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Mittwoch, 31. August 2011

Das Goldene Zeitalter (Was ist ein Museum? 12)

Germain Bazin, Chefkurator der Gemäldesammlung des Louvre, hat 1967 eine Museumsgeschichte (The Museum Age) veröffentlicht, die seiner Profession entsprechend ihren Schwerpunkt auf der Geschichte des - europäischen und US-Amerikanischen - Kunstmuseums hat. Das Kapitel zum 19. Jahrhundert trägt den Titel "Goldenes Zeitalter".
Man glaubt ihn zu verstehen als passende Bezeichnung für die Durchsetzung und Ausbreitung einer Idee, ihre Universalisierung im globalen Maßstab und ihre (typologische) Differenzierung über das Jahrhundert hinweg. Das 19. wäre also das Jahrhundert, in dem sich das Museum als wichtige kulturelle Institution weltweit durchsetzt und das 'europäische Modell' vorbildlich wird.
Bazin meint es aber anders. Er bezieht sich auf das museale Sammeln. Er schwelgt in den Freiheiten, die das bürgerliche Zeitalter in einer Art von ursprünglicher Akkumulation der Kulturgüter noch gewährt habe. Sammlungen konnten nahezu beliebig aufgebaut, erweitert, ergänzt werden. Alles schien noch verfügbar, leistbar, erreichbar. Grabungskampagnen, militärische Operationen - das Modell gab Napoleons Feldzug in Ägypten ab -, die Entstehung eines Marktes für 'Museumsstücke', die Ausnutzung ungleicher Machtverhältnisse, die Kolonisierung - das alles ermöglichte eine nahezu grenzenlose Sammeltätigkeit. Museen mussten sich nicht einmal auf den 'Markt' begeben, sondern konnten, etwa in Ägypten, bei Agenten und Händlern gezielt, in der Sammlung 'fehlende' Objekte für eine bestellen - und es wurde geliefert.
Grabanlagen, Schatzfunde, ja ganze Tempel oder Altäre, monumentale Bauten und Ensembles von Kunstwerken, wanderten in die großen Museen europäischer Nationalstaaten. Diese konkurrierten untereinander auch mit ihren Museen und Sammlungen und das Sammlungsgut wurde, woher es auch kam, zum 'Nationalgut', das den Stolz und das Ansehen einer Nation mehrte. Das British Museum wird mit den Elgin Marbles zu dem Museum, als das wir es heute noch sehen und Berlin wird, erst Jahrzehnte später, mit dem Pergamonaltar ein Objekt besitzen, das einigermaßen der Londoner Metropole ebenbürtig macht.
„Von besonderer Bedeutung ist es", schreibt der Preußische Kultusminister an den König, "daß die Sammlungen der Museen, welche bisher sehr arm an griechischen Originalwerken waren […] nunmehr in den Besitz eines Werkes griechischer Kunst von der Ausdehnung gelangen, welche etwa nur in der Reihe der attischen und kleinasiatischen Skulpturen des Britischen Museums gleich oder nahe kommen.“
Die wirtschaftlich, politisch und militärisch überlegenen Staaten bedienten sich in jenen Regionen, in denen es weder eine nennenswerte Museumskultur, Denkmalpflege oder das - moderne - Bewußtsein für die Bedeutung des kulturellen Erbes gab. Unklare politische Verhältnisse, mangelnde rechtliche Regelungen, informelle Deals mit lokalen Behörden und Händlern, das Fehlen für ein Bewusstsein für den ästhetischen oder geschichtlichen Wert der eigenen kulturellen Überlieferung, das sind die Bedingungen, unter denen der Massentransfer in die Museen der großen europäischen Nationalstaaten vor sich gehen konnte.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war Europa von diesem Mechanismus selbst betroffen. Mit der Macht des privaten Kapitals wurden ungeheure Mengen und Qualitäten europäischer Kultur in die USA transferiert um dort weltweit 'konkurrenzfähige' Museen schaffen. Das Metropolitan Museum steigt in wenigen Jahrzehnten vom viertklassigen Stadtmuseum zu einem der bis heute weltweit bedeutendsten Museum auf. Noch in den 30er-Jahren wird der Gründungsdirektor des Museum of Modern Art, Alfred Barr, die ökonomische Überlegenheit der Vereinigten Staaten nutzen, um in Deutschland und der UdSSR, die sich in in einer depressiven wirtschaftlichen Situation befinden, die Grundlage für eine der bedeutendsten Sammlungen Moderner Kunst weltweit zu legen.
Mit einer Unbedarftheit, die heute (angesichts der Raubkunstdebatten) undenkbar wäre, feierte Bazin in seinem in den 60ern erschienenen Buch diesen Zustand als ein Eldorado der Sammler und der Museen. Er hält sich mit keinen moralischen und kulturgeschichtlichen Überlegungen auf. Als leitender Mitarbeiter des Louvre mußte er freilich wissen, daß dieses Museum, und gerade die ihm anvertraute Gemäldesammlung, umfassend auf gewaltförmiger und rechtsbrüchiger Grundlage entstanden war. Heute wäre eine solche Sichtweise nicht mehr zu vertreten. Die seit Jahren geführten Debatten um Arisierung, Raubkunst und Provenienzforschung haben die Politik und die Museen wie auch eine breitere Öffentlichkeit sensibilisiert.
Gewaltförmige Akkumulation ist aber nur eine Seite der gewaltigen 'Museumssammlung' des 'Goldenen Zeitalters'. Die zweite große Triebfeder ist die von Hermann Lübbe und anderen unter dem Stichwort Musealisierung beschriebene Dialektik. Der beschleunigte Wandel aller Lebensverhältnisse, das immer raschere Verschwinden von immer mehr materieller 'Umwelt' und Tradition, rief den Wunsch des Bewahrend hervor. Daß diese Bewegung nicht bloß konservierend verlief war dem gleichzeitigen Entstehen eines 'historischen Sinns' geschuldet, dem das Museum des Historismus aber auch die Geisteswissenschaften ihre soziale und geschichtliche Grundlage verdanken (J. Ritter). Musealisierung ist in erster Linie eine Art der Bewahrung, Erhaltung, Konservierung, aber ohne Formen der Aneignung würde das bloß zur Schaffung eines toten Gedächtnisses führen.
Ohne die Haussmanisierung von Paris hätte der Architekt und Denkmalpfleger Violett le Duc nicht sein (inzwischen aufgelassenes und transformiertes) Musée des Monuments gründen können, ohne die die Stadt tiefgreifende Veränderung Wiens durch den Bau der Ringstraße und die Erweiterung der Stadt, hätte es nicht jenen 'Reliktanfall' gegeben, der zu einer städtischen Sammlung und dann zu einem Stadtmuseum geführt hätte. Ohne den Verlust der wirtschaftlichen und politischen Machtposition hätte es in den Niederlanden keine Museen gegeben, mit deren Hilfe sie ihr 'Goldenes Zeitalter' museal pflegen und vorzeigen.
Ähnliches gilt für Naturmuseen. Sie spiegeln nicht nur die wachsende Naturbeherrschung durch Wissenschaft wieder, sondern auch deren spürbar werdende Zerstörung. Der durch Landflucht, Veränderung der Arbeitsweisen, soziale Umbrüche hervorgerufene Wandel dessen, was man 'das Land' nennen könnte, führte zu - vergeblichen - Versuchen, den spezifischen Hausfleiß, die handwerkliche Produktion ländlicher Bevölkerungen zu erhalten und zur Erweiterung der Musealisierung um volkskundliche und heimatkundliche Museen. Diese Liste ließe sich beliebig verlängern.
Daß in den Musealisierungsthesen ein solider Kern steckt, kann man an vielen zeitgenössischen Beispielen sehen, wo etwa die Erhaltung eines 'alten' Gebäudes oder einer mehr oder minder zufällig zusammengekommenen Sammlung zur Gründung von Museen führen. Ehe man sich von etwas trennt, sich selbst und dem Verfall überlässt oder durch etwas entschieden Neues ersetzt, beginnen jene offenbar tief verankerte Skrupel zu walten, die jede gegen 'das Alte' gerichtete Haltung wie mit einer Schuld kontaminieren.



Freitag, 21. Januar 2011

Das Ende der Kunst? Das Ende des Museums? (Was ist ein Museum 11)

