu versorgen"?
Warum nicht? Taugen dazu nur Monumente, Herrschaftsarchitekturen?
Sicher, die Wiese, die wird irgendwann so oder so verschwinden, das hält niemand aus, und das immer weniger. Denn daß es einen undeterminierten Raum im urbanen Gefüge gibt, das darf nicht sein. In unseren Stadtzentren ist alles geplant, abgegrenzt, gepflegt, bezeichnet, aber ich hab schon mal mit italienischen Kids auf der zentralen Piazza von Bologna stundenlang Fußball gespielt, und das war ein tolles Gefühl, eine Stadt mal so zu nutzen. In Berlin geht das nicht. DIE WELT zitiert dazu Horst Bredekamp, aber ich bin mir nicht so sicher, ob er nicht heimlich selbst daran denkt. Als Assistent des Kunsthistorischen Seminars in Hamburg konnte man ihn jedenfalls oft einschlägig in der nahen Wiese hinterm Ball herrennen sehen...

Samstag, 5. Juni 2010

Das "Humboldtforum" im Berliner Schloss als "Kolonialzoo" und "permanenter Kirchentag"

Nur zwei Tage, nachdem ich diesen Post verfasst habe, findet sich das Berliner Schloss - und damit das Humboldt-Forum - auf der "Sparliste" der Regierung, nicht gestrichen, aber aufgeschoben. Das könnte wohl, wenn es zum Beschluss kommt, das Ende des Projektes sein.

Der wohl größte museumspolitische Brocken, an dem die deutsche Politik würgt, ist die Wiedererrichtung des Berliner Schlosses und die Einrichtung eines Humboldt-Forums in dem teilrekonstruierten Gebäude. Jetzt droht der Erstickungstod, nicht den beteiligten Politikern, aber dem Projekt. Der Staat will nicht die Kosten für eine Rekonstruktion der Fassaden und der Kuppel aufgebürdet haben, und die Stiftung (Link zur Webseite Stiftung Berliner Schloss - Humboldt-Forum), die die Idee des Wiederaufbaus betreibt, Bauherr und Betreiber werden soll, kann die nötigen privaten Mittel bis jetzt nicht auftreiben. Wie es aussieht, könnte auch Schloßrekonstruktion und 'Humboldt-Forum' ein 'Opfer' der Wirtschaftskrise werden.

Wer die Leserbriefe zum heute in der FAZ erschienen Artikel liest, sieht schnell, daß kaum jemand für ein so teures, zerredetes und vielfach in Frage gestelltes Projekt angesichts der wirtschaftlichen Situation - des Landes und Berlins - argumentiert. Im Gegenteil: die zu dem Projekt nie gefragten Stimmbürger sind ganz schön giftig. Und giftig ist auch der Artikel von Patrick Bahners Humboldt-Forum - Wollen wir uns das Berliner Schloss noch leisten? FAZ, 5.Juni 2010.

Die Idee, die völkerkundlichen Sammlungen von Dahlem hierher zu übersiedeln, "Buschmänner, Derwische und Schamanen nach Berlin zu laden, um sie im Angesicht der erhabenen Zeugen ihrer Vergangenheiten über die Zukunft des Planeten 'verhandeln' zu lassen…laufe auf einen intellektuellen Neokolonialismus hinaus." Die diskutable Idee, die im Begriff des 'Forums' steckt, museale Sammlungen mit wissenschaftlichen Einrichtungen zu kombinieren und zu Orten des urbanen wie globalen Diskurses zu machen, die mag Bahners aber schon gar nicht: Diskurs ist für ihn "so eine Formel des eventmagischen Denkens."

