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Montag, 22. August 2022

"Glacial Period". Eine Museumsdystopie


Glacial Period. Überlebt das Museum?                                                                                                                                               

Eine Gruppe von Menschen ist in einer eisigen, unwirtlichen, leeren Landschaft unterwegs. Sie sind auf der Suche nach Spuren, wobei ihnen selber und uns Lesern unklar ist, was das ist, das Spuren hinterlassen haben könnte. Kälte, Wind, Orientierungslosigkeit führen zu Spannungen zwischen den Expeditionsteilnehmern. Wie soll man vorgehen, wie einigt man sich auf einen Plan, wer entscheidet über die Wahl des Weges? Begleitet wird der kleine Trupp von einer Gruppe von Tieren, die, wie wir später erfahren, Kreuzungen aus Hunden und Schweinen sind. Hulk, eines der Mischwesen, verfügt über einen extrem sensiblen Geruchssinn, der sich erstaunlicherweise auch auf den Verlauf von Zeit konzentrieren läßt. Er wird der Held dieser Geschichte werden.

Ziellos irrt die Gruppe durch die depressive Öde einer offensichtlichen Eiszeit, als plötzlich ein Erdbeben eine Ruine durch das Eis brechen läßt. Wer unter den Lesern mit dem Bauwerk vertraut ist, erkennt Reste des Louvre. Einer seiner Pavillons ragt nun mit seinen obersten Geschossen aus dem Eis und ermöglicht den Forschern den Einstieg ins ihnen völlig unbekannte Innere. 

Hulk ist unbemerkt von seinen Begleitern, von denen er getrennt wurde und die ihn verirrt glauben, an einer anderen Stelle des Bauwerks zufällig unter die Oberfläche geraten und vor gewaltigen Steinmauern gelandet. Wir erkennen, wenn wir mit dem unterirdischen Louvre vertraut sind, daß es jene Reste der mittelalterlichen Königsburg sind, die beim Ausbau des Grand Louvre unerwartet entdeckt wurden und seither im Rundgang unter der Erde besichtigt werden können. 

Hulk ratlos vor der Königsburg
   

Die anderen sind gleichzeitig an anderer Stelle eingestiegen und in Räume gelangt, wo sie  merkwürdige Gebilde vorfinden, die ihnen vollkommen unvertraut sind und sie vor Rätsel stellen. Zum Beispiel flache, an den Wänden befestigte Gegenstände mit merkwürdigen Darstellungen. Es sind, wie wir sofort erkennen, Gemälde, deren Sujet und Beschriftung - etwa „Delacroix“ -, zu allerlei Spekulationen Anlass gibt, was das gewesen sein könnte und worauf das Wort denn hindeutet. Man ist mit allem unvertraut, hält die Architektur für eine Stadt, die Bilder mal von rätselhaften Wesen, mal von Kindern dann vielleicht sogar von Tieren hervorgebracht, da man ja auf Abbildungen malende Affen oder Bären erkennt.  

Diese Gemälde existieren wirklich, man findet sie in der weitläufigen Gemäldegalerie im Louvre.

Wo sind wir hier? Und wann? In einem utopischen Film, in einem dystopischen Roman? Mitnichten. 2005 erschien die vom Musée du Louvre in Auftrag gegebene Graphic Novel „Glacial Period“. Ihr Autor ist Nicolas De Crécy, ein französischer Autor und Zeichner, der unter anderem für Walt Disney Frankreich arbeitete, ehe er sich der Publikation von Büchern zuwandte, die ihn zum vielfach ausgezeichneten Star der Branche machten.

In einem Marketingtext zu seinem Louvre-Buch finden wir diese Zeilen: „De Crecy, at the sight of the incredible richness of the museum's collection was overwhelmed and felt small and ignorant. The result is a story set thousands of years hence in a glacial period where all human history has been forgotten and a small group of archeologists fall upon the Louvre, buried in age-old snow. They cannot begin to explain all the artifacts they see. What could they have meant? Their interpretations are nonsense, absurd, farcical.“ Und von Grécy selbst hören wir wird: "I enjoyed it, and recommend it to those who can laugh at their cultural selves." 


De Crécy nutzt in seiner Story die enorme zeitliche Distanz zwischen der historischen Zeit des Louvre und der Zeit seiner Wiederentdeckung für einen verfremdeten Blick auf unsere kulturellen Werte - und das garniert mit ziemlich guten Witzen, verzweifelten Spekulationen, was das alles einmal gewesen sein könnte, sowie philosophischen Überlegungen, die nicht weniger als die Frage der Repräsentation streifen. Denn wofür steht das alles, diese Objekte, die Räume, der Bau? Die ratlosen und streitbaren Gespräche der Expedition verraten vor allem eines: der einstige Sinn, den nur wir Leser kennen, erschließt sich für die Eindringlinge nicht mehr. Im Grunde bedeutet das alles nichts mehr, wirft Fragen auf, die niemand mehr beantworten kann.