Quatremere de Quincy
Die rasche - buchstäblich globale - Durchsetzung des zwischen etwa 1770 und 1810 entstandenen neuen - öffentlichen, wohlfahrtsstaatlichen, zivilisierenden - Modells des Museums als sowohl kollektiv wie individuell zivilisierender Praxis der Selbstvergewisserung und Selbstreflexion, läßt sich unschwer als Erfolgsgeschichte erzählen. Germain Bazin hat das in seiner Museumsgeschichte von 1967 auch so gemacht und vom 19. Jahrhundert als dem 'Goldenen Zeitalter' des Museums gesprochen.
Man übersieht dabei leicht, daß buchstäblich 'von Anfang an', und zwar mit großer Hellsichtigkeit und Schärfe, strukturelle Merkmale des Museums kritisiert wurden. Es gibt eine Kritik am Museum, die nicht mehr oder minder nebensächliche Aspekte betrifft, sonder die das Modell als solches analysiert.
Vordergründig nimmt das seinen Ausgangspunkt mit der Dialektik von Bildersturm, Kunstraub und Musealisierung im Frankreich der Revolution und dann Napoleons. Die Kritik wendet sich gegen die Plünderung europäischer Galerien und gegen die Zentralisierung von Kulturgütern an einem einzigen Ort, nämlich Paris.
Die bemerkenswerteste Kritik kam von einem Archäologen, Architekturtheoretiker und Kunstschriftsteller, der sich beim Aufbau des Louvre-Museums beteiligt hatte, und der aktiv in den ersten Jahren der Revolution an der Kultur- und Museumspolitik beteiligt war, der sich aber dann so weit von ihr entfernte, daß er schließlich als ein Feind des Staates und der Revolution 1796 in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurde.
Antoine-Chrysostome Quatremère de Quincy veröffentlichte genau in diesem Jahr, sozusagen aus dem Untergrund heraus, also mit großem persönlichen Risiko, eine Schrift gegen den Kunstraub in Italien. Sein zentrales Argument war die Herauslösung der Kunstwerke aus ihrem Umfeld, die einer Zerstörung gleichkäme. De Quincy hatte nicht nur das architektonische Ambiente im Auge, sondern sondern alle, auch lebensweltliche Bedingungen der Geltung eines Kunstwerkes, einschließlich des Gebrauchs, der Wahrnehmung, der Einbettung in Rituale usw.
Er spielte Rom (als Ort der Beraubung) gegen Paris (den Ort der musealen Akkumulation und Zentralisierung) aus. Rom verkörperte ihm das 'ideale' Museum, wo die Kunst noch ihren angestammten Platz einnahm, während die Museumsgründungen in Paris, namentlich die im Louvre, zu einer umfassenden Entfremdung der Kunst führen müssten. Und zwar auf doppelte Weise. Einmal wegen der Entkontextualisierung der Werke und ihrer Transformation zu Exponaten, dann aber auch wegen der Veränderung der Gebrauchsweisen von Kunst.
Das 'totale Museum', wie man es in Paris grade verwirklichte, so ahnte er, würde die Wahrnehmung der Kunst vollkommen verändern, es werde bloß ein „Magazin mit allen Schulen der Malerei“ werden, das mit seinem Nebeneinander zu einer Relativierung der Kunstwerke führen würde. Dagegen Rom: „Das wirkliche Museum von Rom, von dem ich hier spreche, besteht zwar aus Statuen, Colossen, Tempeln, Obelisken, Triumph-Säulen, Bädern, Circi, Amphitheatern, Gräbern, Stuccaturarbeiten, Fresco-Mahlereyen, Basreliefs, Inschriften, Fragmenten von Zierrathen, Baumaterialien, Meublen, Hausgeräthen u.s.w. Aber es gehören dazu auch die Orte, Gegenden, Berge, Steinbrüche, alte Wege, die Lagen der verschiedenen zerstörten Städte, die geographischen Vergleichungen, die nur im Lande selbstgemacht werden können.“
Quincy verschließt allerdings seine Augen vor jener Musealisierung der Kunst, die auch in Rom längst eingesetzt hat, mit den päpstlichen Regelungen zum Schutz und dem Ausfuhrverbot von Kunstwerken und der Schaffung des riesigen Museumskomplexes im Vatikan, dem Museo Pio Clementino. Noch zu seinen Lebzeiten wird im Vatikan die Pinakothek geschaffen und die Kapitolinischen Sammlungen in ein Museum verwandelt.
Das nimmt der Kritik am Museum aber nicht seine Brisanz: An dem, was im Louvre entsteht, kritisiert er den umfassenden Funktionswandel, die Verzeitlichung (in den Chronologien der Hängung), die einen „abergläubischen Respekt für das Alte“ fördere, aber auch die (Kunst)Kritik, die das 'Sentiment' ersetze, und schließlich das Entstehen eines neuen Publikums aus Künstlern, Amateuren und Laien. Diesen drei Publikumsgruppen mit ihren höchst unterschiedlichen Ansprüchen gefallen zu müssen, führe dazu, daß die ‚arts du génie’  aufhörten gesellschaftliche Leitbilder zu sein und stattdessen zu ‚arts de luxe’ würden, die der Unterhaltung des Publikums dienten.
Der „Missbrauch des Museums“ und der „Missbrauch der Kritik“ begünstige die Bewunderung von Eigenschaften, die der Kunst äußerlich seien. Die radikalste Schlussfolgerung betrifft aber die Konsequenzen der Musealisierung der Kunst für deren Produktionsbedingungen. Wenn Quincy argumentiert, daß das Museum der Kunst ihren 'Ort im Leben' nimmt, dann heißt das auch, daß das für die Herstellung von Kunst Konsequenzen hat. "Seit man Museen gegründet hat, um Meisterwerke zu schaffen (sic!), entstehen keine Meisterwerke mehr, um die Museen zu füllen.“
Wovon de Quincy spricht ist das Ende der Kunst - herbeigeführt von einer Institution, die doch gerade deren Geltung neu begründen soll. Wenn die alten Rahmenbedingungen sowohl für die Rezeption als auch für deren Produktion verschwinden, dann kann offenbar das Museum das nicht kompensieren. Es wird zum Ort der Kunst der Vergangenheit, ein "Ruheort der Kunst", wie man das anläßlich der Errichtung des Neuen Museums Berlin (1830 eröffnet) formulierte.
De Quincy deckt einen Grundwiderspruch des Museums auf, die Dialektik einer Transformation, die alles, keineswegs nur die Kunst, in etwas so radikal anderes verwandelt, daß das, was es vorher, vor dem Prozess der Musealisierung einmal war, vernichtet, zerstört.
Niemand hat das so präzise beschrieben und analysiert wie der Philosoph Joachim Ritter, der Musealisierung soziologisch als Reaktion auf umwälzende Prozesse der Moderne zurückführt: "Wo er (der Prozess der Modernisierung GF) einsetzt, ist immer die reale  Bewegung das Erste, in der das alte geschichtliche Gut: Trachten, Einrichtungen, Gerät aus den Häusern und Orten des Wohnens und Lebens, verdrängt wird. Aber dazu gehört, daß das so aus der gegenwärtigen Wirklichkeit Entfernte gleichsam sein Sein verändert; es wird ‚das Historische’ und zieht – als dieses sein reales Nichtsein hinter sich lassend – nunmehr der Bewahrung würdig in die Museen ein, die für es geschaffen werden."
Das liest sich wie ein spätes Echo auf de Quincys lakonischen Satz „Wenn man aus einer solchen Ansammlung (von Kunst im Museum GF
De Quincy ist der erste, der den immanenten Widerspruch des Museums benennt, der die europäischen Avantgarden immer wieder gegen das Museum aufbringen und mobilisieren wird. Ausgerechnet die Institution, die der Erhaltung und Pflege der Kunst dient, arbeitet an ihrer Abschaffung.
Alfred Barr: entwicklung der abstrakten Kunst
De Quincys Texte sind zwar ediert und zugänglich, aber abgesehen von spezialisierter Forschung spielen sie kaum noch eine Rolle - wiewohl sie so etwas wie die Gründungstexte einer analytischen und kritischen Museologie sind. Quincy ist, außer bei Architekturtheoretikern, fast in Vergessenheit geraten, aber die Symptomatik des Museums, die er als erster analysierte, begann in der Kunstpraxis und - theorie zu spuken: noch im 19. Jahrhundert beginnt jene Kritik des oder auch Abwendung vom Museum durch die Künstler selber, die sich in museumsstürmerischer Rhetorik ihre Abfuhr verschafft - man denke an das meist zitierte Beispiel des Futuristischen Manifests. Jemand wie Douglas Crimp hat die prekäre Dialektik des Museums auf seine modernsten Formen angewendet. In On the Museums Ruins zeigt er, wie das wegen seiner Ausweitung des Kunstbegriffs und der Schaffung völliger neuartiger Museumsdepartments berühmte Museum of Modern Art in New York gerade dadurch die Idee jener Avantgarde zerstörte, die die Sammlungen so besonders machten. Was man (unter Ausnutzung der krisenhaften ökonomischen und politischen Verhältnissen, aus dem Deutschland der Weimarer Republik und der revolutionären Sowjetunion nach New York brachte, wurde dort genau um das gebracht, was sie als Avantgarde ausmachte: lebenspraktisch alle künstlerischen Gattungsgrenzen und schließlich auch die Grenze von Kunst und Leben sprengend, wurde sie im Museum of Modern Art zur Versammlung der Meisterwerke.

Samstag, 18. Dezember 2010

Was ist ein Museum (Teil 10). Was bisher geschah und: Triumphzug mit Einspruch

Raffael: Kopf einer Muse. Studie zum Fresko "Parnass" in den Stanzen des Vatikan
Ich habe den "Fortsetzungsroman" mit dem Titel "Was ist ein Museum" nun schon lange unterbrochen. Um den Faden wieder aufzunehmen, scheint es mir nur fair, ein "Was bisher geschah" vorzuschalten, ehe ich ein neues Kapitel aufschlage.
Jede Frage was denn ein Museum ist, zieht eine zweite Frage mit sich, nämlich welches denn das erste gewesen sein könnte. In diesem Sinn habe ich mit einer sicheren und einer unsicheren Antwort begonnen. In "Das neuntälteste Museum der Welt" (Teil 1) behauptete ein Museum das neuntälteste zu sein, und damit zu wissen was das älteste und was überhaupt ein Museum sei.
Die Fortsetzung im Teil 2 listete verschiedene Antworten auf diese Frage auf, die durch ihre Verschiedenartigkeit das Problem eher verwirrten und verschärften. Und im dritten Teil, "Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück", wurde über die Unsicherheit, ja den Streit über die Benennung eines Hauses für die königliche Kunstsammlung in Berlin erzählt. Soll das, kann das 'Museum' heißen. Und wenn ja, warum?
Die Entscheidung war folgenreich, denn sie hat dazu beigetragen, daß 'Museum' das gebräuchliche Wort wurde, aber sie war alles andere als sicher untermauert.
Im vierten Teil bin ich einer Spur gefolgt, die die Debatte um das Berliner Museum legt: die der Herkunft des Wortes Museum. Diese Zeitreise bestätigte die Skrupel, die die Gelehrten in Berlin hatten; tatsächlich, so etwas wie ein Haus, in dem auf Dauer Gegenstände ausschließlich zum Zweck des Betrachtens bewahrt und ausgestellt werden, das gab es in der Antike nicht. Museion war der Versammlungsort der Musen, aber die Musen 'sammelten' nicht, sie sangen und tanzten.
Dennoch spinnt sich ein geistesgeschichtlicher Faden vom 8. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung (der ersten schriftlichen Erwähnung der Musen) bis in die Neuzeit herauf. Die Idee einer Art von kollektivem, gesellschaftlichem Gedächtnis (in der Antike: die gattungsgeschichtlichen Erzählungen des Mythos) einerseits und ein medientheoretischer und -kritischer Aspekt andrerseits. Denn in der Geschichte der Musen und ihres Aufenthaltsortes, dem Museion, spiegelt sich der zivilisatorische Bruch von lebendem und technischen Gedächtnis. Was nur mündlich überlieferbar war, wurde durch die Aufzeichnungsmedien Bild und Schrift dauerhaft, 'monumental, tendenziell unzerstörbar.
Die Dialektik von lebendem, aber kurzlebigem und schwankendem Erinnern und dinglicher, festgeschriebener Erinnerung, die das das lebende Gedächtnis bedroht, ist schon Stoff der antiken Philosophie selbst.
Das wird aber auch eine Hypothek für die Idee des Museums der Moderne werden. Die Dinge aufzubewahren und damit - nur vermeintlich - deren - Gedächtnis schon aktualisiert zu haben. An diesem Widerspruch wird sich die Kritik am Museum, namentlich die der künstlerischen Avantgarden, immer und immer wieder entzünden.
Vorerst waren aber das Museion und die Musen selbst vom Vergessen bedroht. Das christliche Mittelalter sah mit sehr raren Ausnahmen keinen Grund die 'heidnischen Götter' am Leben zu halten und erst die Rückwendung zu den antiken Überlieferungen in der mediterranen Renaissance des 15. und 16. Jahrhunderts ließ die Idee des Museion wieder aufleben. Und zwar als Ort der gelehrten Studien, als Ort der Sammlung, als Ort der beides beschützenden Musen, die zu diesem Zweck als Bilder oder Statuen (in Villen oder Parks) heraufgerufen wurden. Dem war der 5. Teil, "Die Wiederkehr der Musen", gewidmet.
Diese Entwicklung führt aber nicht zur privilegierten Verwendung des Wortes 'Museum'. Für die diversen Weisen des Sammelns und Ausstellens seit dem 16. Jahrhundert, gibt es viele Namen, Museum ist darunter (erstmals um 1550), aber einer unter vielen, und einer mit vielerlei Bedeutungen. Der Bedeutungsvielfalt und dem Bedeutungswandel von 'Museum' in der Neuzeit war der 6. Teil gewidmet, der bereist auf eine Entscheidung für den Gebrauch des Wortes vorbereitete. Nämlich der Schaffung mehrerer, für unterschiedliche Wissensbereiche zuständiger Museen in der Französischen Revolution und die Preisgabe einer Idee eines universalen Wissens- und Bildungsortes. Bis dahin waren beide unter dem Begriff Museum transportierten Optionen offen gewesen.
Der Louvre. Als 'Musée Napoleon' auch ein Ort der 'Trophäen', der im militärisch eroberten Ausland erbeuteten Kunstgüter.
Die Französische Revolution (Teil 7 "Museum und Guillotine") ist die für die Entstehung des Museums, wie wir es heute kennen und betreiben entscheidende geschichtliche Epoche. Denn jetzt verbinden sich viele der älteren Strukturmerkmale des Sammelns und Ausstellens mit der Idee der national verfassten Gesellschaft, die im Museum einen Ort schafft, ihre Geschichte und kollektive Identität zu repräsentieren und zu verhandeln. Damit tritt der Staat in die Rolle des treuhänderisch die gesellschaftlichen Interessen vertretenden und durchsetzenden Finanziers und Protektors, der Bildung für jedermann als museales zivilisierendes Ritual ermöglicht. Das aber zu seinem Nutzen, denn der gebildete und aufgeklärte Bürger identifiziert sich als Citoyen mit Staat und Gesellschaft und wirkt an deren Entfaltung und Vervollkommnung mit.
Zugänglichkeit für jedermann ist also kein Ziel des Museums, sondern Bedingung, daß die zivilisierende Aufgabe des Museums wahrgenommen werden kann.
Nach einem 8. Teil zur sofort einsetzenden 'Globalisierung' der Museumsidee und der Vorbildlichkeit des Französischen Modells, das im Schlepptau der französischen Armee in vielen europäischen  Städten angesiedelt wird, habe ich dann im 9. Teil diesen zentralen Punkt der modernen Idee des Museums präzisiert - den Übergang von der Nutzung von Sammlungen und Ausstellungen als Vergünstigung (bis dahin sind mit raren Ausnahmen alle diese Praktiken privater Verfügungsgewalt) zum Museum, zu dessen Nutzung ein verbrieftes Recht besteht. Das transformiert den Sinn der Institution fundamental und macht das Museum, wie seine Architektur, seine städtebauliche Situation und der mediale Diskurs, in den es einbezogen ist, zeigen, zu einem Schlüsselphänomen der Moderne.

