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Samstag, 3. September 2016

Montag, 1. August 2016

Blick ins Goldene Zeitalter

"Het merendeel van de bezoekers van het Westfries Museum werd aangetrokken door de Virtual Reality-beleving van de Gouden Eeuw." - Westfries Museum Hoorn, Niederlande. Text der Museumswebseite: "Die Stärke des Museums liegt in der Abwechslung. Die Kollektion wird stimmungsvoll im klassischen Stil präsentiert. In seinen Ausstellungen und Veranstaltungen geht das Museum die Themen jeweils auf unorthodoxe und überraschende Weise an. Diese Kombination aus klassischem und gegenwartsbezogenem Ansatz bildet den Kern des einzigartigen Wesens des Westfries Museum.
Das Museum setzt sich zum Ziel, Ihnen die Möglichkeit zu einem lehrreichen und angenehmen Besuch zu bieten. Dabei steht Gastfreundlichkeit an erster Stelle. (...) Bei den Ausstellungen und Veranstaltungen wählt das Museum einen anderen Weg. Wie fesselnd die Ära auch sein mag, Interesse für das Goldene Zeitalter darf man nicht von vornherein voraussetzen. Das Museum sieht es als seine Aufgabe, der eigenen Kollektion und Geschichte immer wieder neue Relevanz zu geben, indem es eine Brücke zur Erlebniswelt des heutigen Besuchers schlägt. Daher werden in Ausstellungen und Veranstaltungen ständig überraschende Verbindungen zwischen der heutigen Zeit und der Vergangenheit hergestellt."

Das Museum als Ort der gefahrlosen Besichtigung

Maurizio Cattelans Schmunzelkunst gefahrlos besictigt und vermittelt

Montag, 25. Juli 2016

Just for Fun?

Ein bisschen Vermittlungs-Bashing darf schon sein, ab und zu. Mir kommt vor, daß es derzeit öfter auftaucht. Von recht entgegengesetzten Positionen. Mal wird das ziemlich elitäre Modell der (Kunst)Kennerschaft zurückgesehn, mal der mediale Overkill kritisiert. Gegen den argumentiert in "art" auch Larissa Kikol (hier: http://www.art-magazin.de/szene/16688-rtkl-kunstvermittlung-20-just-fun). An einer Reihe von Beispielen zeigt sie, wie sich Museenziemlich kopflos vermeintlichen medialen Trends andienen, und, so Kikol, ihre Chance vergeben, die Stärken die das Museum einziugartig machen, auszuspielen. Da muß dann schon mal Foucault Überlegung zur Heterotopie her: "Die sinnliche und geistige Erfahrungstiefe einer Heterotopie" gehe verloren. "Also das reale Erleben eines "Gegen-Ortes", in dem "die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind", "Orte außerhalb aller Orte", wie Foucault sie nannte. Nicht die Kunst muss in die genormte Welt, und da zählen die sozialen Medien schon längst dazu, vielmehr sollten die Besucher von eben dort ausbrechen und – zumindest temporär – in eine ganz andere eintauchen können."
Und zur Realität eine Notiz aus dem Perlentaucher vom 26.Juli: "Viele Museen verbieten das Fotografieren, auch ohne Blitz. Die Begründungen hierfür sind oft weit hergeholt, erlärt der Anwalt Florian Schmidt-Gabain im Gespräch mit Julia Voss von der FAZ. Oft liege es daran, das Leihgeber das Fotografieren verbieten wollen. "Zudem hat ein Museum natürlich immer aus seinem eigenen 'Hausrecht' die Möglichkeit, das Fotografieren zu verbieten. Davon möchte ich den Museen aber abraten. Gerade für junge Leute gehört das Fotografieren im Museum heute einfach dazu. Und junge Besucher benötigen die Museen dringend."

Mittwoch, 4. Mai 2016

Selbstreflexion?

Selbstreflexion gehört zu den wichtigsten Forderungen, die immer wieder in der Theorie an Museen gerichtet werden. In der Praxis gehört die umfassende, periodische Selbstbesinnung auf Zweck und Sinn des Museums zu den seltenen Ausnahmen.
Jetzt eröffnet die Hamburger Kunsthalle ein "Transparentes Museum", mit dem das Museum die besucher einlädt, "uns in die Karten zu schauen".
"Was sind die Aufgaben eines Museums? Welche Kriterien haben wir für unsere Entscheidung? Und was denken Sie eigentlich darüber?"
Aber ach, mehr als ein altbackenes "Hinter den Kulissen von..." scheint das nicht zu sein. "Restauratorische Einblicke, Gründe für Künstlerrahmung, Unterscheidungsmerkmale von Original und Kopie...".
Das beste an der Information an der Webseite ist der Griff zu einem Satz des ehemaligen Leiters der Kunsthalle, Werner Hofmann, ein Satz, der aber sehr hoch über hängt über dem Versprechen "Aspekte der Arbeit eines Museums, quasi 'backstage'" zu zeigen. Hofmann: "Mit der Kunst reflektiert sich das Museum selbst und seine von ihm entwickelten Bezugssysteme".
Das hätte ich gerne mal in der Praxis eines Kunstmuseums erlebt.