Hier ist sie also, die Dystopie vom Ende des Museums, ernst genommen und buchstäblich ausgemalt. Der Museologe Krzysztof Ptomain war der erste der, 2021, das definitive Ende des Museums prophezeit hat. Angesichts der COVID-Pandemie und des Klimawandels würde das Museum in nicht so ferner Zukunft obsolet werden, nicht nur unnütz angesichts der sich verstärkenden Krisen sondern geradezu aggressiv attackiert angesichts seines Versagens und seiner Nutzlosigkeit in Zeiten nahender Katastrophen.

Greis Novel kann man als einen Versuch begreifen, was ein „Danach“ bedeuten könnte. Die Katastrophe ist hier schon passiert, sie ist schon lange vorbei. Irgendwo haben Menschen überlebt, "im Süden", wie der Text vage angibt. Von dort ist der Trupp aufgebrochen, um das verheerte Territorium zu erkunden.

Es geht in unserer Erzählung um das große Thema dessen, was aktuell mit dem Wort Klimawandel bezeichnet wird - eine eher harmlose Bezeichnung für einen Wandel, der ein menschengemachtes Ende der Gattung Mensch bedeuten könnte. Hier, in „Glacial Period“, gibt es „uns“ zwar noch, als Archäologen, Historiker, Forscher, aber als Menschen deren Existenzweise ebenso unklar ist, wie der Antrieb aus dem sie aufgebrochen sind.

Die Welt die sie vorfinden, dieses ruinöse Fragment einer versunkenen Kultur, der Louvre-Komplex mit seinen Artfekaten aus tausenden von Jahren, bleibt ihnen unverständlich. Als das Wort Museum auftaucht, löst es Staunen aus und Fragen, die ohne jede Antwort bleiben. Niemand weiß (mehr), was ein Museum ist. Eine Botschaft der Novel lautet: Diese akkumulierte Kultur, die sie vorfinden, sie wird sinnlos gewesen sein.

Nur Hulk, der sogar über die Fähigkeit zur C 14-Datierung verfügt, ist imstande, mit den Dingen Kontakt aufzunehmen, schließlich mit ihnen sprachlich zu kommunizieren. Das findet aber ganz und gar nicht innerhalb der uns vertrauten Museumskonventionen statt. Denn die Dinge sind sehr lebendig, sie tauschen sich untereinander aus und vergleichen sich und 
De Crécy leistet sich auch den Witz, daß sich ausgerechnet die Mumie für das lebendigste aller Wesen hält. Ein Witz mit der Dialektik, die in der Praxis und Idee der Mumifizierung selbst steckt, nämlich ein über den biologischen Tod hinaus ewig währende Existenz zu gewähren. 

Ihre Lebendigkeit erlaubt den Dingen, Hulk von ihrer langen Museumsexistenz zu erzählen, die sie ganz schön ungemütlich und unbehaglich fanden. Sie klagen über das Angestarrtwerden, ihr Vitrinenleben. Sie möchten dem einen Ende setzen, sind aber ratlos, wie das möglich sein soll. Aber sind es noch Dinge - wenn sie doch denken, reden und handeln können, Hoffnungen hegen, Erinnerungen haben, wie die Dinge, die in manchen überlieferten Märchen hilfreich oder bedrohlich agieren? Jedenfalls manifestiert sich in ihnen ein musenlogische Frage, nämlich die, wie und ob und unter welchen Umständen die Dinge im Museum zu uns sprechen können. Hier können sie es.

Hulk hat schließlich die Idee zur Organisation des Ausbruch der „Dinge“. Daß sie erlöst werden aus ihrem als höchst fragwürdig empfundenen Museumsdasein, ist die gründlichste aller Provokationen. Sie ist gegen die Idee des Museums gerichtet. Es ist doch der privilegierte Ort, an den Dinge versammelt werden, gezeigt, bewundert. Ihre Aufbewahrung rettet sie doch davor, zugrunde zu gehen, vernichtet oder Vergessen zu werden, verbraucht und abgenutzt.

Aber die Dialektik des Museums funktioniert wie die der Mumie. Die Dinge verlieren im Museum ihre Bedeutung, ihre Funktion, ihren einstigen Sitz im Leben. Sie erleiden einen Musuemstod. An ihre Stelle treten neue Bedeutungen und Funktionen und die Notwendigkeit, ihren einstigen "Sinn" zu vermitteln, etwas was meist nur bruchstückhaft und meist gar nicht mehr gelingen kann. So wird ihnen ein Überdauern in verwandelter (museifizierter statt mumifizierter) Form gewährt. 