Von hier aus könnten wir also den Triumphzug einer Idee beschreiben, so wie es George Bazin in seiner Museumsgeschichte gemacht hat, der vom 19. Jahrhundert als dem Goldenen Zeitalter des Museums spricht. Aber es lohnt sich, auf etwas einzugehen, worüber dieser Triumphzug hinweggerollt ist: die essentielle Kritik die das Museum bereits im Moment seines Entstehens begleitet.

Das ist mein nächstes Thema - demnächst....

Sonntag, 8. August 2010

Zugang als Vergünstigung - Zugang als Recht. Der Strukturwandel der Museumsöffentlichkeit. (Was ist ein Museum? 09) (überarbeitet)

Kaiserliche Galerie in der Stallburg, Wien

Die kaiserliche Gemäldegalerie im Belvedere

Der Einschätzung von Aufklärung und Französischer Revolution als Zeit des vollkommen Umbruchs der Museumsidee steht eine andere Sichtweise entgegen. Sie betont die Kontinuität, und führt namentlich fürstliche Sammlungs- und Museumsgründungen des späten 17. und des 18.Jahrhunderts als Beispiele an - als Beispiele einer bereits auf eine breitere Öffentlichkeit berechnete Sammelpraxis und Ausstellungspolitik.
In den meisten Fällen entzaubert ein etwas genauerer Blick auf die tatsächlichen Möglichkeiten, Sammlungen zu besichtigen oder gar zum Studium zu nutzen, den Anspruch auf ein 'öffentliches Museum'. Die Zahl der Besucher war oft auf wenige begrenzt und oft waren mehr oder weniger ausdrücklich untere soziale Schichten ausgeschlossen.
Wo Regelungen fehlen, bestimmten für die Pflege der Sammlung verantwortliche Personen mehr oder minder willkürlich über die Zulassung von Besuchern und darüber ob dies etwas kostete, ob Trinkgeld verlangt wurde oder ob der Zutritt frei war.
Unter diesen Bedingungen läßt sich kaum von einem Aufbruch zu einer neuen Museumsidee sprechen. So lassen sich zwar für die Düsseldorfer Gemäldegalerie, einer zu ihrer Zeit berühmtesten Europas, viele prominente Besucher nennen, denn sie lag sozusagen verkehrsgünstig an diversen Reiserouten und war ein als guter Tipp in Reiseführern ausgwiesen, aber auch hier gab es relativ restriktive Bedingungen der Publikumsnutzung.
Sicher, gegenüber der ehedem übercodierten Begegnung mit dem Schatz oder einer Sammlung in einem höfischen Zeremoniell war die Praxis, ein weitgehend anonymes Publikum zuzulassen, ein Entwicklungsschritt. Was damit möglich wurde, war die wissenschaftliche Beschäftigung, die künstlerische Weiterbildung und die touristische Besichtigung - aber das nur für Wenige.
Öffentlich wird in der museumsgeschichtlichen Literatur in der Regel gleichbedeutend mit Zugänglichkeit verwendet. Und das völlig unabhängig davon, welcher Typ von Sammlung aus welcher Epoche beschrieben wird. Aus der Zugänglichkeit allein (in welchem Umfang auch immer) auf das Vorhandensein von Öffentlichkeit zu schließen, ist zwar gängige Forschungspraxis aber grob irreführend. Im Grunde wird das Wort bloß zur Unterscheidung von unzugänglich und zugänglich verwendet und bloß quantifizierend ohne jede Rücksicht auf die Interessen der Besucher, den Modus und die Ziele des Besuchs oder Zwecke, die der Sammlungseigner verfolgte. Manchmal hat man den Eindruck, daß schon zwei Besucher eine Öffentlichkeit bilden sollen.
Unterschlagen wird dabei recht großzügig, daß 'Öffentlichkeit' selbst einem zeitlichen Wandel unterliegt und gerade in der Zeit der Aufklärung und bürgerlichen Revolutionen einem dramatischen Funktions- und Bedeutungswandel unterliegt und daß dies eine Zäsur in der Sammlungsgeschichte sein könnte.
Neuland wird tatsächlich dort betreten, wo sich im letzten Drittel des 18. Jahrhundertsphysiokratische Ideen einer für das Staatswesen nützlichen Funktion von Sammlungen durchzusetzen begannen. Dort wo das der Fall war, traten Sammlungen selten ohne begleitende Wissensräume des praktischen Experimentierens oder des theoretischen Diskurses auf, wie etwa in Kassel, oder in der geradezu modellhaften Museumspolitik, die unter der habsburgischen Herrschaft über die Toskana unter Großherzog Leopold betrieben wurde. Hier war sie wie nirgends sonst in eine umfassende verfassungspolitische, wirtschaftliche und verwaltungstechnische Reform eingebunden.
Auch die habsburgische Museumspolitik in Wien war zu dieser Zeit sehr fortschrittlich, allerdings vorerst nur in Bezug auf eine einzige Sammlung - die Gemäldegalerie.
Ihre Transferierung von der Stallburg in das ehemals von Prinzen Eugen erbaute und bewohnte Schloß Belvedere wurde für eine umfassende Reorganisation genutzt. Man darf sich nicht vorstellen, daß eine fürstliche Sammlung damals ein relativ fest umrissener Bestand von Bildern war, ähnlich einer heutigen Museumssammlung. Bilder wurden erworben, weggegeben, verschenkt, verkauft, getauscht oder zu Ausstattungszwecken an verschiedenste Orte gebracht. Das war in Wien auch noch nach der Eröffnung der Galerie in den 70er-Jahren des 18.Jahrhunderts so und das, obwohl man zuvor eine Generalinventur veranlasst hatte, die erstmals den gesamten habsburgischen Gemäldebesitz erhob.
Was an Wien so interessant und nahezu einzigartig ist, ist die Kombination von expliziter und geregelter freier und kostenloser Zugänglichkeit mit einer Hängung der Sammlung nach damals avancierten Erkenntnissen zur Geschichte der Kunst (vor dem Entstehen einer Kunstwissenschaft).
Der für die Disposition der Sammlung verantwortliche Kupferstecher Christian von Mechel schrieb im ersten Katalog der Galerie: "Der Zweck alles Bestrebens ging dahin, dieses schöne durch seine zahlreiche Zimmer=Abtheilungen dazu voellig geschaffene Gebäude so zu benutzen, daß die Einrichtung im Ganzen, sowie in den Teilen lehrreich, und soviel möglich, sichtbare Geschichte der Kunst werden möchte. Eine solche grosse öffentliche, mehr zum Unterricht noch, als nur zum vorübergehenden Vergnügen, bestimmte Sammlung scheint einer reichen Bibliothek zu gleichen, in welcher der Wißbegierige froh ist, Werke aller Arten und aller Zeiten anzutreffen, nicht das Gefällige und Vollkommene allein, sondern abwechselnde Kontraste, durch deren Betrachtung und Vergleichung (den einzigen Weg zur Kenntnis zu gelangen) er Kenner der Kunst werden kann."
Die Bewertung, wie revolutionär dies war, schwankt, auch die, ob man diese Disposition der Gemälde bereits historisierend nenen kann, aber sicher ging es um eine Vermittlung von Erfahrungen und Kenntnissen an eine breite Öffentlichkeit, die über Zusammenfassung nach Schulen und immanenter chronologischer Ordnung und unter anderem über 'technische' Innovationen wie einheitliche Rahmung und Beschriftung der Gemälde erreicht werden sollte.
Zwar wurde diese Ordnung bald verwässert, aber das offenbar Neue daran wurde vielfach studiert und nachgeahmt. Und es entstand eine breite Diskussion über die Sinnhaftigkeit der Neuordnung. Mit dem Fortschreiten der kunstgeschichtlichen Erkenntnisse wuchsen nämlich die Ansprüche an solche Sammlungen wie die in Wien rasch, die von einer museologischen Debatte avant la lettre begleitet wurden und ihrerseits auf die Neuaufstellungen von Sammlungen oder Neugründungen von Museen Einfluß hatten. So griff man andernorts, z.B. in Berlin, auf Mechels Disposition zurück, aber nicht ohne Weiterentwicklung seiner Prinzipien.
Während man bezüglich der Beurteilung der Nutzung der Sammlungen durch ein Publikum oft auf Quellen zurückgreifen muß, die aus einer affirmativen Perspektive verfasst wurden, ist es in Wien anders. Reiseberichte, die die 'Gefährdung' der Gemälde durch Besucher bemerken und beklagen, belegen, welche Dynamik diese neue Öffentlichkeit gehabt haben muß. Man stellte tatsächlich Wächter an den Eingang und erließ Verbote, z.B. das Mitnehmen von Stöcken. Das sind Indizien für einen anonymen, nicht oder kaum zensierten 'Massen'besuch, auf den man einerseits 'didaktisch' reagierte (Katalog; Beschriftung), andrerseits disziplinierend (Wächter oder Wärter, also Aufsicht, Hausordnungen; später, in anderen kaiserlichen Kabinetten, kamen noch Veränderungen in der Aufstellung der Sammlung selbst hinzu, die Bewachung und Erläuterung durch Personen weitgehend überflüssig machen sollten).
Reaktionen auf den freizügigen und kostenlosen Zugang zur Wiener Sammlung zeigen klar, daß es aber auch um den 'Skandal' ging, daß offenbar bislang ausgeschlossene soziale Schichten von der 'Einladung' tatsächlich Gebrauch machten. "Dieses Verbot (Stöcke mitzunehmen G.F.) ist sehr billig, man sollte vielen naseweisen Herren, wenn es möglich wäre, auch ihre Finger ablegen lassen. Auch die Kinder sind der Galerie gefährlich; weil sie manchmal mit schmutzigen Fingern die vortrefflichsten Stücke betasten. " (Ein zeitgenössicher Reiseführer).
Das hätte wohl keine Folgen gehabt, wenn nicht der Direktor der Galerie, der Maler Heinrich Füger, selbst Anstoß an der unbeschränkten Zugänglichkeit genommen hätte. Und das gleich in Form eines Schreibens an den Kaiser (1813), in dem er glaubte daran erinnern zu müssen, "daß der öffentliche Einlaß eine Vergünstigung seiner Majestät, aber kein unbedingtes Recht ist. (…) Die willkürliche Zulassung der allergeringsten Volksclassen von der Straße wird dadurch vermindert" (durch Verordnungen, die das Aufsichtspersonal durchzusetzen hätte; G.F. ), "für welche Kunst- und wissenschaftliche Sammlungen nicht geeignet sind, und den gebildeten Ständen des Publicums wird der Genuß der Gallerie um so viel angenehmer werden, der nur bei geräuschloser Betrachtung der Kunstwerke stattfinden kann..."
Und weiter: "Das Gegenteil" (Von Anstand und Ordnung die in den Kabinetten herrsche; G.F.) "hat eine langjährige Erfahrung bei ehemals aus den besten und humansten Absichten bestehenden unbedingten freyen Einlasse in die Galerie erwiesen (…) Tagwerker und Kellnerburschen, Wäscher- und Kuchelmenscher mit ihren Galanen sowie die gemeinsten Weiber mit halbnackten Kindern gingen aus und ein. Kindergeschrei und Unreinlichkeiten beleidigten öfter die Sinne der Anwesenden."
Das läßt an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig. Sehr signifikant ist der Satz ganz am Anfang. Hier geht es um genau jene Demarkationslinie, mit der eine Trennlinie zwischen den neuzeitlichen Sammlungspraktiken einerseits und der modernen Museumsidee andrerseits gezogen werden kann. Ist die Zugänglichkeit eine "Vergünstigung" - die gewährt werden kann oder auch eben nicht -, oder geht es um ein "Recht". De jure war es bezüglich der Gemäldegalerie in Wien kein Recht, de facto offenbar ja.
Die Qualität des Museums der Moderne läßt sich genau an diesem Recht festzumachen (erstmals allgemein als Zugang zu Bildung für jedermann in der Französischen Verfassung von 1793 garantiert). Aber nicht allein daran: erst der gemeinsame (staatliche) Besitz und die Vorstellung eines gemeinsamen kulturellen Gutes (in Frankreich: Patrimoine), eines "common object", zusammen mit dem Recht auf (Museums) Bildung machen den Kern der neuen Museumsidee aus. Und dann ist Öffentlichkeit auch keine Vergünstigung mehr für wenige, sondern eine diskursive Sphäre, in der Bildung und Kritik entstehen und zirkulieren kann, auch für die, die Füger unbedingt ausschließen wollte und die bis heute ausgeschlossen blieben, "die allergeringsten Volksclassen".