Freitag, 3. Januar 2014

Wie viel darf ich essen?

Ehedem vorbildliche Museumsdidaktik im Deutschen Museum in München... (Siehe auch den folgenden Post)

Die Sache mit dem definierten Kammervolumen. Oder: Geht es aufwärts mitder Museumsvermittlung?

Gerhard Matzig fühlt sich verhöhnt. Er, Journalist und Ingenieur, bekommt im Deutschen Museum in München Informationen, die er nicht versteht. "Zwei achteckige Drehkolben werden vom einströmenden Gas beaufschlagt und drehen sich in einem Gehäuse, mit dem zusammen sie ein definiertes Kammervolumen bilden." Allerdings ist er durch einen anderen Text vorgewarnt worden:  "Zum Verständnis der in der Übersichtstafel dargestellten Prozesse ist ein Grundwissen über die Rohölverarbeitung erforderlich."
Was er offenbar nicht weiß ist, daß das deutsche Museum schon seit langem eine eigene kleine Abteilung führt, die sich mit Texten beschäftigt. Man könnte deshalb vermuten, der erste Text sei vom Fachkurator, der zweite von den Textexpertinnen.
In der Glyptothek findet Matzig nur Spurenelemente an Information, "Saal des Fauns ist auf einem Schild zu lesen - und das hätte man sich beinahe auch selbst gedacht, angesichts eines Saals, in dem sich ein Faun befindet."
Der um Hilfe gebetene Herr Wenrich von der Bayerischen Museumsakademie nimmt ihn in die FC Bayern-Erlebniszentrum mit, die mit Medien, Lautstärke, Abwechslung und Interaktion beeindruckt.
Aber ist ein Erlebniszentrum ein Museum fragt sich Matzig bange? So wird er dann glücklich erst im - neuen - Ägyptischen Museum in München. Obwohl einem als Leser nicht ganz so klar wird, warum eigentlich. Weil es hier "keine Replik, kein Plastik, kein Disneyland" gibt?
Die Direktorin ("wir sind Dienstleister") wird als "Pionierin der Museumspädagogik" (2014 - sind das noch Pionierzeiten?) vorgestellt und Museumspädagogik ist  hier, in diesem Text der süddeutschen Zeitung vom 2.1.2014, eine Überredungskunst, mit deren Hilfe es gelingt, etwas schwer Genießbares bekömmlich zu halten: "Es ist eigentlich wie im Unterricht", sagt Herr Wenrich, von der Bayerischen Museumsakademie, "den muß man auch spannend gestalten, um als Erfolg als Lehrer zu haben." 

Freitag, 11. Oktober 2013

Pädagogisch zeigen (Texte im Museum 432)


Das Museum als Haus - Die Welt als Museum




Das Museum als Haus - Die Welt als Museum

Dieser Vortragstext ist 1991 in „Ganz aus dem Häuschen“ erschienen, der Nachlese zu den 12. Museumspädagogischen (Privat-)Gesprächen, die damals in Graz stattgefunden haben. (MuseumspädagogInnen verlassen das Museum. Graz 1991 („...das lebende museum ... STEIERMARK“  im Grazer Stadtmuseum / Kulturvermittlung Steiermark / Kunstpädagogisches Institut Graz). Seite 6-12)

Unsere Vorstellung vom Museum ist wie selbstverständlich die vom festen Haus und Ort. Es geht um Schutz und Sicherheit, um Zusammenfassung, Ordnung, um Vergleichbarkeit und Zugänglichkeit. Erst durch die Fixierung  des Ortes, die Dauerhaftigkeit der Sammlung und eine über längere Zeit unveränderte Schaustellung kann der Museumsbesuch zum wiederholbaren Ereignis mit erwartbaren Erfahrungen werden. Doch ist diese Vorstellung vom Museum nicht besonders  alt im Verhältnis zur langen Geschichte des Sammelns. Das Museum als Haus - architektonisch und metaphorisch verstanden - ist die Form, die sich erst die bürgerliche Museumsidee gibt.

Zwischen 1815 und 1830 entstand in Berlin ein 'museion' besonderer Art. Ein speziell und nur für den Zweck entworfenes und errichtetes  Haus, das bedeutendste Teile des Kunstbesitzes des preußischen Königs aufzunehmen und öffentlich zum Zweck der Bildung zu zeigen hatte. Es ist dieses  von Karl Friedrich Schinkel  entworfene Neue Museum, meinem Wissen nach der erste selbständige, zu öffentlichen Bildungszwecken  errichtete  Sammlungsbau, eine Bau zudem, der diesen Zweck mit den Mitteln der Architektur, der Monumentalmalerei und  durch die städtebauliche Disposition veranschaulichte.

Mit der offenen, über beide Geschosse reichenden ionischen Loggia, mit der offenen Treppenanlage, die zu einer ebenfalls nach Außen offenen Halle im Obergeschoß führte, bildete der Architekt eine den Binnenraum des Museums mit dem öffentlichen Raum der Stadt verknüpfende Vermittlungssphäre, in der eine Zyklus von Wandgemälden mit der Darstellung der konfliktreichen Gattungsgeschichte auf den eigentlichen Museumsbesuch vorbereiten sollte.