Die Vorstellung vom Museum als Ort des Diskurses kommt hier als Argument der (kultur)politischen Durchsetzung des Projekts ins Spiel, riskant voraussgesetzt wird, daß Sammlungen sowieso "tot" seinen. Das ist ein Spiel mit dem Museumsfeuer, denn das Dilemma, der performativen "Lazarisation" der Dinge nicht einfach durch Ausstellungen, sondern durch eine neue Form des Museums herstellen zu sollen, stellt sich ja nicht nur für die Sammlungen, die im "Forum" ihren Platz haben sollen. Das Argument läßt sich populistisch ausschlachten, in politisches Kleingeld wechseln oder aber in schlüssige museologische Konzepte fassen. Letzteres ist, so viel ich sehe, nicht - noch nicht - geschehen. Wenn man, wie Bahners berichtet, leitende Vertreter wissenschaftlicher Institutionen dazu befragt, wird man für diese komplexe und besondere Anforderung keine befriedigende Antwort erhalten. Wissenschaften, die vielleicht erst vor ein paar Jahren den Slogan science goes public entdeckt haben, hätten, wenn sie überhaupt Erfahrung in der öffentlichen, medialen Transformierung des Wissens Erfahrung hätten, wenig bis gar keine, die auf den wirklich besonderen Fall 'Museum' zugeschnitten ist.

Die zentrale Idee, die alle Institutionen, Funktionen und Sammlungen verklammert ist die des 'Forums', also die Vorstellung des Museums als permanenter Konferenz (Beuys). Doch scheint es bisher nicht gelungen zu sein, die Wiederbelebung der dem Museum durchaus angemessenen Idee als zivilisatorischem Ort plausibel zu konkretisieren und dafür handhabbare Formen zu finden. Es scheint mir auch kein existierendes Beispiel dafür zu geben, nicht in dieser Größenordnung und nicht mit derartigen historischen Konnotationen. Es mag da und dort so etwas wie gelungene partizipative Museen geben oder - so ist mein Eindruck - in postkolonialen Situationen tatsächlich so etwas wie eine soziale Re-Definition des Museums. Aber wie soll das in diesem Fall denn aussehen, organisiert werden, museumspolitisch umsetzbar sein?

Die weit offene Flanke wird denn auch von der Kritik aus vollen Rohren beschossen. So hat Patrick Bahners (Was soll ins Berliner Schloss? FAZ vom 29.8.2009) gegen das anvisierte Modell des diskursiven Museums leicht zu argumentieren: "Wer dazugehört und wer ausgeschlossen wird, wer bleiben darf und wer nur zu Gast ist: Das sind die harten Fragen, durch die Völker über ihre Identität entscheiden. In Berlin sollen sie unter der Prämisse erörtert werden, dass alle Grenzen künstlich und vorläufig sind. Der zentrale Raum des „Forums“ ist als „Agora“ ausgewiesen, als Raum für grenzenlose politische Debatten. Die hauptberuflichen Debattenveranstalter unter den Gründern verlangen, das ganze „Forum“ solle als „Agora“ genutzt werden. Dem können die Museumsleute kaum widersprechen. Sie können noch Latein und Griechisch und wissen, dass das eine Wort die Übersetzung des anderen ist."

Wie akademische Eliten mit dieser Idee umgehen, das zieht Bahners im aktuellen Artikel sowieso ins Lächerliche, aber auch der Präsident der Stiftung Preussischer Kulturbesitz, Hermann Parzinger, kriegt seine Breitseite ab. Dass, wie er sagt, die "Realisierung des Humboldt-Forums…ein starkes Zeichen hinsichtlich der Gleichberechtigung der Weltkulturen in einer längst globalisierten Welt“ und das „Kunst- und Kulturzentrum gänzlich neuen Zuschnitts“ ein „völlig neues Miteinander der Kulturen erlebbar“ machen werde, als die große Chance, „um die uns die Welt heute schon beneidet“, das kontert Bahners trocken mit: "Es ist betrüblich, dass der Präsident der SPK solche Phrasen des kulturlosen Wunschdenkens verwendet."

Man könnte noch hinzufügen, daß es gerade die Museen sind, namentlich die Völkerkundemuseen des deutschsprachigen Raums, die wenig Ermutigendes und Innovatives genau in Hinblick auf den von Parzinger pathetisch beschworenen Tugendkatalog geleistet haben und die meilenweit davon entfernt sind, ein völlig neues Miteinander der Kulturen zu ermöglichen.