Sonntag, 11. Juli 2010

Das Museum: eine europäische Idee mit globalem Echo (Was ist ein Museum? 08)

Die Behauptung (im letzten Post zu "Was ist ein Museum?"), die Museumsgründungen der Französischen Revolution hätten eine tiefgreifende Bedeutungsänderung dessen bewirkt hat, was das Wort Museum ab dieser Zeit bezeichnet, ist in dieser Zuspitzung eine sehr persönliche Sicht der Dinge. Mit der stehe ich aber nicht alleine da und in  der sehr langen Beschäftigung mit dem Thema ist meine Überzeugung gewachsen und haben sich die Argumente vermehrt, die die Jahre 1792 bis 1794 als tatsächliche Zäsur erscheinen lassen.

Aber die Museumsgeschichtsschreibung bevorzugt, namentlich die des Louvre, eher eine Darstellung als Kontinuität. Demnach wären die Jahre, in denen der Französische König, auf Druck der Öffentlichkeit, einen Teil seiner Gemäldesammlung zeigte, der erste Baustein zum Museum im Louvre gewesen, aus dem sich die spätere Gründung eines Museums im Louvre gleichsam zwingend und organisch entwickelt hätte. Wer die große historische Ausstellung zur Geschichte im Louvre selbst besucht, die dem Bau und dem Museum gewidmet ist, der wird kaum erkennen, daß da so etwas wie eine Revolution überhaupt stattgefunden hat und auch nicht, wie sehr sie die Museumsgründung im Louvre und die Idee des Museums generell beeinflusst hat.
Gerade weil es keine kontinuierliche und zielstrebige königliche Politik zur Etablierung eines öffentlichen Museums gab, und Paris keine anderen europäischen Metropolen vergleichbare Institution besaß, wurde die Museumsgründung vom 10. August 1793 (dem Jahrestag der Erstürmung der Tuilerien) zum revolutionären politischen Akt und das Gegenteil einer bloßen Weiterführung königlicher Initiative. Ganz im Gegenteil: es war ein der vielen symbolischen Akte, die zur Gründung der Republik gehörten und wer die Galerie d'Apollon betritt, findet über dem Eingang die Inschrift, die die Museumsgründung als Initiative des Parlaments des Jahres II würdigt.

Das Neue und Bahnbrechende der Gründung spiegelt sich unter anderem in einer paradoxen Reaktion auf den Bilderraub der Revolution. Die militärische Expansion der Französischen Armee wurde von Experten begleitet, die aus bedeutenden Sammlungen wertvollste Kunstwerke nach Paris bringen ließen. Eine der unglaublichsten Aktionen war wohl die Demontage der antiken Quadriga von San Marco in Venedig und ihr Transport nach Paris. Während dieses einzigartige Objekt bald wieder restituiert wurde, blieben viele andere Werke (bis heute) in den Sammlungen des Louvre. Dennoch war der Louvre sofort ein Magnet für die Bildungsschicht vieler europäischer Staaten, die dieses neuartige Museum bewunderten und seinen Ruhm literarisch verbreiteten. Wie rasch das ging, und wie bedeutend man das und andere Pariser Museen einschätzte, kann man z.B. an ungewöhnlich umfangreichen Lexikonartikeln ablesen, die bald nach der Gründung des Musée Napoleon im Louvre ediert wurden. Lexika, mit denen ein Wissen ja kanonisiert und verbindlich wird, waren aber natürlich das einzige Echo. Von Wilhelm von Humboldt sind erstaunte und analytische Zeilen z.B. zum Musée des Monuments Française erhalten. Daß beim Museum, das für die Königliche Sammlung in Berlin errichtet wurde (1830 eröffnet; heute: Altes Museum), Erfahrungen der Französischen Gründungen verarbeitet wurden, ist evident. Vorsitzender der Kommission, die das Konzept entwickelte war - Wilhelm von Humboldt.

Doch der Einfluss auf die europäische Entwicklung war auch sehr direkt. In den von Frankreich annektierten Gebieten wurden nicht einfach nur Galerien und Sammlungen geplündert, um damit den Louvre zu bereichern, sondern es wurden auch Museen gegründet und entwickelt, bzw. unmittelbar - von der politischen Entwicklung getragen - beeinflusst und inspiriert. Darunter sind illustre Museen, wie der (als Naturmuseum errichtete) Prado in Madrid, die Accademia in Venedig, die Brera in Mailand, das Rijksmuseum in Amsterdam, das Kunstmuseum in Brüssel. Gelegentlich ging der Bildtransfer auch den entgegengesetzten Weg. 36 Gemälde, die aus dem Louvre nach Mainz geschickt wurden, bildeten 1803 den Grundstock für eine Museumsgründung.

Noch breiter war der indirekte Einfluss. Daß Museen so etwas wie einen Staatsnutzen haben können - etwa in der Förderung der verschiedenen Wissenschaften -, das galt schon für vereinzelte Gründungen aufgeklärter Fürsten, aber das Hinzutreten einer kollektiven identifikatorischen Aufgabe, im Sinne der Stiftung eines Landes- oder gar Nationalbewusstseins, das ist neu. Neu ist auch, die Sphäre der Öffentlichkeit, die den Resonanzraum des Museums bildete, idealerweise als nicht begrenzt anzusehen. Mit anderen Worten: Die Nutzung des Museums als Recht für jedermann zu deklarieren. Das war aber nicht das Ziel des Museums, sondern die Bedingung, sich als Staatsbürger zu bilden, nicht zuletzt im Interesse des Staates selbst. Dieses Ziel stand im Zentrum der Konzeption, des 1830 eröffneten Museums am Lustgarten in Berlin. Der Anlass zu seiner Entstehung war die feierliche Rückführung der in der napoleonischen Zeit geraubten Kunstwerke von Paris nach Berlin. Das lässt Museumsprojekt einerseits als so etwas wie ein gegenrevolutionäres Projekt erscheinen, aber andrerseits ist es als Ort der Humanisierung der Nation vermittels der Humanisierung seiner Bürger (Hermann Lübbe) tief den Pariser Gründungen verpflichtet.

Das Museum ist in dieser Hinsicht ein europäisches Modell. In der Zeit zwischen etwa 1770 bis 1830 setzt sich eine moderne Idee des Museums durch, die nicht nur bis heute (oft subkutan, fragmentarisch, mißverstanden, entstellt, aber doch nachhaltig) unsere Vorstellung vom Museum bestimmt, sondern die auch eine weltweite Erfolgsgeschichte wird. Dieses Modell unterscheidet sich von allen bis dahin geübten Praktiken des Sammelns und Hortens, Ausstellend und Schaustellens. Keine andere Kultur hat je die - durchaus merkwürdige - Vorstellung ausgebildet, Objekte auf unbestimmte Dauer zum Zweck der Betrachtung aufzuheben und auszustellen.
Aber in dieser Idee bleibt - und das macht das Museum der Moderne noch einmal zu einem genuin europäischen Projekt - eine Idee lebendig, die damals als ebenfalls einzigartig, die antike griechische Kultur im 8. Jahrhundert vor Christus hervorgebracht hat: die Idee einer kollektiven Erinnerungs- und Erzählinstanz - die Musen und das Museion.

Die Verbreitung dieser Idee in der Französischen Revolution erfolgt 'sofort' in allen Weltgegenden noch in den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Unser "neuntältestes Museum" in Kalkutta gehört hierher ebenso wie die Gründungen der unabhängigen Staaten von Amerika, die ersten Museum in Australien, Südamerika und Afrika. Daß es dabei eine quantitative Differenz der Entwicklung gibt ist evident. Sie hat aber weniger geografische oder kulturelle Gründe, sondern der wichtigste Indikator für den quantitativen Entwicklungsstand und die spezifische nationale Bedeutung von Museen, hängt eng mit dem Stand der wirtschaftlichen Entwicklung zusammen. Das gilt für unterschiedliche Museumstypen unterschiedlich stark und ist - dazu existieren gute Statistiken -, am extremsten bei Museen moderner bzw. zeitgenössischer Kunst. Sie wurden und überwiegend in den hochentwickeltsten Regionen industriell potenter Staaten errichtet, Kanada, Japan, USA, Europa. Zur Illustration dieser Behauptung kann man auf den eben anlaufenden Boom von Museumsgründungen in China verweisen, der ganz offenbar mit der wirtschaftlichen Entwicklung eng zusammenhängt. 1000 Museen sollen in nur 10 Jahren errichtet werden!