Diesen öffentlich-kommunikativen, bilderreichen und ,bildenden', zwischen institutioneller und  städtischer Öffentlichkeit vermittelnden Raum, die obere Halle, hat Schinkel selbst in einer ihren Zweck programmatisch visualisierenden Zeichnung festgehalten.

Doch nicht nur dies und die selbstbewußte  Entgegensetzung der bürgerlich-öffentlichen Sphäre zum gegenüberliegenden Schloß sind bemerkenswert, sondern auch die Integration der musealen, über die ausgestellten Sammlungen evozierte Bildungserfahrung in den von den Wandgemälden erzählten gattungsgeschichtlichen Zusammenhang.  Dargestellt waren in der Loggia und Treppenhalle  u.a. das Götter- und Menschenleben, Kriegs- und Naturgewalt, die Gestirne usw., also nicht mehr und nicht weniger als "die Bildungsgeschichte der Welt", wie es in einer zeitgenössischen Interpretation heißt. 

Wilhelm von Humboldt hatte als Leiter der Museumskommission das Konzept eines Museums entworfen, das die Humanisierung der Staatsbürger - also auch die Humanisierung des preußischen Staates - zum Ziel hatte. Im Freskenzyklus wird diese Instrumentalisierung des Museums als Bildungsanstalt des Staates und der Staatsbürger,  als zentrale  Einrichtung, auf die sich der preußische  Staat berufen und fundieren möchte,  eingebettet in die Bildungsgeschichte der Gattung überhaupt. Vermittelt und zugleich extrem gespannt scheint  hier das Verhältnis von Innen und Außen, von Haus und Welt, von Sammlung  und Bildung.

1827 brach ein Streit über die Benennung dieses im Bau befindlichen Hauses aus. Der erste  Vorschlag für eine lateinische Inschrift  stieß auf Mißfallen:  FRIDERICVS GVILELMVS III STVDIO  ANTIQVITATIS  OMNIGENAE ET ARTIVUM  LIBERALIVM MVSEVM CONSTITVIT MDCCCXXVIII, in der deutschen  Übersetzung: Friedrich Wilhelm III.   hat  dem  Studium  jeder  Art  Alterthümer und der freien  Künste  diesen Ruheort  gestiftet  1828.

Das Wort Museum, das in der deutschen  Übersetzung merkwürdiger- und bezeich­nenderweise nicht  übersetzt und durch das eigentümliche Wort ,Ruheort' ersetzt wurde, war der Stein des Anstoßes. Die Einwände richteten sich gegen den Begriff Museum.  Mit dem  Wort Museum  würden, so der erste  Gutachter, "im ganzen Alterthume" nur Orte der Wissenschaft bezeichnet, aber niemals  solche zur" Aufbewahrung von archäologischen oder Kunstgegenständen". Zwar sei der Sprachgebrauch Museum der populäre, niemals aber der klassische und daher für eine Inschrift ungeeignet. Ludwig Tieck, Alexander von Humboldt und die um ein Gutachten gebetene historisch-philologische Klasse der Preußisch-Königlichen Akademie der Wissenschaften kamen sinngemäß  zu demselben ablehnenden Ergebnis.

Zum Zeitpunkt der Errichtung des Berliner Sammlungsinstituts ist der Begriff Museum noch keineswegs für Sammlungen und Sammlungsarchitekturen ausschließlich reserviert. So wie er für Vereine, Gesellschaften, Publikationen, literarische Sammlungen  usw. auch  gebräuchlich ist, können umgekehrt museale Sammlungen noch als Kabinette, Glyptotheken, Pinakotheken, Galerien usw. benannt  werden.

Doch der kurze, scheinbar nebensächliche Streit um die Benennung des durchaus als neuartig empfundenen Baus ist mit der terminologischen Offenheit nicht ganz zu erklären.

Interessant an dem Streit ist, daß zwei Traditionen des Begriffs Museum aufeinan­dertreffen. Die eine Tradition,  die die Gutachter und Experten gegen die Verwen­dung des Wortes  Museum  für einen Ort der Sammlung ins Treffen führen, leitet sich vom klassisch-antiken Wortgebrauch ab. Das heißt, von der Bezeichnung Museum für eine Pflegestätte der Wissenschaft an der aber nicht gesammelt, vor allem aber nichts  Vergangenes, Historisches aufbewahrt wurde.

Die andere Tradition, von der es in den Gutachten heißt sie sei die populäre, ist of­fensichtlich die ältere. In dieser Tradition lebt etwas von der Bedeutung des ur­sprünglicheren museion, des Musenortes fort. Also von der antiken Tradition, die im16. Jahrhundert wiederentdeckt und wiederaufgenommen wurde- und zwar damals in der  doppelten Bedeutung von Hain, Garten  jedenfalls den Musen gewidmeten Naturraum und Ort der wissenschaftlichen Betätigung  und des Sammelns. Indem man gegen die eigene philologisch untermauerte, rationale Kritik, die die Begriffsübertragung von Museum als Bezeichnung eines Ortes der Wissenschaft auf ein Sammlungshaus - historisch übrigens  korrekt - als unantik ablehnt, am Begriff Museum dann aber doch festhält, entschied man sich für die ungleich ältere Bedeutung, also unbewußt, nämlich ohne sich Rechenschaft über den Sinn dieser älteren Tradition zu geben.