Schon vor längerer Zeit hat Andreas Kilb (ebenfalls in der FAZ: Auf dem Weg zum Louvre von Berlin) das Fehlen stimmiger und plausibler Pläne beklagt: "Das Forum der Weltkulturen wäre ... zur einen Hälfte ein mit Texttafeln aufgemotztes Remake der Dahlemer Völkerkundemuseen, zur anderen ein Mischmasch von Schaumagazinen, Multimedia-Sälen und Seminarräumen unter dem pompösen Etikett der 'Laboratorien des Wissens'. Diese geschichtspolitische Nullnummer kann niemand wünschen."

Grundsätzlicher formulieren die einzigen organisierten Gegenr des Projektes, die mir bekannt sind, eine studentische Gruppe unter dem Slogan "Anti-Humboldt" die Implikationen der Übersiedlung der ethnologischen Sammlungen: "Alle bisherigen Verlautbarungen der Federführenden lassen erkennen, dass es bei dem Humboldt-Forum nicht um eine Reflexion der Gewalt geht, die im Zuge des Kolonialismus von Europa aus auf den Rest der Welt ausgeübt wurde. Vielmehr wird Andersheit ontologisiert, die zur Souveränitäts- und Kosmopolitismusdemonstration der Ausstellernation dient. Die Schlossfassade steht symbolisch für die verlorene und rückgewonnene Einheit Deutschlands, sowie für das „goldene Zeitalter“ des Preußentums, das nun zum nachteilungsgeschichtlichen Lückenfüller wird. Ausgerechnet in einem solchen Zusammenhang sollen nun „Kulturschätze“ aus aller Welt zur Demonstration von Weltoffenheit der selbsternannten „Kulturnation“ dienen. Eine derartige Rekontextualisierung an diesem symbolisch aufgeladenen Ort in direkter Nachbarschaft zur Museumsinsel mit ihren Sammlungen „klassischer Hochkulturen“ nennen wir eine Instrumentalisierung nichteuropäischer Künste und Kulturen." (zitiert von der Webseite)

Institutionell ist das „Humboldt-Forum“ ein Mix aus Museums- und Forschungseinrichtungen: der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, der Berliner Landesbibliothek und der der Humboldt-Universität. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz übersiedelt die völkerkundlichen Sammlungen von Dahlem ins Zentrum der Stadt. Die Legitimation dieser städtebaulichen und damit auch ideologischen Neupositionierung der ethnologischen Sammlungen wird, ähnlich wie anlässlich des Musée du Quai Branly in Paris, mit der "Gleichwertigkeit aller Kulturen" formelhaft beschrieben. Dazu genügt aber nicht der ostentative Akt einer Verschiebung ihres symbolischen Ortes, dazu braucht es einen tiefgreifenden Wandel des Konzepts Völkerkundemuseum - wenn nicht dessen Aufgabe zugunsten von etwas Neuem, noch kaum Geahnten.

Gemeinsam mit den Museen der Museumsinsel, dem Deutschen Historischen Museum und der museal genutzten Friedrichwerderschen Kirche würde ein riesiger Museumskomplex entstehen und es fällt, als ob das nationalpolitische Konkurrenzdenken wie im späten 19.Jahrhundert (bei dem Museumsgründungen eine große Rolle spielten) ein Revival erlebte, als Bezugspunkt für diesen megalomanen Museumskomplex als Referenzprojekt nicht mehr und nicht weniger als der Name Louvre.