Wenn ich die Rolle der Museumsgründungen in der Französischen Revolution so nachdrücklich betont habe, dann bedeutet das nicht, das damit ein umfassender Bruch vollzogen worden wäre und ab dieser Zeit nur ein einziges Modell Geltung hätte. Auch hier gibt es eine Dialektik von Kontinuität und Bruch. Einerseits gibt es Elemente früherer Entwicklungen, die im neuen Museumsmodell tradiert werden, umgeformt, neu codiert, in neuen Konfigurationen neue Bedeutung erhaltend. Andrerseits existieren ältere Formen des Sammelns, Ausstellend weiter, und das Nebeneinander sehr heterogener Formen, das gilt bis heute. Die strikt private, extrem exklusive Sammlung steht neben dem öffentlichen Schaumuseum, das Wissenschaftsmuseum mit seinen Forschungsobjekten neben der fürstlich-repräsentativen Sammlung (z.B. des englischen Königshauses), das Vereinsmuseum neben der Kunsthalle des Großkonzerns.

Samstag, 8. Mai 2010

Guillotine und Museum (Was ist ein Museum 07)

Um zu verstehen, wie tiefgreifend sich in der Französischen Revolution das ändert, was das Wort Museum ab nun bezeichnet, genügt es zunächst, ein wenig Ereignisgeschichte zu erzählen. Mit dem Bildersturm in der ersten Phase der Revolution werden alle Zeichen und Spuren des Despotismus, des Ancien Regime attackiert. Ganze Bauten wie Kirchen werden demoliert oder profaniert, Denkmäler gestürzt, selbstverständlich die der Könige zuerst, Bibliotheken, Archive - im Grunde alles, was an die verhasste und gestürzte Herrschaft erinnern kann -, wird verkauft, versteigert oder zerstört.
Je umfassender dieser, teils gesteurte, teils anarchische Vandalismus wird, desto mehr wird eine Kehrseite des Bildersturms sichtbar und in den Diskussionen, auch der des Nationalkonvents, bemerkbar.
Sich aller Erinnerungsspuren zu entledigen, liefe in letzter Konsequenz auf eine totale Amnesie hinaus, auf eine Aufsprengung des zeitlichen und geschichtlichen Kontinuum, wie es ja in der Einführung einer neuen Zeitrechnung bewußt angestrebt wurde.
Zu derselben Zeit schärfte sich aber das Bewußtsein eben für dieses Kontinuum des geschichtlichen, zivilisatorischen Prozesses, für die Geschichte der Gattung, für eine Entwicklung, die sich als Gesamtheit in einem (als Singular) neuen Wort bildtete: (Die) Geschichte.
Die religiösen un die alten politisch-gesellschaftlichen Sinnstiftungen implodierten und mußten durch neue ersetzt werden, und eine dieser Legitimations- und Sinnstiftungsinstanzen konnte die (nationale) Geschichte sein. Das einigende Band der Gemeinschaft, der religiöse Glaube und der an seine weltliche Statthalterschaft des Königs gebundene politische mußten ersetzt werden.
Eine Gemeinschaft, die ihre Möglichkeiten, ihr Gemeinsames auszubilden, zu symbolisieren und anzuerkennen nicht nur verliert, sondern aktiv zerstört, gerät in eine tödliche Krise; der Höhepunkt dieser Krise ist in den Jahren 1793 und 1794 erreicht, wo der Bürgerkrieg zum Exzess wird, und der König auf die Guillotine geschickt wird.
Der Großen Enzyklopädie zufolge wurde das erste Museum im modernen Sinne des Wortes (das heißt, die erste öffentliche Sammlung) am 27. Juli 1793 vom französischen Nationalkonvent gegründet. Dies würde bedeuten, daß der Ursprung des modernen Museums mit der Entwicklung der Guillotine einherging. Dieser Satz Batailles (siehe dazu den Post Das Museum lesen 10) trifft etwas Wesentliches:
Denn jetzt ist die Stunde einer neuen Idee, für die in den Debatten des Nationalkonvents, ein altes, aber mit neuem Inhalt gefülltes Wort auftaucht: Patrimoine. Erbe, väterliches Erbe. die Vorstellung eines Gesamt von ideellen und materiellen überlieferten Werten, auf die man sich in Narration und Symbolisierung beziehen kann. Und deshalb ist das auch die Stunde des Museums, auch ein altes Wort, das nun mit neuen Inhalten aufgeladen wird.
Man kann das langsame Kippen der Debatte um den Bildersturm genau verfolgen; vom frühen Enthusiasmus über erste Skepsis und Einwände bis zu den Anfängen einer Politik des Erbes, die in Maßnahmen zum Erhalt bedrohter Zeugnisse führen und schließlich zum Entschluß, Museen zu gründen.
Mit der Gründung mehrer großer Museen, beginnenden mit dem Museum im Louvre am 10. August 1793, schafft man ein Common Object an kulturell-geschichtlichen Objekten, um die sich die Gemeinschaft bilden und sammeln kann - buchstäblich und symbolisch.
Diese neuartige Identifizierung der Gemeinschaft findet in einer Verschränkung von Individuum und Gesellschaft statt. Die Eröffnung des Museums im königlichen Schloß, im Louvre – ich zitiere Andrew McClellan, den Historiker der Geschichte des Museums in der Revolutionszeit -, “was tied to the birth of a new nation. The investiture of the Louvre with the power of a revolutionary sign radically transformed the ideal museum public. To the extent that the Louvre embodied the Republican principles of Liberty, Equality, and Fraternity, all citizens were encouraged to participate in the experience of communal ownership, and clearly many did.” (vgl. Die Idee des Museums in diesem Blog)

Wovon Mc Clellan spricht, ist ein Museum, das in so gut wie allem weit über das hinausgeht, was je einer Sammlung früher zugeschrieben werden konnte. Das Museum ist nicht nur nicht eine bloß zufällig-nebensächliche kulturpolitische Maßnahme, sondern steht im Zentrum der gesellschaftlichen Integration, ja mehr als das, sie konstituiert sie - mit anderen Ereignissen und Prozessen - mit.
Welch emphatische Bedeutung die Gründung des Museums im Louvre (also im annektierten Königsschloß) hatte und seine Eröffnung am 10. August 1793, dem ersten Jahrestag der Erstürmung der Tuilerien, wird schlagartig klar, wenn man zwei weitere - bewußt synchronisierte - Ereignisse dieses Tages nennt: La fête de l'Unite, das Fest der Einheit, das man sich als eine Art Prozession vorstellen muß mit dem Höhepunkt einer Zeremonie, die auf den Trümmern der Bastille stattfand. Die Abgeordneten aller Departements Frankreichs tranken aus einem Pokal Wasser das den Brüsten einer ägyptisierenden Statue der weisheit Entsprang. Dies 'Kommunion' hatte ihre rechtliche Ergänzung in der feierlichen Deklaration der Verfassung, der ersten demokratisch-republikanischen, Frankreichs. (Daß sie aufgrund des Sturms der Ereignisse nie umgesetzt wurde, ist in diesem Zusammenhang unerheblich. Es geht um die - extrem verdichtete - Symbolik dieses Tages). 
In dieser Verfassung war unter anderem das Recht auf Bildung für jedermann verankert und die Verpflichtung des Staates das zu garantieren. 
Bildung ist das Bedürfnis aller. Die Gesellschaft muß ihre ganze Kraft daran setzen, die Fortschritte der allgemeinen Vernunft zu begünstigen und allen Bürgern Bildung zugänglich zu machen.
Diese staatliche Garantie macht den Kern des wohlfahrtsstaatlichen Verständnisses von Politik, auch von Kulturpolitik also auch von Museumspolitik aus. Und dasselbe wohlfahrtsstaatliche Konzept begründet demokratische Öffentlichkeit, das eben nur unter der Bedingung denkbar ist, daß im Idealfall alle an ihr teilhaben können und es auch sollen. 
Wir verstehen wie dürr und irreführend ein Verständnis von Museum und Öffentlichkeit ist, das darunter nur Zugänglichkeit versteht. Öffentlichkeit ist das, worin sich das wohlfahrtsstaatliche Konzept realisieren kann und eine unverzichtbare Bedingung demokratischer Vergesellschaftung - auch in der Sphäre der Kultur.
Öffentlichkeit, also auch die, die im Museum stattfindet, aber nicht nur stattfindet, sondern dort auch hergestellt wird, ist notwendigerweise diskursiv, analytisch und kritisch, denn nur so kann das permanente Aushandeln stattfinden, mit der sich der Bürger mit der Gemeinschaft und diese in sich selbst 'bilden' kann. Wenn Carol Ducan und Sabine Offe von der zivilisatorischen Rolle des Museums sprechen und sie analysieren, dann ist im Kern dieser Prozeß gemeint. In der genannten Verfassung ist das Ziel der gesellschaftlichen Entwicklung unüberbietbar formuliert; lakonisch heißt es im Artikel 1: „Ziel der Gesellschaft das allgemeine Glück“.
In dem, was wir heute mit dem Wort Bildung transportieren, wird kaum noch erahnbar, was es im Kontext von Aufklärung und Revolution bedeutete.
Der Mythos der  Aufklärung beruht auf der Vorstellung der Wissbarkeit, Darstellbarkeit und Gestaltbarkeit der Welt und ihrer  Beherrschbarkeit durch menschliche Vernunft. Der Bildungsort Museum stellte die Hoffnungen und Illusionen aus, die mit der Engführung von abendländischem Zivilisationsprozess und langfristigen Veränderungen menschlicher Verhaltens- und Empfindensstandards einhergingen. Potentiell alle Museen waren gedacht als Orte, an denen das Publikum sich ein Bild machen konnte von der Ordnung der Welt durch die Anschauung von Objekten aus Natur und Kunst und von der Ordnung der Geschichte in Artefakten, deren vergangene Bedeutung richtungweisend schien für Aufgaben der zeitgenössischen Gegenwart und Zukunft. (Sabine Offe)
Weder ist das Museum ausschließlich retrospektiv und bloß archivalisch gedacht (als ein Ort des behüteten und geschützten Schlafs der Dinge, wie es ein weitverbreitetes kuratorisches Rollenbild glaubt), noch ist es eine Agentur des Wissens, das pädagogisch Lehren erteilt.
Das Museum ist ein Ort der Selbstbeschreibung und Selbstauslegung und es kann das in individueller wie gesellschaftlicher Hinsicht sein. Die Rituale des Museums dienten der Einführung ziviler Normen, die durch öffentliche rituelle Performanz angeeignet, als allgemein verbindliche sichtbar gemacht und eingeübt wurden. Sie dienten der Dramatisierung von „Selbstbeschreibung" und „Selbstauslegung" der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Mitglieder, der Darstellung einer Zivilisierung, die sie zugleich herstellen sollten.  
Aber dabei bleibt es nicht, darin erschöpft sich die Funktion des Museums nicht. Unbeachtet bleibt hingegen das diesen Ritualen eigene ambivalente Verhältnis zur gelebten Alltagswirklichkeit. Sie haben eine latente Funktion, die in der „Zivilisierung" nicht aufgeht. Als solche stellen sie ein Wunschbild der bürgerlichen Gesellschaft dar, die sich darin nicht, wie sie ist, sondern wie sie sein sollte oder sich sehen wollte, spiegelt. Aber „zivilisierende" Rituale im Museum schaffen - wie alle Rituale - Gegenbilder, die nicht nur auf gesellschaftliche Werte und Normen, sondern auch auf ganz andere reale gesellschaftliche Erfahrungen verweisen. Sie thematisieren Verborgenes in entstellter Form. Sie bezeugen nicht nur explizit die Wunsch-, sondern auch implizit die Schreckensbilder der Zivilisation. Denn Museen, alle Museen, repräsentieren nicht nur, was zu sehen ist, sondern auch, was dem öffentlichen Diskurs und der Wahrnehmung entzogen werden soll oder verborgen bleibt, eine Geschichte gesellschaftlicher Gewalt. (Sabine Offe)
Ich breche hier - vorläufig - ab, denn von hier aus sind weitere Differenzierungen möglich und nötig. Was hier (auch) sichtbar wird, in der Ambivalenz des Museums, ist eine Ambivalenz des Umgangs mit dem Museum. Hier öffnet sich nicht nur ein Blick auf die 'abschließende' oder 'verschließende' Arbeit des Museums, das uns auf Distanz halten und uns 'Unschuldskomödien' vorspielen kann. 
Hier öffnet sich aber auch das Museum, das ein Potential zu einer institutionell selbstreflexiven Praxis hat, das sich und sein Publikum über sich selbst aufklären könnte, das das Entstellte und Verborgene sichtbar, lesbar und besprechbar machen könnte. Sichtbar wird aber schließlich auch eine instrumentelle, manipulative und hegemoniale Funktion des Museums, die schon Carol Duncan beschrieben hat. Museen sind auch (und das hat man in der Französischen Revolution schon gewusst und genutzt) „sites that publicly represent beliefs about the order of the world, its past and present, and the individual's place within it. [...] To control a museum means precisely to control the representation of a community and its highest values and truths."
Also: Reichlich was an Aufgaben wartet, bei der weiteren Beantwortung der Frage: Was ist ein Museum? Aber auch bei der: Was ist ein Museum in einer postdemokratischen Gesellschaft und angesichts des Zerfalls der Idee des Wohlfahrtsstaates?