In der Erinnerung an diese sogenannte populäre und älteste Bedeutungsschicht des Wortes Museum blitzt die Erinnerung sowohl an das museion als Ort des kollektiven Gedächtnisses auf, als auch die an einen lang zurückliegenden, längst verschütteten, konfliktreichen Enteignungsprozeß.

In diesem Enteignungsprozeß wurde die schrift- und bildlose, affektive und ausschließlich von weiblichen Musen beschützte, kollektive und gattungsgeschichtliche Erinnerungsfähigkeit durch die rationale, textgebundene von den  ausschließlich männlichen Priestern wissenschaftlicher Institutionen betriebene Gedächtnisarbeit allmählich abgelöst und verdrängt.

Der griechisch antike Begriff museion meinte ursprünglich den Ort der Musen, Töchter der Mnemosyne, der Göttin des Gedächtnisses und des Zeus. Zuerst ist es eine einzelne Muse - das Wort Muse bedeutet die Sinnende oder die Erinnernde - später sind es drei oder neun, ihre Zahl schwankt. Sie sind Naturgeister, Nymphen und leben anQuellen und Flüssen, wo sie im ekstatischen, göttlich inspirierten Gesang und Tanz die Vergangenheit und Zukunft in die Gegenwart beschwören, weissagen, deuten.

Das museion wurde dann die den Musen geweihte Stätte der Pflege der Erinnerung und des Eingedenkens  an die konfliktreiche Geschichte  der Zivilisation. Kunst, Geschichte und Wissenschaft hatten spezielle Schutzmusen, die für das Festhalten der Erinnerung einstanden und die vor allem die Rhapsoden beschirmten, die zu Beginn ihres Gesanges die Musen anriefen, als Garanten für die Wahrheit  des von ihnen vorgetragenen  Stücks Gattungsgeschichte.  
                                                            .
Es wurden den Musen Altäre errichtet, Bilder der Musen aufgestellt und der Hain, das museion, wurde zum Versammlungs- und Festplatz vornehmlich von Künstlern, dann auch zur Sammelstelle für Weihegaben und Opfer.                               .

Als Beschützerinnen der  Künste und des Geistigen wurden die Musen später zu Schutzpatroninnen von Schulen,  Gymnasien, philosophischen Akademien, wie z. B. der platonischen  Akademie und liehen ihren Namen dem alexandrinischen Museion, einer Stätte der Gelehrsamkeit, das seither oft fälschlicherweise als ,erstes Museum der Geschichte' bezeichnet  wird. Aus dem museion als mythischem, vage lokalisierbaren Naturraum wird allmählich eine Topografie der institutionellen Wissenschaft.

"Keine bessere Gelegenheit findet man nun zu dieser fast mit himmlischer Lust ver­knüpften Betrachtung der Natur, als in Museis oder solchen Orten, welche ausdrücklich dazu an einer bequemen und einsamen Stelle angeordnet sind, wo selbst man gleichsam  alle unnütze Geschäfte und weltlichen Rumor verläst, dagegen aber seine Sinnen und Gedanken zusammen ruft, und einzig und allein zur Ehre Gottes in der Betrachtung aller seiner Wunder anwendet. Hier sitzt er [der Forscher; G. F.] also ausgeschlossen und umgeben mit herrlichen, raren, wunderbaren und fremden Sachen, über deren Anschauung seine leiblichen Augen in angenehme Ergätzung und Fröhlichkeit gerathen."

So  beschreibt Neickelius Anfang  des 16. Jahrhunderts die  Freuden  des  solipsis­tischen  Gelehrten in seinem privaten  Refugium. Es ist das 16. Jahrhundert, das, zu­ erst in Italien, das museion wiederentdeckte, und zwar als privaten, in das Haus, das Schloß, den Palast integrierten Ort des Studiums und des Sammelns.

Das musaeum des 16. Jahrhunderts rekonstruiert ,klassisches' Wissen, den ,antiken Text' und  sammelt  dafür  Material, nun aber nicht nur schriftliche Überlieferungen, also Manuskripte oder Inschriften, sondern Gegenstände, wie Kleinplastiken, Münzen, Naturobjekte, Mineralien, Pflanzen und Tiere - das Präparieren und Konservieren wird im 16. Jahrhundert zu einer Basistechnik von Musealisierung. Das Museum ist ein gleichsam  archäologisches Unternehmen, in dem  durch  Sammeln, Vergleichen und Ordnen  von Material ein ,Text' gebildet werden kann.

Der Begriff Museum strukturiert Praktiken des zwischen Privatheit und Öffentlichkeit changierenden Umgangs mit Wissen im Kontext sozialer Bestimmungen wie ,Prestige', ,Wissen',  ,Wahrnehmung', ,Klassifikation' und ist zugleich humanistisch und enzyklopädisch. Die Welt ist im Museumsraum exemplarisch und geordnet präsent. Das musaeum wird vor allem ein Lokalisationsprinzip, eine Definition von Orten, an denen  Lernen stattfinden kann.