Eine 2009 gezeigte Ausstellung, "Anders zur Welt kommen", (hier zur Webseite) sollte modellhaft vorzeigen, was vom Humboldt-Forum einst geleistet werden könnte. Aber die mediale und öffentliche Resonanz auf die Ausstellung war verhalten und hat der Idee als Ganzes nicht zum Durchbruch verholfen. Die zentralen Widersprüche des Konzepts sind offensichtlich. Der politisch-symbolische Akt, das Schloss der Preussischen Könige wieder aufzubauen und seine Fassade zu rekonstruieren, ist als - immerhin auch finanziell aufwendiges - Vorhaben demokratischer (Kultur)Politik kaum zu argumentieren. Noch dazu hat der Architektenwettbewerb ein angefochtenes und umstrittenes, keineswegs neue architektonische und städtebauliche Akzente setzendes Resultat gebracht. Nicht nur die Wiedererrichtung eines - freundlich formuliert - ambivalenten Herrschaftsbaues unter dem Prätext des pfleglich-respektvollen Umgangs mit dem kulturellen Erbe, ist ein fragwürdiger symbolpolitischer Akt; auch die buchstäbliche Revision einer Epoche der jüngsten Geschichte: auf einem Teil des Geländes stand der Staatsbau der DDR, der Palast der Republik (erst 2008 definitiv abgebrochen).

Und davon solte das neue Projekt nicht kontaminiert werden? - Das ist aber nicht alles. Museumssammlungen, zum Beispiel solche der Humboldt-Universität, aber auch die völkerkundlichen Sammlungen in Dahlem, in das Schloss zu transferieren, ist schon auf einer ganz pragmatischen museologischen Ebene problematisch. Und schließlich: wie werden sich diese Sammlungen in die vorhandene museale Megastruktur der Museumsinsel eingliedern oder an sie anbinden? Und auf die Frage nach der Funktion der völkerkundlichen Sammlungen an diesem Ort, hat bisher über die genannten Gemeinplätze noch nicht im entferntesten jemand schlüssig Auskunft geben können.

Bahnerts Ingrimm ist also angesichts der langen Dauer der Debatten und ihrer Ergebnislosigkeit nicht zu Unrecht ziemlich heftig. "Wenn man festhält an der Vision, dass weiland als Wilde abgestempelte Andersdenker unter den Augen der Berlintouristen grübeln sollen, dann wäre für diesen modernen Kolonialzoo Christoph Schlingensief der perfekte Direktor. Und sonst? Ein 'Humboldt-Forum' mit Schaufenster der Akademien wäre eine Mischung aus interaktivem Schulfernsehen und permanentem Kirchentag."

Abbildungen: Berliner Schloß, historische Fotografie. Das Schloß als Kriegsruine. Abbruch des Palastes der Republik. Rekonstruiertes Schloß. 'Wunderkammer' der Ausstellung 'Anders zur Welt kommen'.

Mittwoch, 3. März 2010

Die Schweizermacher. Museum und Imagined Community

Die Summe der kollektiven Bedeutungen der Dinge
soll also die Nationalgeschichte ergeben.
Zweifellos ist diese Materie gefährlich;
aus dem Zusammenhang kann eine Logik entstehen,
die im besten Falle eine künstliche Logik, im schlimmsten eine Scheinlogik ist.
Die Geschichte erscheint als eine ”nicht zufällige” Abfolge,
die Aufreihung der Gegenstande ergibt ex post eine Sinngebung.
Die Geschichte erhebt sich aus dem verworrenen Handeln der Menschen
und wird zur logischen Geschichte, zur Heilsgeschichte,
wobei dann angenommen wird, der gegenwärtige Zustand sei das Heil.

Lucius Burckhardt: Wie kommt der Müll ins Museum?

Im Winter von 1853 auf 1854 sank der Spiegel mancher Seen der Schweiz derart, daß es zu auffallenden Entdeckungen von “Überbleibseln menschlicher Thätigkeit” kam, z.B. durch Herrn Aeppli, Lehrer in Ober-Meilen beim Zürchersee. Diese Reste, andere wurden im Bielersee entdeckt, wurden als Zeugnisse von im See errichteten Pfahlbausiedlungen einer keltohelvetischen Bevölkerung gedeutet.
Träger dieser Deutung war die junge Wissenschaft Urgeschichte und gelehrte Gesellschaften wie die Antiquarische Gesellschaft Zürich und ihr Präsident Ferdinand Keller, Ehrendoktor der Universität Zürich. Von ihm stammt der erste Bericht über derartige Funde und eine erste Deutung. Man kümmerte sich um die Sicherung der Fundstücke, ihre Aufbewahrung, regte aber auch weitere Untersuchungen an, im Mai 1854 sogar eine Unterwassergrabung im Genfersee, wahrscheinlich die erste derartige Grabung weltweit.