Diese Infragestellung des Museums - ist sie nicht bedrohlicher als die Vorstellung eines Unterganges in einer mehr oder weniger fernen Endzeit? Denn hier droht die Implosion der Institution nicht von außen, von einer unbeherrschbaren Natur, sondern aus der Institution selbst, aus einem ihrer zentralen Widersprüche. In ihm kommt das Leben der Dinge zu Ende das durch eine Illusion ersetzt, die als Museumsleben vergeblich die alten Bedeutungen und Funktionen mit retten will.

Die Botschaft de De Grécys lautet ja, aus ihrem Munde selbst: Das kann man Objekten nicht antun, sie in Museen zu sperren. Sie werden dort um alles gebracht. Und weil die Dinge das in "Glazial Period" wissen, drängen sie auf Beendigung ihrer Musuemsexistenz.

                                                                                                                                            

Die Idee zum Ausbruch aus dem Museum hat vor Jahrzehnten schon der Religionswissenschafter Klaus Heinrich formuliert. In einem unbeachteten Text, den "ernsthafte" Museumsleute und Museologen wohl kaum goutieren würden. Praktisch könnte Grecys Idee vom großen Ausbruch eher von einer existierenden Museums-Szenografie inspiriert sein, als von philosophischer Spekulation. 

Im Pariser Museum d’Histoire Naturelle gibt es ja im Erdgeschoss einen Zug der Tiere, quer durch die gewaltige Halle - auch so ein Paradox, denn es sind Taxidermien, ausgestopfte Löwen, Giraffen, Pelikane, Zebras, Elefanten u.v.a.m., die da "in Bewegung" sind. Schön paarweise unterwegs, erinnern sie uns an die biblische Überlieferung des Zugs der Tiere in die rettende Arche. Wovor werden sie hier gerettet? Auch vor einem Weltuntergang? Der Sintflut.

Das Museum d'Histoire Naturelle in Paris gibt uns die Botschaft mit: das Museum ist der Ort der Rettung der Dinge (unserer Kultur, unserer Werte, unserer Erinnerungen). Es ist die Idee, daß "wir" Herr über die Dinge sind und es in unserer Hand liegt, sie zu bewahren und gar zu retten. Bei dem metaphorischen Bild im Pariser Naturmuseum bleibt aber offen, ob es tatsächlich ein Einzug ist, einer ins Museum, das als Arche alle Dinge, genauer gesagt: die Natur rettet, oder ob diese Tiere nicht grade dabei sind, das Museum auf Nimmerwiedersehen durch die gewaltigen Glasfenster zu verlassen, auf die sie zulaufen.

Als das Buch "Glacial Period" erschien, war die Debatte zur Klimakrise noch nicht beim Begriff Anthropozän angekommen. Noch nicht bei der Einsicht daß der Mensch zu einem bedrohlich großen Einflussfaktor auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist. Anders gesagt, noch nicht bei der Ahnung, daß die Ressource „Planet Erde“ vom Menschen verbraucht und von ihm in naher Zukunft für ihn unbewohnbar gemacht worden sein könnte. 

Dennoch antizipiert diese witzige, medial interessante Parabel de Grecy's bereits dieses Problem und die Fragen, die sich daraus ergeben. Was kommt eigentlich danach? Und es wirft eine Frage auf, die erst ganz vereinzelt gestellt wird. Und die irgendwann unausweichlich auf uns, die Eingeborenen der Elitenkultur und Liebhaber der Museen zukommen wird: Was wird aus den Museen?



Nicolas Crécy: Glacial Period. Paris, Musée du Louvre Edition 2005


Das Buch enthält am Ende eine penible Liste aller Kunstwerke des Louvre, die im Buch „auftreten“, samt den Angaben zu Datierung, Herkunft und Bezeichnung sowie den Standort im Louvre-Museum


Sonntag, 12. September 2021

Heeresgeschichtliches Museum Wien. Eine Publikation dokumentiert die Kritik

Elena Messner und Peter Pirker bemühen sich seit über eineinhalb Jahren um eine sachliche und gründliche Kritik des Heeresgeschichtlichen Museums. Inzwischen haben mehrere Kommissionen und ein Rechnungshof die Kritik am Museum vertieft und erweitert. Messner und Pirker selbst haben zwei Veranstaltungen organisiert, bei denen eine Vielzahl von Expertinnen diese Kritik ebenfalls vertieft haben.