Einerseits ist das Museum, wie das Zitat von Neickelius zeigt, ein kontemplativer Ort, an dem - vom lärmenden Treiben des Alltags fern -, gleichsam mönchische Arkanpraktiken des Wissenserwerbes und der Wissenspflege ihren Platz haben. Andrerseits sprengt das Enzyklopädische des Museums den Raum der Gelehrtenstube. ln der Reformation und Gegenreformation, auch durch die dadurch  ausgelösten politischen Katastrophen und durch die das Weltbild sprengenden Expeditionen und Entdeckungen gerät das  arkanhafte, private  Sammeln in eine Krise. Die Integration exotischer Fundstücke in das Sammeln sprengt die herkömmlichen Museumsordnungen. Das Sammeln spiegelt nun, ab dem 17. Jahrhundert, eine alogischere, pluralistischere Weit wieder. Die instrumentelle und pädagogische Bedeutung von Sammlungen zieht Publikum auf sich und es entwickelt  sich das Museum über das Private hinaus zum sozial und kulturell zweckgerichteten Ort.

Zum qualitativ Neuen der zu Ende des 18. Jahrhunderts etablierten Museumsidee gehört erstens die Ausdehnung der Publizität des Museums zum radikaldemokratischen  Anspruch, uneingeschränkt jedermann das Museum als Ort  der Erfahrung von Geschichte zugänglich zu halten. Und zweitens: die Historisierung der Sammlung und ihrer  Wahrnehmung.

Das Museum wird zum Gang durch die Zeit, durch die Geschichte. So wurde bei dem erwähnten Berliner Museum erstmals eine historisch-chronologische und nach Schulen gegliederte Disposition der  Sammlung vorgenommen. Die sorgfältig überlegte Hängung  sollte das Vergleichen möglich und die historische Anordnung  - auch unerstützt mit didaktischen Hilfsmitteln -, erfahrbar machen.

Die Abtrennung des Museumsortes von der ,übrigen Welt', als einem Ort, an dem die Dinge gleichzeitig sind, konstituiert Geschichte. Das Museum wird im 19. Jahrhundert in diesem Sinn ein Ort der unendlichen Akkumulation, in der "die Zeit nicht aufhört, sich auf den Gipfel ihrer selbst zu stapeln und zu drängen, während im 17. Jahrhundert und noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die Museen (...) Ausdruck einer individuellen Wahl waren.“

Die Idee, im Prinzip unvereinbare Zeiten und Räume, unvereinbare Stile und Epochen, unvereinbare Objekte an einem Ort zusammenzubringen, ist von der Idee beherrscht, die Zeit selbst aufzuheben, die Dinge, die Massen des Ererbten vor der Zeit selbst in Sicherheit zu bringen.

In diesen Dienst stellt sich eine museale Archäologie, die das mit den Toten bestattete Erbe, die selbst unsere Vorfahren aus den Gräbern holen wird, in diesen Dienst stellen sich die Raub- und Beutezüge der Moderne, die die Akkumulation musealer Sammlungen erst ermöglichen.

Das Selbstbild, das Museen von ihrer Entstehung und Entwicklung als Sammlung haben, ist das eines friedlichen und stetigen, gleichsam natürlichen Wachstums. Eine lange Geschichte glücklicher Funde, der Sammlerleidenschaft, von Geschick urid List begnadeter Persönlichkeiten, die mit Instinkt und Reaktionsvermögen, das Erbe mehrten.
Bei näherem Hinsehen erweist sich dieses Wachstum als Geschichte gewaltförmiger und widerrechtlicher An- und Enteignungen: vom Bildersturm und Bilderraub  der französischen Revolution bis zur Arisierung der NS-Zeit, von der Säkularisation, aus deren profaniertem Strandgut bedeutende europäische Museumsgründungen hervorgegangen sind bis zu den jüngsten Plünderungen des Irak in Kuweit, von den Expeditionen und Jagdkampagnen der Naturhistorischen Museen bis zur mit Zwang durchgesetzten und als freiwillige Schenkungen verbrämten Ablieferung von Kunstwerken und Kulturgütern der kolonisierten Länder an die Staaten Europas und Nordamerikas reicht die lange Kette widerrechtlicher und gewalttätiger Enteignung.

Auch die friedlicheren Prozesse der Vermehrung des Museumsgutes erweisen sich bei näherem Hinsehen mit Gewalt verbunden. Die bürgerliche Museumsidee ist eng mit einer reaktiven und kompensativen Bewegung verknüpft.

Ein sich beschleunigender zivilisatorischer Wandel läßt immer mehr Gegenstände immer rascher veralten. Diese Gegenstandsmassen werden nun weder auf Müllhalden geworfen, noch dem natürlichen Verfall noch der Zerstörung überlassen, sondern ziehen - als geschichtliches Gut oder als ästhetisch faszinierende Überreste - in immer neue Museen ein.                                                      ·

In der Schweiz etwa, einem Land mit der relativ größten Museumsdichte Europas
(nach Liechtenstein) wird derzeit durchschnittlich in jedem Monat ein neues Museum gegründet.