Die nun breiter einsetzende Forschung und Dokumentation, die in die Vorstellung von keltischen Pfahlbausiedlungen mündete, führte zu umfangreicher und privat betriebener Suche nach Funden und einem schwungvollen, von skandalösen Fälschungsfällen begleitetem Handel. Einer dieser Sammler, Friedrich Schwab, beschäftigte Fischer, die in zahllosen Schweizer Seen für ihn ‚auf Jagd‘ gingen. Er baute rasch die größte ‚Pfahlbauern‘sammlung auf, die er 1865 der Stadt Biel schenkte, die für diese Sammlung ein eigenes Museum bauen ließ (1873). Durch die sogenannte Jurakorrektur sank der Seespiegel um zwei Meter und es kam zu weiteren Funden, die die Popularität der Pfahlbauernkultur nur noch steigerte.

Schattenspiele, Historienbilder, historische Umzüge, Festzüge, Festspiele, Historienmalerei, Presseartikel, Kalender und Ausstellungen transportierten den jungen Mythos und die Aufnahme der Pfahlbauten in die Lehrpläne verfestigten das Bild von den Pfahlbauern transgenerationell. Ein nationalstiftender Mythos war geboren. Die krisenhaft ‚multiple’ Identität, die die Schweizer schon lange beschäftigte, war mit einer Wunschabstammung scheinbar wiederhergestellt.

Wichtig war, daß dieser Pfahlbauernmythos sofort visualisiert wurde: Modelle, Stiche, Gemälde, Illustrationen - schon im 1855 gedruckten “Des Volksboten Schweizer Kalender” - regten die Phantasie an. Heute gilt als erwiesen, daß sich diese Rekonstruktionen urgeschichtlicher Siedlungen, Lebensformen und Architekturen nicht so sehr auf den Tatbestand der Funde bezogen, sondern auf ethnologisches Bildmaterial verschiedener Entdeckungen und Expeditionen, z. B. auf Bilder von Siedlungen in Celebes oder Neu-Guinea.

Niemand bezweifelte die Pfahlbautheorie (nur die dauernde Besiedlung der Siedlungen wurde in Frage gestellt) und mit der Verknüpfung der Pfahlbausiedlung mit der Vorstellung einer Urbevölkerung, von der alle Schweizer, ungeachtet ihrer ethnischen oder sprachlichen Besonderheit abstammten, erhielten diese Forschungen unglaubliche Popularität.

Mitte des Jahrhunderts boten die Pfahlbauern, deren Herkunft und Geschichte zwar selbst unklar war, dennoch die Chance eine 'gemeinsame Stammesgeschichte' zu fundieren. Wie wichtig diese Herkunftsgeschichte war, zeigt die Tatsache, daß die Schweiz sich auf der Pariser Weltausstellung 1867 mit einer Ausstellung von Pfahlbaufunden repräsentierte und zwar in einem Teil der Weltausstellung zum Thema “Geschichte der Arbeit”. Man plante sogar im Park der Ausstellung einen Pfahlbau aufzustellen. Die für die Ausstellung angefertigten Historienbilder kamen - als nationales Monument nach Ende der Weltausstellung in das Bundesratshaus. Die erste vom Bund, also durch den Staat erworbene (übrigens durch ein Gutachten von Rudolf Virchow empfohlene) Sammlung der Schweiz war - eine Pfahlbausammlung (1884). Diese Sammlung wurde ebenfalls im Bundesratshaus ausgestellt.