Sonntag, 21. März 2010

Muséum / Musée (Was ist ein Museum 06)

Die Reise auf der Suche nach dem, was ein Museum ist, hat uns durch verschiedene Zeitschichten geführt, mit Rück- und Vorblenden. Begonnen haben wir kurz nach 1800 mit einem neuntältesten Museum, das uns mit der Frage losgeschickt hat, was denn dann das älteste gewesen sein könnte. Dabei haben wir, nur etwa ein Jahrzehnt später, eine wichtige Museumsgründung in Berlin kennengelernt, bei der die Sinnhaftigkeit des Wortes 'Museum' kurz, aber heftig umstritten war.
Dabei wurde eingeräumt, das das, was man vorhatte, ein Haus zu bauen, in dem auf Dauer Kunst gezeigt würde, in der Antike keinerlei Entsprechung hatte. Es gab keine Institution, in der man kulturell wichtige Dinge auf unbestimmte Zeit aufbewahrt hat, um sie auszustellen und zu betrachten.
Aber man entschied sich in Berlin dann paradoxerweise, nämlich gegen die eigenen plausiblen Argumente, doch für die Benennung des für die Königlichen Sammlungen bestimmten Hauses mit Museum. Und das das mit Rückgriff auf eine andere, die älteste Bedeutung des Wortes.
Mit dem Festhalten am Wort Museum knüpfte man eine Beziehung zur mythologischen Vorstellung des Museion, des Musenortes, und damit zum dem kollektiven Erinnern gewidmeten Ort der griechischen Antike.
Damit waren wir plötzlich um einige hundert Jahre zurückgebeamt, bis zu den ältesten schriftlichen Berichten über diese mythologische Lokalität und ihr Personal bei Hesiod und Homer.
Dann gings wieder auf der Zeitachse zurück, zu der Verknüpfung des Museion mit der Akademie, das heißt mit jenem Ort, wo Wissenschaft und Künste, unter dem Schutz der Musen gepflegt wurden.
Über das spätantike alexandrinische, wegen seiner riesigen und untergegangenen Bibliothek legendäre Museion, wurde es möglich, eine Brücke zur Neuzeit zu schlagen. Und zwar gerade deswegen, weil über die Funktion dieses Museion kaum etwas bekannt ist. Das machte es so geeignet, moderne Vorstellung in es zu projizieren und gleichzeitig mit dem antiken Modell zu legitimieren.
Dabei wurden, namentlich in der französischen Tradition, zwei Vorstellungen parallel entwickelt, die sich beide auf die spätantike Gründung bezogen, und die man im Französischen auch sprachlich unterschied: das latinisierte französische Wort 'Museum', das die Idee des ungeteilt Wissen und Kunst gewidmeten Ortes meinte, und 'Musée', das den Ort der Sammlung und des Ausstellens bezeichnete.
Wir haben ja gesehen, daß bei der 'Rückkehr' der Musen, im Italien des 16. Jahrhunderts, bereits beide Vorstellungskreise, entwickelt werden: Die antike Vorstellung des von den Musen protegierten Ortes der Wissenschaft und Künste einerseits, und die neuzeitliche der Sammlung (die im Dienst eben dieser Betätigungen betrieben werden kann) andrerseits. Die amerikanische Historikerin Paula Young Lee, die diese Genealogie untersucht hat, ist der Auffassung, daß diese Parallelentwicklung mit der Französischen Revolution beendet wurde.
Tatsächlich gibt es bis dahin und noch in der Revolution eine Reihe von ideellen und architektonischen Phantasien universaler Institutionen, in denen Nutzungen wie Akademie, Museum, Bibliothek, Universität uam. integriert waren. In der Französischen Revolution findet nicht nur keine Realisierung eines solch universalen Instituts statt, im Gegenteil, das Museum selbst wird noch einmal in Sparten, Disziplinen oder wenn man so will Typen geteilt. Innerhalb weniger Jahre entstehen das Kunstmuseum im Louvre, ein Naturhistorisches und ein Technisches Museum und eines, in dem Kunst und Geschichte präsent sind.
Doch für den Louvre gibt es beide Bezeichnungen, Musée du Louvre, und später Musée Napoleon, aber auch, um den nationalen Charakter zu betonen, Museum Française. Das naturhistorische Institut heißt bis heute Museum national d' Historie Naturelle, das zur Förderung von Gewerbe, Industrie und Technologie geschaffene Museum hieß Musée des Arts et des Metiers, und das hochinteressante aber kurzlebige von Alexandre Lenoir gegründete Museum, das vorwiegend Spolien, Bildhauerarbeiten, Denkmäler und Grabmale Frankreichs vereinte (und damit viele vor der Zerstörung bewahrte), hatte den Namen Musée des Monuments Française.
Ich denke, daß die Phantasie einer Institution, die ein vielleicht unwiederbringlich zugrunde gegangenes universales Modell wieder restituieren will, nicht vorbei ist. Die kulturhistorischen Museen des 19. Jahrhunderts, mit ihren vielfältigen Sammlungen, versuchen sie nicht, an einer solchen Idee festzuhalten? Oder ist nicht Le Corbusiers sonderbares Mundaneum, das über einige Skizzen nie hinauskam, nicht ein solcher Versuch?
Wie auch immer, daß die Französische Revolution eine Zäsur für das bildet, was wir unter Museum verstehen, daran kann man schwer zweifeln (obwohl das häufig ignoriert und manchmal auch heftig bestritten wird).
Die älteste bedeutsame museumshistorische Publikation endet denn auch genau an diesem Punkt. In seiner 1908 erschienen Publikation "Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance" gibt Julius Schlosser einen Abriss der Sammlungsgeschichte der Neuzeit, der in einem kurzen letzten Kapitel gerade noch auf die französischen Gründungen verweist.
Er wusste, wie tiefgreifend die Zäsur ist, wie groß der Unterschied zwischen der Funktion und Bedeutung der Sammlungen des 16. bis 18. Jahrhunderts und der Museumsidee der Aufklärung und Revolution.

Freitag, 12. März 2010

Die Wiederkehr der Musen (Was ist ein Museum 05)