Nun haben die beiden ein Buch veröffentlicht, das auf über 300 dichten Seiten umfassend so gut wie alle Aspekte der Debatte und der Kritik von 41 AutorInnen sammelt: Elena Messner, Peter Pirker (Hg.): Kriege gehören ins Museum. Aber wie? Atelier Verlag. Wien 2021

Woran es inzwischen keinen Zweifel gibt, ist die Unreformierbarkeit des Museums. Es braucht eine von Grund auf neue Konzeption. Aber es ist noch immer fraglich, ob das zuständige Landesverteidigungsministerium dazu Willens und in der Lage ist.

Das Buch bietet alle nur erdenklichen Argumente für einen Neubeginn eines Museums, von dem allerdings nicht einmal seine grundsätzliche Aufgabe feststeht und diskutiert ist. 

Donnerstag, 12. Dezember 2019

Kultur/Barbarei (Sokratische Fragen 48)

"Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein."

Dieser Satz aus den Geschichtsphilosophischen Thesen Walter Benjamins scheint auch ohne seinen komplexen Kontext unmittelbar verständlich.

Was würde es für das Museum bedeuten ihn in seiner Alltagspraxis vollkommen ernst zu nehmen?

 

Montag, 18. November 2019

Das Museum lesen

Um schlechtes Gewissen in einer unschöpferischen Zeit unschöpferisch zu beruhigen, ist Geld die gegebene Sache; man baut ein Museum. New York liebt Museen, denn Museum ist Kultur, und bereits vorhandene Kultur zu bewahren, zu kaufen und zu sammeln ist leichter und einfacher, als Kultur zu schaffen. Und da die Zeit schneller geht, altert sie schneller. Das Museum überhöht die Vergangenheit, reinigt, und wer ein Museum für den gestrigen Tag baut, lebt mit der Hoffnung, diesen Tag gleich für Jahre zu Verwaltern; wäre ich ein Mörder, ich baute meinem Opfer am nächsten Tag ein Museum, Fotografien, vergilbte Bilder seiner Eltern, sein Vaterhaus, einen Schulaufsatz in einer schönen Vitrine, zwei oder drei seiner Kleidungsstücke, auch unter Glas, alles unter Glas, sein letztes Auto, sein Portefeuille, seine Armbanduhr, seinen ausgestopften Hund, sein Hobby, seinen Rasierapparat, seinen Kamm, sein Bett (nicht zu vergessen), seine Versicherungspolice, seinen Fernsehapparat, die Schuhe, die er zuletzt trug, ein gemaltes Bild seines Lieblingsrestaurants, sein Lieblingsessen (Foto), seine Zigarettenmarke, das Messer, mit dem ich ihn umbrachte, die Nekrologe in den Zeitungen, in denen er, ha!, gewürdigt wird...
Das Museum ist der Ersatz für den einstigen Glauben, man könne sich für die Ewigkeit möblieren.
Den Broadway hinausschlendernd entdecke ich das Heimatmuseum. Der Kurator - er sitzt selber an der Kasse - streitet sich mit den Besuchern; die Quintessenz seines Museums heißt Bevölkerungsexplosion und Selbstvernichtung der Menschheit; die beiden miserablen Wachsmuseen lassen befürchten, die Figuren möchten sich leblos zu bewegen beginnen, dann: die Peinlichkeit des Versuchs, lebendig zu wirken; das Museum der City of New York stellt das alte Modell eines Staubsaugers aus, einen Toaster aus den zwanziger Jahren, die älteste New Yorker Zitronenpresse und die jüngste, einen Büchsenöffner von 1935 und einen Büchsenöffner von 1967, ein Foto Marilyn Monroes - alles wird gleichsam in die Vergangenheit zurückgepfiffen und in Ehrwürde versetzt; ein Museum für Kinder gibt es schon, denn wer war einst nicht Kind; das Polizeimuseum mit Konterfei der ersten Polizistin New Yorks, Brüste wie Euter und Schultern wie einer, der täglich ein Klavier in das neunte Stockwerk tragen muß, Daumenschrauben an der Vagina Dentata, Muse der Polizei. (Wer sich für Handschellen interessiert: Handschellen sind eine Wissenschaft. Handschellen wurden von genialen Mechanikern fast überall gleichzeitig erfunden; so in Deutschland die Clejuso-Handschellen, die Kayser-Handschellen, die Hamburg P-8-Handschellen, in England die Darby-Handschellen, in Frankreich die La Massenotte-Handschellen.) Netze für Selbstmörder, die von einem Wolkenkratzer - vermutlich auf der Flucht vor der Polizei - zu springen versuchen; Dolche, Hämmer, Messer, Feilen - ehrwürdige Mordwaffen. Ein freundlicher Mann will mir Auskunft geben, ich bin der einzige Besucher zur Zeit, und ich weise ihn ab; meine Phantasie Kasse ich mir im Museum nicht Miesmachern. Das Geldmuseum an der Sixth Avenue ist die hilflose Huldigung an eine Zeit, da man ein knopfähnliches Eisenstück für einen Schweinekopf eintauschte, nein, Geld ist das einzige in dieser Stadt, das museal nicht zu bewältigen und auch nicht Zerfall und Tod anheimgegeben ist.
Absicht des Museums besteht immer darin, zu bewältigen und vergessen zu lassen, was noch nicht bewältigt oder nicht vergessen wurde. Das Museum ist die Lahmlegung der Trauer, denn Trauer ist das Schlimmste, und das Museum hebt die peinliche Spannung zwischen Leben und Vergehen auf.