"Die prächtigen Schädel von Auvernier können mit Ehren unter den Schädeln der Kulturvölker gezeigt werden. Durch ihre Kapazität, ihre Form und die Einzelheiten der Bildung stellen sie sich mit den besten Schädeln arischer Rasse an die Seite."

Schon damals gab es Rekonstruktionen der Gesichtszüge von Pfahlbauern aus den Funden, um Ähnlichkeit mit den 'modernen' Schweizern zu bestätigen. 1899 erklärte die Gartenlaube die Auvernier zu Ahnen der Mitteleuropäer überhaupt:

"Dieses Gesicht ist also das älteste Menschenantlitz aus Mitteleuropa, welches wir heute kennen. Es ist breit, hat eine flache Stirn, vorspringende Wangen, kurze etwas aufstrebende Nase, vollen Mund und schwellende Lippen und deutlich markierte Kieferwinkel. Diese Darstellung beruht nicht auf Phantasie, sondern für all diese Merkmale liegen, wie die genannten Forscher sagen, die unverrückbaren Dimensionen in den Knochen, die das Fundament darstellen! Jahrtausende sind ins Meer der Ewigkeit gezogen, seit diese Frau an dem Ufer des Neuenburger Sees lebte, aber ihre Gesichtszüge sind uns nicht fremd, wir sind ähnlichen unter den heute Lebenden schon begegnet, und sie werden sich auch noch viele Jahrtausende hindurch erhalten."

Erst um 1920 wurde die erste wissenschaftliche Kritik am Pfahlbauernmythos entwickelt, und zwar von H. Reinerth, einem deutschen Forscher, der später Leiter des Amtes Vorgeschichte im Amt Rosenberg in der NS-Zeit war. Dieser politische Kontext bewirkte aber, daß die Kritik in der Schweiz nicht aufgegriffen wurde, sondern, im Gegenteil, zur Stärkung des nationalen Selbstbildes, das Pfahlbauerntum ein Revival erlebte. Erneut wurde die Herkunftsgeschichte vom Pfahlbauerntum in den nationalen Diskurs eingefügt, jetzt zur Abgrenzung zum nationalsozialistischen Deutschland. 1937/38 kam es durch neue Funde zur ‚glänzenden Rehabilitierung‘ der Pfahlbauforschung.

1953/54 begann nun auch in der Schweiz eine Debatte um die Pfahlbauforschung, also 100 Jahre nach den ersten Entdeckungen, und führte zu heftigen, nicht bloß wissenschaftsinternen Kontroversen. Selbst die Schweizerische Gesellschaft für Urgeschichte spaltete sich in pro und contra und lancierte konträre Publikationen.

Heute jedoch gilt die Existenz von in Seen errichteten Siedlungen definitiv als widerlegt.

"Gegenstände neigen nur allzu leicht dazu, eine solche (scheinbar zwingende GF) Logik zu erzeugen. Ein schönes Beispiel sind die Pfahlbauer. Sie waren einst der Stolz der Schweizerischen Nationalgeschichte, und es gab kein Schulhaus, in welchem nicht die Bilder vom Alltagsleben der Pfahlbauer hingen: Die Mutter sitzt auf den Brettern vor der Hütte und schaut über den See, ob der Mann schon vom Fischen heimkehrt; die Männer schleppen den erlegten Baren zum Schiff, voller Vorfreude auf die Begrüßung im Pfahlbauerdorf. Die Pfahlbauer waren so schon wie logisch, und als in den dreißiger Jahren deutsche Gelehrte erstmals publizierten, daß es die Pfahlbauer gar nicht gab, führte dies sogar zu diplomatischen Verwicklungen mit der Eidgenossenschaft. Deutlich spürten die Schweizer, daß sich hier die kulturelle Eroberung und Vernichtung ihres Landes vorbereitet: nicht zufällig kam damals auch Hitler zur Macht...” (Lucius Burckhardt: Wie kommt der Müll ins Museum?)