Die Masse der toten Arbeit vermehrt sich also mit unglaublicher Rasanz und der Widerspruch zwischen dieser Masse an toter Arbeit und der lebendigen Arbeit wird im­ mer schärfer.

Mit anderen Worten: die Möglichkeit, diese in Schausammlungen, Depots, Lagern
und Kellern, Tiefspeichern und Studiensammlungen aufgehäuften Mengen an Dingen durch wissenschaftliche oder pädagogische Arbeit wieder zum Leben zu erwecken, wird immer unwahrscheinlicher und immer vergeblicher.

Für die wohl meisten Museen gilt ja, daß vor allem die wissenschaftliche Arbeit in quantitativer  Hinsicht immer weiter hinter dem Sammeln, dem schieren Anhäufen, dem Horten hinterherhinkt. ln einem Prüfbericht des Rechnungshofes zu den Wiener
Bundesmuseen z. B. finden sich eindrucksvolle Zahlen dazu. So ist am Naturhistorischen Museum in Wien nicht einmal mehr die wissenschaftliche lnventarisierung möglich, wenn allein in der anthropologischen Sammlung jährlich 4000 Skelettreste anfallen.

Wenn aus lebendiger menschlicher Arbeit tote, verdinglichte Arbeit wird, so ist das ein Enteignungsprozeß. Die, die einen Gegenstand hergestellt, bearbeitet, benutzt und genossen haben werden vom Produkt ihrer Arbeit getrennt.

Musealisierung  ist ein solcher Enteignungsprozeß. Und er findet längst nicht mehr nur im und durch das Museum statt. Die Metapher von der Weit als Museum, die in den letzten Jahren in Umlauf gebracht wurde, beschreibt das Platzen des Museums. Die Obsession,  immer größere Lebensbereiche,  ganze Naturbezirke und Stadtgelände, Ensembles von Monumenten oder sogar vom Verschwinden bedrohte Arbeits­ und Lebensweisen bewahren zu wollen, ist die scheinbar grenzen- und widerstandslose Ausdehnung der Idee des Museums als Ort des Zeitstillstandes auf die ganze Welt.

Noch einmal: die Masse der toten Arbeit wächst beständig. Die Chancen, sie wieder in lebendige zurückzuverwandeln, schwindet aber nicht nur mit ihrer Massenhaftigkeit. Tote Arbeit übt Macht aus. Gegen die immens langfristigen Bewegungen ihrer Anhäufung scheinen die kurzen Zeit- und Lebensspannen, derer, die ihr gegenüberstehen ohnmächtig.

Zudem: Die Spezialisten im Umgang mit toter Arbeit wurden und werden enteignet. Und gerade die, die Herrschaft über tote Arbeit ausüben - die Kustoden, die Museumspolitiker und -verwalter -, verstehen nicht, oder nicht immer, mit ihr umzugehen. Ein Beispiel sind etwa industriehistorische Museen, die Arbeiter einstellen, um Maschinen zu warten, in Gang zu setzen und sie Besuchern zu erläutern.

Museen, die in der Verfügung derer stehen, deren Erinnerung sie enthalten, sind die seltenste Ausnahme. Bei der Mehrzahl der Museen werden die Produzenten von ihren Produkten und Produktionsmitteln durch Musealisierung getrennt und sie werden selbst zu Museumspublikum. Zu Konsumenten ihrer eigenen Vergangenheit, die ihnen als verwissenschaftlichte, erzählte und strukturierte Vergangenheit noch einmal enteignet  wird - unter einem fremdbestimmten Zugriff auf den sie keinen Einfluß haben. Tote Arbeit kann für ihre Produzenten selbst zum Mittel der Unterdrückung werden.

Wo aber jeder lebendige Umgang mit der Hinterlassenschaft fehlt oder versagt, bildet sich eine unheimliche Gegenständlichkeit aus der noch der letzte Rest an Erinnerung an vergangene Arbeit und Geschichte gewichen ist.

Es entsteht massenhaft "Verdinglichung" und das "bedeutet, menschliche Phänomene aufzufassen, als ob sie Dinge wären", was bedeutet, "daß der Mensch fähig ist, seine eigene Urheberschaft der humanen Weit zu vergessen, und [...] daß die Dialektik zwischen dem menschlichen Produzenten und seinen Produkten für das Bewußtsein verloren ist." Wo solche unheimliche Gegenständlichkeit in die öffentlich zugänglichen Schausäle einwandert, bildet sich immerhin noch die Erfahrung von Fremdheit, Andersartigkeit, von Alterität, das Museum kann zu einer Schule des Befremdens werden, in der inoffizielle Hinsichten, Blickweisen eingeübt werden könnten. Doch diese neue Diskussion über das Museum als Schule des Befremdens (Sloterdijk)  und Ort der Alteritätserfahrung (Waldenfels) sieht im Museum nur noch den Ort der spielerischen Einübung in das Befremden und benützt die durch Musealisierung erzwungen Distanz nicht mehr zur Kritik von Musealität und ihrem Zustandekommen.