Der Brand der Bibliothek von Alexandria ist als große kulturelle Katastrophe im kulturellen Gedächtnis bis heute fest verankert. Mit der Bibliothek gingen unübersehbar viele einzigartige antike Texte zugrunde. Die Bibliothek gehörte zum Museion, einer fürstlich protegierten Einrichtung, an der Gelehrte alle Arten des Wissens hegten und pflegten. Es war wie frühere Akademien ein Ort der Produktion und des Tradierens, Weiterentwickelns, aber keiner, an dem bloß archiviert wurde. Wie schon andere Museion genannte Stätten vor ihm, wurde auch in Alexandria nicht gesammelt und ausgestellt - es sei denn man bezeichnet eine Bibliothek als Sammlung. Wissen war überwiegend schriftlich fixiertes Wissen, es gab noch keine Gründe, Dinge zum Zweck des Studiums aufzubewahren.
Wir sind also noch immer weit weg vom Museum, wie wir es heute verstehen. Aber warum nimmt dann das Alexandrinische Museion einen derart prominenten Platz unter den 'ersten Museen' ein? Aus einem paradoxen Grund. Weil man (bis heute) so wenig Gesichertes über gerade diese Institution weiß (über ihre Baulichkeiten, Funktionen, Arbeitsweise…), war sie eine ideale Projektionsfläche für spätere Projekte und Phantasmen. Alexandria war eine Projektionsfläche für zwei verschiedene Vorstellungen: dem Museion als Musenort im Sinn einer Pflege aller Wissenschaften und Künste (was durchaus in der antiken Tradition lag), aber auch als Ort des Sammelns und Ausstellens.
Diese Idee ist neu und sie formiert sich in Italien, in der Renaissance und im Humanismus. Die Vorstellung von den Musen musste im christlichen Mittelalter nahezu verschwinden, jetzt wird sie wiederbelebt, in der genannten Doppeldeutigkeit. Das 'Museo' des Bischofs, Humanisten und Historikers Paolo Giovio am Comer See, mit dem man die erste fassbare nachantike Verwendung des Wortes Museum - 1739, das Wort wird dann auch an der Villa als Inschrift angebracht -, in Verbindung bringt, ist ein Musenort, ein Ort ihrer Anwesenheit und ihrer Funktion, Wissenschaften und Künste zu protegieren. Es ist aber auch bereits Sammlung - von Antiken - und Ausstellung, in Form eines 'Heroon' oder 'Pantheon'. Nämlich einer Versammlung gemalter Porträts illustrer Männer. Also eine oder die erste Porträtgalerie, die so prominent gewesen sein muß, daß sie bereits zeitgenössisch Nachahmer fand.
Der Begriff 'Museum' (musaeum)  strukturiert in der Renaissance soziale und intellektuelle Praktiken des Umgangs mit Wissen. Der Begriff umfaßt zwischen Privatheit und Publizität changierende Möglichkeiten des Umgangs mit (antiken) 'Texten' und 'Resten' im Kontext sozialer Bestimmungen wie 'Prestige', 'Wissen', 'Wahrnehmung', 'Klassifikation' und ist zugleich humanistisch und enzyklopädisch. (Paula Findlen)
Das musaeum des 16. Jahrhunderts rekonstruiert 'klassisches' Wissen, rekonstruiert den 'antiken Text' und sammelt dafür Material - es ist ein vorwiegend archäologisches, um die materielle Überlieferung antiker Reste besorgtes Unternehmen. Insofern es buchstäblich und metaphorisch um die Rekonstruktion von 'Text' geht, geht es auch um (den Beginn der) Geschichtsschreibung, um, Verschriftlichung (und Verbildlichung) als Voraussetzung der Konstruierbarkeit von Geschichte. Das Museum des 16. Jahrhunderts ist ein Ort des 'Studiums'.
Die Wiederentdeckung des Begriffs bezieht sich, das soll festgehalten sein, im Humanismus sowohl auf den den Musen geweihten Ort locus musis sacer,  als auch auf die das Museion im Sinne der alexandrinische Bibliothek, also auf eine Institution, die die kulturellen Ressourcen der Gesellschaft sammelt und ordnet.
Die wohl bemerkenswerteste Wiederbelebung der Idee des Museion findet sich ausgerechnet im Zentrum der Christenheit. Die Auffindung des Laokoon 1506 veranlasst Papst Innozenz VII. ihn zusammen mit anderen Antiken im päpstlichen Privatgarten, im Belvedere, aufzustellen. Die Bezeichnung Museum wird hier nicht verwendet, aber die Nutzung des Gartens und die kurz danach in Auftrag gegebene Ausmalung der Stanzen durch Raffael, lassen keinen Zweifel, daß dieser Antikengarten im Belvedere als Museion aufgefasst wurde. Denn unter den großformatigen Fresken nimmt die Darstellung der Musen und Apolls eine hervorgehobene Bedeutung ein und war durch
Wie anderswo, ist es auch hier so, daß sich auf den mythischen Ort Museion die Vorstellung des pastoralen, kontemplativen Naturraumes bezieht, der in den Grotten, Gräbern und Gärten der Renaissance fortlebt (Boboli, Bomarzo, Pratolino).
Daß die Vatikanischen Museen auf das Datum der Einrichtung des Belvedere bezogen vor einigen Jahren ihren 500. Geburtstag feierten, ist indes eine kühne Konstruktion. Die am Beginn des 16. Jahrhunderts aufgestellten Antiken muß man weniger als Sammlung verstehen, denn als Ensemble, mit dessen ikonographischen Bedeutungen die Genealogie und Legitimität der spirituellen und weltlichen Macht des Papsttums untermauert wurde. Eine derart denkmalhafte, repräsentative Funktion hatte eine, ebenfalls römische Zusammenstellung von Antiken, deren Datum ebenfalls heute als ein Ursprungsdatum des Museums gefeiert wird. 1471 stiftete Papst Sixtus IV. (1471-1484) die sogenannten Lateran-Bronzen im Jahr seiner Wahl dem Volk von Rom. Unter anderem einen Dornauszieher, den Bronzekopf des Konstantin und die Lupa Capitolina als ein "Zeugnis altehrwürdiger Tugend und Vortrefflichkeit", das nun "dem römischen Volk" wiedergegeben werde. Auf diese Datum beziehen sich die Kapitolinischen Museen, aber wie für die päpstliche Antikensammlung im Belvedere gilt auch hier, daß diese Stiftung eher den Status einer politisch motivierten Denkmalaufstellung, denn einer Sammlungsgründung hatte.
So wichtig alle die genannten Gründungen sind, die - oft gesehene - Verbindung mit dem modernen Museum sollte man nicht vorschnell herstellen. Mindestens aus drei Gründen: noch ist das Wort Museum eines unter vielen. Zwar wird schon selbstverständlich in der 1553 edierten Beschreibung der (Münz)Sammlung des Goldschmiedes Jacopo Strada (Epitome Thesauri Antiquitatum [...] ex Musaeo Jacopi da Strada [...] ) der Begriff des Museums für eine Sammlung verwendet, aber es gibt sehr viele andere Begriffe. Entweder von der Architektur hergeleitet, wie Galerie oder Kammer, oder von der Funktion und dem Inhalt, etwa wenn mit "Wunderkammer" der Modus der Wahrnehmung, Neugier und Staunen, hervorgehoben werden.
Zweitens existiert die uns vertraute Vorstellung von der Dauerhaftigkeit der Salbung als Ganzes nicht und auch nicht der einzelnen Dinge. Objekte, z.B. wie das für Objekte der Schatzkammer der Habsburger sehr früh testamentarisch verfügt wurde, als nicht veräußerbar einzustufen und die kommenden Generation zu Bewahrung zu verpflichten, das ist die rare Ausnahme. Sammlungen können veräußert, gravierend verändert, verschenkt oder aufgegeben werden, bei Einzelpersonen zerstreuen sie sich oft mit deren Ableben, transgenerationelle Weitergabe gibt es eher nur bei mächtigen und reichen Familien und Herrscherdynastien. Noch ganz ungewöhnlich ist, daß im 'Erbfall' sich die Gemeinschaft verpflichtet, eine Sammlung im allgemeinen Interesse zu übernehmen und zu bewahren. In Basel geschieht dies etwa mit der des Humanisten Amerbach, wo die Stadt sich verpflichtet, seine Sammlung zu bewahren und zu pflegen.
Also ist eine Vorstellung obsolet, die für das Museum der Moderne zentral ist: die der unabschließbar gedachten Kontinuität. Wenn Museen oder die Museumsgeschichtsschreibung häufig eine lange Dauer der Institution - etwa über die Sammlungsgeschichte - konstruieren wollen, kann man dagegenhalten, daß keine einzige Sammlung des 16. bis 18. Jahrhunderts unverändert erhalten geblieben ist. Die Ambraser Sammlung existiert heute nur noch als Idee und Erinnerung und wird, unter völlig veränderten Bedingungen (soweit sie überliefert ist) in verschiedenen Museen gezeigt. Die erwähnten Antiken des Belvedere bald wieder zu tabuisierten 'heidnischen Göttern'. Man zerstörte sie zwar nicht, ließ sie aber hinter Brettern und Mauern verschwinden, über 200 Jahre lang. Den Bruch, den Aufklärung und Revolution bewirkten, hat keine Sammlung unbeschadet überstanden. Das Museum, das damals entstand, vollzog einen tiefen Paradigmenwechsel. Aber das Wort Museum blieb - mit seiner vielschichtigen Bedeutung - und wurde wichtiger denn je.

Abbildungen: oben die Villa Paolo Giovio am Como See, unten die Vatikanischen Gärten mit dem Belvedere

Samstag, 13. Februar 2010

Die Musen und das Museum (Was ist ein Museum 04)

Wir hatten ein Museum entdeckt, das sich bescheiden aber auch stolz, ein neuntältestes nennt, und darus messerscharf geschlossen, es müsse demnach auch also ein ältestes gebne. Indes führte die Suche danach zu entschieden zu vielen ersten Museen und es zeigte sich, daß es ein Wort gibt und dessen Geschichte und daß es verschiedene kulturelle Praktiken, die - manchmal - mit diesem Wort bezeichnet werden, aber auch daß diese Wort Sachen bezeichnet, die mit dem, was wir heute landläufig darunter verstehen, nichts zu tun hat. Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück.
Diese ziemlich verwirrende Entdeckung machten manche Museumsgründer zu Anfang des 19. Jahrhunderts, also zu der Zeit, da jene hybriden institutionellen Praktiken entstanden, die wir heute als Museum bezeichnen. Interessanter als der Fall München, wo man anläßlich der errichtung eines Gebäudes für die Antikensammlung des Bayrischen Königs lieber ein neues Wort erfand, Glyptothek, als 'Museum' zu verwenden, ist Berlin, wo im Zuge der Errichtung und Planung des Königlichen Museum dieses Wort plötzlich verdächtig und umstritten wird. Aber dann doch gewählt wird, obwohl man in der kurz aufflammenden Kontroverse argumentiert, daß "die Alten" so etwas, was hier in Berlin grade entstehe, nie gekannt hätten.
Das war eine auch heute nicht anders formulierbare Einsicht. Aber dennoch hielt man an 'Museum' fest - im Namen einer nicht näher erläuterten 'älteren' Bedeutungsschicht.

Ich  vermute, daß damit die wörtliche Bedeutung gemeint war und aktualisiert wurde: Museum ist die lateinische Form des Griechischen Museion und das ist der "Musensitz", der Ort, an dem sich die Musen aufhalten und wo sie im Medium Tanz und Gesang Götter- und Gattungsgeschichte erzählen. Die Musen (ihre Zahl ist da noch ganz unbestimmt), Töchter der Göttin der Erinnerung, Mnemosyne (und des Zeus) sind also so etwas - und das ist etwas historisch Neues - wie ein kollektives Gedächtnis. Sie erzählen Vergangenheit und Deuten Zukunft und versammeln das in der Gegenwart, an einem Ort der sowohl imaginär wie topografisch konkret sein kann, dem Museion.
Dieser Ort ist meist einer in der freien Natur, wo es weder Gebäude (etwa einen Tempel) gibt noch - das schon gar nicht - eine Sammlung von Gegenständen. Die Musen singen und tanzen, sie sammeln nicht. Ihr Gedächtnis ist das lebendige der gesprochen Sprache, nicht der Buchstabe des fixierten Textes.
Die allmähliche Transformation des Musenmythos hat mehrere Aspekte. Einer ist die - konfliktreiche, als Krise des Gedächtnisses in der Philosophie der Antike thematisierten - Ablösung des lebendigen Gedächtnisses, des 'liebenden Eingedenkens' -, durch ein technisches, das sich vom Sprecher und damit von Zeit und Ort lösen kann. Also die durch die Erfindung des Alphabets mögliche und damit auch transgenerationelle 'Monumentalisierung' des Gedächtnisses im Aufzeichnungsmedium Text.
Die zweite Transformation ist die, die ich als Enteignung der Musen bezeichnen möchte. Ihre Gabe des Erzählens und Deutens geht auf Spezialisten über, z.B. auf den Aioden, der, sich selbst auf einfachen Saiteninstrument begleitend, tausende Versstrophen umfassende, dann auch aufzeichenbare Texte (Hesiod, Homer) verfasst und vorträgt. Oder auf die Philosophen, die nun zu Produzenten und Hütern jenes Wisssens und jener Kunstfertigkeiten werden, die die Musen nur noch beschützen dürfen.
In der Blütezeit der antiken Polis, mit der Gründung der Akademien (die erste entsteht in Athen), ist das Museion das kultische Zentrum eines urbanen, von männlicher Priesterschaft definierten und besetzten Wissensortes.
Das ist auch noch so, bei dem für die Genealogie des Museums scheinbar so wichtigen, im hellenistischen Alexandrien unter der paternalistischen und protektionistischen Politik eiunes Fürsten errichteten Instituts, bei der wieder das Wort Museion die Bezeichnung Akademie überlagert.
Was im Streiten über das Wort Museum in Berlin in den 20er-Jahren des 19.Jahrhunderts aktualisiert wird, ist die älteste Bedeutungsschicht von Museion: der kollektive Gedächtnisort, an dem Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart versammelt werden. Aber das noch ganz ohne jene Verdinglichung und technischen Speicherbildung, ohne die uns das Museum undenkbar scheint, und um derentwillen man in Berlin ja auch nahe dran war, das Wort zu verwerfen.
Der Konflikt aber, der sich zwischen dem lebendig wirkenden Gedächtnis einerseits und seiner technischen, verdinglichenden, 'musealen' Formierung andrerseits eröffnete, ist seit Anbeginn des Museums der Moderne virulent geblieben.
Anläßlich der unter anderem aus der Beraubung europäischer Sammlung (unter Napoleon) und in der Französischen Revolution gegründeten Museen, namentlich des Louvre, entsteht sofort eine fundamentale Kritik des Museums.
Friedrich Schiller legte in einem kurzen Gedicht den Finger in diese Wunde, die sich nie wieder geschlossen hat:

Friedrich Schiller: Die Antiken zu Paris

Was der Griechen Kunst erschaffen,
Mag der Franke mit den Waffen
Führen nach der Seine Strand,
Und in prangenden Museen
Zeig' er seine Siegstrophäen
Dem erstaunten Vaterland! 


Ewig werden sie ihm schweigen,
Nie von den Gestellen steigen
In des Lebens frischen Reihn.
Der allein besitzt die Musen,
Der sie trägt im warmen Busen;
Dem Vandalen sind sie Stein.