Aber das Fehlen von eigensinniger, kritischer und lebendiger Arbeit oder ihre Ohnmacht angesichts der Menge und Last der Überlieferung erzeugen Realitätsverlust. Denn nur dann ist tote Arbeit tot, wenn sie nicht mehr in Beziehung zu setzen ist zu lebendiger Arbeit, denn nur diese Beziehung konstituiert Realität. Das Glück, die Erfahrung, der Genuß liegen nicht in den Dingen, sondern in den Beziehungen zu ihnen und an die Beziehungen, an die uns die Dinge erinnern.

Vermittlungsarbeit, die sich etwa unter der Prämisse der Objektvermittlung glaubt in den Dienst ,der Sache', d. h. auch: des Museums als Agentur des Erbes als stellen zu müssen, begnügt sich damit, mit den Resultaten von Musealisierung und mit institutionellen Sachzwängen unter Würdigungs- und Anerkennungspflicht zu operieren. Vermittler sind dann bloß Erbstauhelfer und Besichtigungsministranten.

Daher: Raus aus dem Museum!



Sonntag, 2. Juni 2013

Mikroausstellung "Vatertag"


Von oben nach unten: Erzherzog Johann mit seinem Sohn (SalzburgMuseum). Eine Ausstellungseinheit (Werbung und Museums'objekt') Volkskundemuseum Graz. Werbung Landesmuseum Joanneum zum Vatertag 2013

"Täuscht euch nicht, Mitbürger, das Museum ist keine oberflächliche Ansammlung von Luxusgegenständen oder Frivolitäten, die nur der Befriedigung der Neugier dienen sollen. Es muß eine Ehrfurcht bietende Schule werden. Die Lehrer werden ihre jungen Schüler hinführen; der Vater seinen Sohn. Der Jüngling wird beim Anblick der Werke des Genies in sich das Gebiet der Kunst oder Wissenschaft lebendig werden fühlen, zudem ihn die Natur berufen hat." Jacques Louis David vor dem Nationalkonvent. 1794

Kulturelle Bildung oder: Alles kann erklärt werden + Das Museum lesen (34)


"In Mexiko besucht Herr Palomar die Ruinen von Tula, der alten Toltekenhauptstadt. Ein mexikanischer Freund begleitet ihn, ein begeisterter und beredter Kenner der präkolumbianischen Kulturen, der ihm wunderschöne Legenden von Quetzalcoatl erzählt. Bevor er ein Gott wurde, war Quetzalcoatl ein König, und hier in Tula stand sein Palast; erhalten geblieben ist davon eine Anzahl stumpf abgebrochener Säulen, die sich rings um ein Impluvium verteilen, ein bißchen wie in einer altrömischen Villa.
Der Tempel des Morgensterns ist eine abgeflachte Stufenpyramide, auf deren breiter Plattform sich vier hohe zylindrische Säulenfiguren erheben, sogenannte »Atlanten«, die den Gott Quetzalcoatl als Morgenstern darstellen (indem sie einen Schmetterling, das Symbol des Sterns, auf dem Rücken tragen), außerdem vier Reliefpfeiler, die den Gefiederten Schlangengott darstellen, also wieder densel­ben Gott, diesmal in Tiergestalt.

All das kann man einfach nur glauben. Andererseits wäre es schwierig, das Gegenteil zu beweisen. In der altmexika­nischen Archäologie stellt jede Figur, jeder Gegenstand, jedes Detail eines Flachreliefs etwas dar, alles bedeutet etwas, das etwas bedeutet, das seinerseits etwas bedeutet. Ein Tier bedeutet einen Gott, der einen Stern bedeutet, der ein Element bedeutet oder eine menschliche Eigenschaft, und so weiter. Wir befinden uns in der Welt der Bilderschrift. Wenn die Tolteken schreiben wollten, zeichneten sie Figu­ren, aber auch wenn sie einfach nur zeichneten, war es, als ob sie schrieben: Jede Figur erscheint wie ein Bilderrätsel, ein zu entziffernder Rebus. Selbst noch die abstraktesten, rein geometrischen Friese auf einer Tempelwand können als Sonnenstrahlen gedeutet werden, wenn man darin ein Mo­tiv mit unterbrochenen Linien sieht, oder man kann eine Zahlenabfolge in ihnen lesen, je nachdem, wie sich die Mäander verschlingen. Hier in Tula wiederholen die Flach­reliefs stilisierte Tiere: Jaguare, Coyoten. Der mexikani­sche Freund erklärt Herrn Palomar jeden Stein, übersetzt ihn in kosmische Mythenerzählungen, Allegorien, moralische Reflexionen.

In den Ruinen zieht eine Schülergruppe umher: schmächtige Buben mit indianischen Zügen, vielleicht Nachkommen der Erbauer dieser Tempel, gekleidet in eine schlichte weiße Uniform mit blauen Halstüchern, wie sie die Pfadfinder tragen. Ein junger Lehrer führt sie umher, nicht viel größer als die Buben und kaum viel älter, mit dem gleichen runden und ruhigen braunen Gesicht. Sie steigen die hohen Stufen zur Plattform der Pyramide hinauf und scharen sich um die Säulen, der Lehrer erklärt, zu welcher Kultur die Säulen gehören, aus welchem Jahrhundert sie stammen, aus welchem Stein sie gehauen sind, dann schließt er: »Man weiß nicht, was sie bedeuten«, und die Schülerschar folgt ihm wieder hinunter. Zu jeder Statue, zu jeder Figur in einem Flachrelief oder auf einer Säule macht der Lehrer ein paar knappe sachliche Angaben, und jedesmal fügt er dann unweigerlich hinzu: »Man weiß nicht, was es bedeuten soll.«

Hier zum Beispiel ist ein sogenannter Chac-mool, ein Statuentypus, dem man recht häufig begegnet: eine halb liegende Menschenfigur, die eine flache Schale trägt. Auf diesen Schalen, sagen übereinstimmend die Experten, wur­den die blutigen Herzen der bei den Menschenopfern Ge­töteten präsentiert. An und für sich könnte man in diesen Figuren auch gutmütige, komisch-groteske Fratzen sehen, aber jedesmal, wenn Herr Palomar eine sieht, läuft ihm unwillkürlich ein Schauder über den Rücken.

Die Schülerschar kommt vorbei. Der junge Lehrer erklärt: »Esto es un chac-mool. No se sabe lo que quiere decir«, und geht weiter.

Immer wieder begegnet Herr Palomar, obwohl er den Erläuterungen seines Freundes folgt, am Ende der Schülergruppe und hört auf die Worte des Lehrers. Er ist fasziniert von der Fülle an mythologischen Querverweisen, mit denen sein kundiger Freund zu hantieren weiß, das Spiel des Interpretierens, die allegorische Deutung sind ihm stets als eine souveräne Übung des Geistes erschienen. Doch er fühlt sich auch von der entgegengesetzten Haltung des Schullehrers angezogen. Was ihm zunächst als ein schroffer Ausdruck von Desinteresse erschienen war, enthüllt sich ihm langsam als ein wohlüberlegter pädagogischer Plan, eine bewusst gewählte Methode dieses ernsten und gewissenhaften jungen Erziehers, eine Regel, von der er nicht abgehen will: Ein Stein, eine Figur, ein Zeichen, ein Wort, die uns isoliert von ihrem Kontext erreichen, sind nichts als eben nur dieser Stein, diese Figur, dieses Zeichen oder Wort; wir können versuchen, sie als solche zu definieren und zu be­schreiben, aber mehr nicht; wenn sie hinter dem Antlitz, das sie uns zeigen, noch ein verborgenes Antlitz haben, muss es uns verborgen bleiben. Die Weigerung, mehr zu begreifen als das, was diese Steine uns zeigen, ist vielleicht die einzig mögliche Art und Weise, ihr Geheimnis zu achten. Es erraten zu wollen, ist Anmaßung, Verrat an ihrer verloren gegangenen wahren Bedeutung.

Hinter der Pyramide gelangt man in einen Gang oder Korridor zwischen zwei Mauern, eine aus gestampftem Lehm, die andere aus behauenem Stein: die Mauer der Schlangen. Sie ist vielleicht das schönste Stück in Tula: ein Fries als Flachrelief, bestehend aus lauter Schlangen, von denen jede einen menschlichen Schädel im Maul hält, als wollte sie ihn gerade verschlingen.

Die Schüler kommen vorbei. Der Lehrer erklärt: »Dies ist die Mauer der Schlangen. Jede Schlange hält einen Schädel im Maul. Man weiß nicht, was sie bedeuten.«

Herrn Palomars Freund kann nicht länger an sich halten: »Aber ja doch, das weiß man sehr wohl! Es ist die Kontinui­tät von Leben und Tod, die Schlangen bedeuten das Leben und die Schädel den Tod: das Leben, das Leben ist, weil es den Tod in sich trägt, und den Tod, der Tod ist, weil es ohne Tod kein Leben gibt ...«

Die Schüler stehen baff mit offenem Mund, die schwarzen Augen weit aufgerissen. Herr Palomar denkt: Jede Übersetzung verlangt nach einer weiteren Übersetzung

und so fort. Er fragt sich: Was bedeuteten Tod und Leben, Kontinuität und Übergang für die alten Tolteken? Und was können sie für diese Kinder bedeuten? Und für mich? — Doch er weiß: Nie könnte er das Bedürfnis in sich ersticken, zu übersetzen, überzugehen aus einer Sprache in eine an­dere, .von konkreten Figuren zu abstrakten Worten, von abstrakten Symbolen zu konkreten Erfahrungen, wieder und wieder ein Netz von Analogien zu knüpfen. Nicht zu interpretieren ist unmöglich, genauso unmöglich wie sich am Denken zu hindern.

Kaum sind die Schüler um eine Biegung verschwunden, hebt die beharrliche Stimme des kleinen Lehrers wieder an: »No es verdad, es ist nicht wahr, was dieser Senor euch gesagt hat. Man weiß nicht, was sie bedeuten.«"

Aus: Italo Calvino: Herr Palomar. München, Wien: Carl Hanser Verlag 1985

Montag, 18. Februar 2013

Fundsache - Blind im Museum

Zwei Blinde examinieren Pistolen. Ab 1913 bot das Sunbderland-Museum in England spezielle Führungen und Veranstaltungen für Blinde an.