Fortsetzung folgt.

Abb.: Muse, römische Kopie nach griechischem Original, 2.Jh.n.Chr. Kapitolinische Museen / Centrale Montemartini, Rom. Hubert Robert: Salle des Saisons, Musée Napoleon / Louvre. Louvre, Paris

Samstag, 6. Februar 2010

Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück: Museum (Was ist ein Museum 03)

Die selbstbewußte Feststellung des Indian Museum in Kalkutta, das neuntälteste Museum der Welt zu sein, hat uns zu der Frage geführt, welches denn das erste wäre und in der Folge zu einer kleinen Studiensammlung von ‚Ersten Museen’, was wiederum schnell gezeigt hat, daß ‚Museum’ höchst unterschiedliche Praktiken des Sammelns, Zeigens und Wissens über einen sehr langen Zeitraum hinweg bezeichnet. Ein einziges Wort, um den humanistischen Wissensraum und das nationale Sammlungs- und Schaumuseum zu bezeichnen? Kompliziert wird die Angelegenheit noch dadurch, daß das Wort auch noch ganz andere Dinge bezeichnet. Es hat mythologische, religiöse, wissenschaftliche oder zum Beispiel literarische Konnotationen.
Und dann: es ‚passt’ nicht. Es deckt gar nicht die moderne Idee des allgemein zugänglichen Sammlungsortes ab, den eine Gesellschaft in repräsentativer und diskursiver Absicht einrichtet und unterhält.
Deswegen kommt es am Beginn des 19. Jahrhunderts, also zu dem Zeitpunkt wo sich dieses neue Modell kultureller Selbstdarstellung und Selbstvergewisserung entwickelt und durchsetzt, zu einer Kritik des Begriffs. Bei der Errichtung einer königlichen Antikensammlung in München verzichtet man auf ihn und wählt das Kunstwort Glyptothek. Während der Errichtung des zeitgleich entstehenden Königlichen Museum in Berlin (heute: Altes Museum) beginnt man sich zu fragen, ob es denn je in der Antike eine Praxis, eine Institution gegeben hat, die dem entspricht, was man grade dabei ist zu verwirklichen. Es kommt zu einem kurzen gelehrten Disput in die Akademie der Wissenschaft eingeschaltet wird. Und das Resultat der Debatte ist: nein, so etwas wie ein allgemein zugängliches Haus, das dazu da ist, daß überlieferte, historische Kunst zum Zweck der Bildung auf Dauer bewahrt und ausgestellt würde, so etwas kannten ‚die Alten’ nicht.
Museum würde "im ganzen Alterthume" nur Orte der Wissenschaft bezeichnen, solche zur "Aufbewahrung von archäologischen oder Kunstgegenständen" niemals.
Man entscheidet sich dennoch für ‚Museum’, um in der (lateinschen) Stifterinschrift an der Fassade des Baues den Zweck des Ganzen zu bezeichnen. Und zwar indem man sich auf eine ‚ältere’ Bedeutung des griechischen Wortes beruft. Freilich ohne diese Bedeutung zu erläutern.
Mit der Benennung des Museums der Revolutionszeit im königlichen Schloß, dem Louvre, als ‚Museum Française’ (und nicht als Musée, und das macht einen Unterschied – davon vielleicht ein andermal), war der latinisierten Übertragung des griechischen ‚museion’ zur Bezeichnung der staatlichen Sammlung und des nationalen Museums bereits der Weg geebnet.
Aber ich denke, daß die Entscheidung, die man in Berlin traf, noch einmal eine wichtige für die ab nun usuelle Bezeichnung war, und zwar, weil es sich um den ersten Museumsbau (Karl Friedrich Schinkel) handelte (in einer bedetenden Stadt und für eine bedeutende Sammlung), der den Funktionen des Museums architektonisch Ausdruck gab: praktisch, symbolisch und performativ.
Ist die Geschichte damit zu Ende?
Keineswegs. Denn was verstand man in Berlin wohl unter der ‚älteren Bedeutung’ des Wortes Museum? Warum die Wahl eines eingestandenermaßen ‚unpassenden’ Wortes? Und warum übersetzte man dieses Wort (entgegen der Wortbedeutung) so ins Deutsche: Ruheort (nämlich der Kunst)?
FRIDERICVS GVILELMMVS III STVDIO ANTIQVITATIS OMNI­GENAE ET ARTIVUM LIBERALIVM MVSEVM CONSTITVIT MDCCCXXVIII - Friedrich Wilhelm III hat dem Studium jeder Art Alterthümer und der freien Künste diesen Ruheort gestiftet 1828.
Fortsetzung folgt.

Montag, 1. Februar 2010

Wenn es ein neuntältestes Museum gibt, muß es auch ein ältestes geben. (Was ist ein Museum? 02)

Wenn es ein neuntältestes Museums der Welt gibt (siehe Blog vom 10. Jänner 2010), dann muß es auch ein ältestes geben. Das neuntälteste behauptete, daß das das British Museum sei (1759 wird dort angegeben, das Jahr der Eröffnung, meist wird 1753 genannt, das Jahr, in dem der Parlamentsbeschluß zur Übernahme der Sammlung Hans Sloane und die Gründung des British museum beschlossen wurde).
Verwirrenderweise gibt es aber viele „älteste Museen“. Ich besitze eine kleine Sammlung von ihnen, das heißt von Museen, die in der museologischen Literatur oder in Lexika als „erste“ genannt werden.
Um es gleich vorwegzunehmen: in keinem Fall hat sich der Autor die Mühe gemacht, seine Kriterien zu nennen. Es wird forsch drauflos behauptet: „A Côme, le premier musée d’histoire… “ schreibt wie mit Rufzeichen  Roland Schaer (1993) in seiner kleinen Museumsgeschichte, oder Donald Preziosi (2003) „…the original Ashmolean, the first public museum in Europe…“. Da wären wir einmal im 16. und einmal im 18. Jahrhundert. Das Britische Museum meldet sich sozusagen selbst zu Wort: The British Museum has the distinction of being the first national, public and secular museum in the world. (Marjorie Caygill: The Story of the British Museum. London 1981). Aber wenn es darum geht, daß Museen sich selbst zum ‚Sieger’ ausrufen, erweitert sich das Spektrum schlagartig. Da findet man dann ein sehr bescheidenes fürstliches Naturalienkabinett in Braunschweig neben den Kapitolinischen Museen in Rom, die sich auf eine päpstliche Denkmalstiftung berufen: „...decretando l’istituzione del più antico museo pubblico del mondo: la Lupa, posta sulla facciata del Palazzo die Conservatori, diventa il simbolo della città...“. (Musei capitolini. Roma 2000). Da sind wir dann sogar schon im 15. Jahrhundert. 
Aber mit dem vermutlich mit dem British Museum als ‚erstes’ meistgenannten ‚Museum’, kommen noch mal einige hundert Jahre dazu. Und das ist das Alexandrinische Museion. Der Brockhaus von 1815: „Museum, eine Sammlung seltener und interessanter Gegenstände aus dem ganzen Umkreise der Naturgeschichte und Künste, und in Zimmern und Gebäuden zur Ansicht der Kenner und Liebhaber entweder auf Kosten einer Privatperson oder einer Regierung aufgestellt. Zuerst wurde diese Benennung, die eine Musengrotte, oder einen Musentempel bezeichnet, dem Theile des königlichen Palastes in Alexandrien gegeben, welchen Ptolemäus Philadelphus für die Gelehrten und die Bibliothek bestimmte.“
Bleiben wir gleich einmal bei dem letzten Beispiel. Der Brockhaus legt uns nahe, daß wir die Beschreibung – eine Sammlung seltener und interessanter Gegenstände usw. – mit dem Wort Museum gleichsetzen, das in Alexandria erstmals („zuerst’...) angewendet worden sei. Aber gerade nicht, wie es der Text nahelegt, für eine Sammlung. Das sehr wenige, was man nämlich über das museion von Alexandria weiß, ist, daß es eine Priester-Gelehrtengemeinschaft unter dem Protektorat eines Fürsten war, eine große und legendäre – sowie untergangegangene – Bibliothek mit eingeschlossen. Nirgends gibt es auch nur Die Spur einer Sammlung. Museion bedeutet seit der Gründung der Platonischen Akademie einen Wissensort, der alle Künste und Wissenschaften vereint und der zugleich ein religiöses Zentrum bildet. In dieser Tradition steht auch noch das museion in Alexandria.
Die Stiftung einiger bedeutender historischer Objekte durch den Papst an die Stadt Rom ist nicht mal eine Sammlung, sondern die entsteht erst in einer langen Entwicklung bis definitiv erst nach der Rückkehr von durch Napoleon nach Paris gebrachten Kunstwerken nach Rom ein Museum entsteht.
Die Villa des Gelehrten und Bischofs Paolo Giovio am Comer See enthielt einen Raum, der gelehrten Studien gewidmet war, dessen Ausstattung auf die antiken Musen anspielte und eine Galerie von kopierten Porträts ‚bedeutender Männer’. Interessant ist dieser Ort als ein frühes Besipiel für die Belebung des antiken Musenmythos, der im Mittelalter fast untergegangen war. Aber museion bedeutet hier, wie in Alexandria, ehr noch den Wissensort und nicht so sehr den Ort der Sammlung, geschweige denn der öffentlichen Ausstellung.
Mit dem British Museum scheint es eindeutig zu sein. Staatliche Trägerschaft, also auch staatliche Obsorge für eine Sammlung ohne definierten Zeithorizont und öffentliche Zugänglichkeit – das ist doch ‚unser’ Museum.
Bei genauerem Hinsehen, erweist sich aber der ‚nationale’ Charakter der Gründung als unter Museologen und Historikern umstritten und die tatsächliche Einrichtung des Museums muß eher einer jener überlebten ‚Raritätenkammern’ geglichen haben, wie es sie damals noch viele gab. Über die Unzulänglichkeit der Aufstellung gibt es aufschlussreiche zeitgenössische Quellen. Die Kritik betraf aber vor allem die extrem restriktiv gehandhabte Zugänglichkeit. Lange im Voraus notwendige Anmeldungen, Zulassung nur kleiner Gruppen und miserable Betreuung beim Besuch begleiten durch Jahrzehnte das in Montague House untergebrachte Museum.
Die vier Beispiele genügen, um ein Dilemma sichtbar zu machen. Es gibt vor allem zwei Schwierigkeiten. Das Wort Museum bezeichnet sehr unterschiedliche, untereinander kaum vergleichbare kulturelle Praktiken. Wobei ich hier gar nicht auf Wortbedeutungen eingegangen bin, die kaum oder überhaupt nicht mehr mit ‚Sammlung’ oder ‚Ausstellung’ oder ‚Haus’ in Verbindung zu bringen sind.
Die zweite Schwierigkeit liegt in einem methodischen Zirkel. Für eine historische Untersuchung bräuchte man einen Begriff, der aber wiederum nur aus einer Geschichte von Praktiken und Riten, von Zuschreibungen und Institutionalisierungen gewonnen werden könnte.
Im Grunde sind wir so gescheit, wie nach den vom neuntälteesten Museum provozierten Überlegungen. Aber doch etwas weiter, weil das Problem besser, die Aufgabe als komplexer und anspruchsvoller sichtbar geworden sind. Und weil einige Schlüsselbegriffe in den wenigen zitierten Beispielen aufgetaucht sind: Sammlung, national, Gegenstände, öffentlich...

Fortsetzung folgt.