Jürg Federspiel

Sonntag, 20. Oktober 2019

Auch eine Museumsdefinition

Täuscht euch nicht, Mitbürger, das Museum ist keine oberflächliche Ansammlung von Luxusgegenständen oder Frivolitäten, die nur der Befriedigung der Neugier dienen sollen. Es muß eine Ehrfurcht bietende Schule werden. Die Lehrer werden ihre jungen Schüler hinführen; der Vater seinen Sohn. Der Jüngling wird beim Anblick der Werke des Genies in sich das Gebiet der Kunst oder Wissenschaft lebendig werden fühlen, zudem ihn die Natur berufen hat. Gesetzgeber, es ist Zeit, die Unwissenheit in ihrem Amoklauf aufzuhalten, bindet ihr die Hände, rettet das Museum, rettet die Werke, die ein Hauch vernichten kann und die die geizige Natur vielleicht nie wieder hervorbringen wird." 

2. Bericht über die Notwendigkeit der Auflösung der Museumskommission. Vorgetragen von (Jacques Louis) David, Abgeordneter des Departements Paris, in der Sitzung vom 27. Nivôse des Jahres II der Französischen Republik (16.1.1794).

Dienstag, 3. Juni 2014

Im Museum nach etwas Bestimmten suchen (Das Museum lesen 38)

Museen machen mehr Spaß, wenn man nach etwas Bestimmtem sucht. 
Ist man zum Beispiel in eine Zahnarzthelferin verliebt, kann man nach gar nicht seltenen Bildern fahnden, auf denen mit genüsslicher Boshaftigkeit das Zahnziehen dargestellt wird. Foto oder Postkarte von dem Motiv sind ein ideales Mitbringsel beim nächsten Zahnarzttermin.

Den (vergnüglichen) vollen Text von Joseph von Westphalen findet man in der Münchner Abendzeitung, online hier. Weiße Wäsche und faule Zähne

Sonntag, 11. Mai 2014

Orhan Pamuks Text über das Museum der Unschuld. Ein poetologischer und museologischer Text zu einem einzigartigen Projekt (Das Museum lesen 36)


Im Jahr 2008 erschien in Istanbul der Roman Masumiyet Müzesi, das Museum der Unschuld, von Orhan Pamuk, der 2006 den Nobelpreis erhalten hatte. Eigentlich sollte gleichzeitig mit dem Roman ein gleichnamiges von Pamuk geplantes und parallel zum Buch entwickeltes Museum eröffnen, doch aus praktischen und politischen Gründen - Pamuk wurde zeitweilig verhaftet und von radikalen Gruppen mit dem Tod bedroht -, verzögerte sich die Realisierung erheblich. 2012 war es dann so weit.

Aber was ist das für ein Museum? Mein Reiseführer "Istanbul" stellt es kurz und bündig als Alltagsmuseum vor. Sicher, es gibt hier vieles, was man so landläufig als Alltagsgegenstände bezeichnet und gelegentlich wird einem auch als Tourist, der Istanbul erst grade kennenlernt, einiges von den Bezügen zur Stadt deutlich.
Aber was sollen das für Straßen sein, "die mich an sie erinnern"? Wer spricht da, und vom wem? "Phantome, die ich für Füsun halte". "Die Sommerabschlußparty". "Eine leere Wohnung". "Die erste türkische Fruchtlimonade".
Hat sich da das sogenannte wirkliche Leben eingeschlichen? Aus dem Roman? Aus Pamuks Leben und aus Istanbul? "Wie man ein Drehbuch durch die Zensur bringt" oder "Onkel Tarik". Kann uns das interessieren, können wir das verstehen?
Oder muß man dazu den Roman gelesen haben?

Ich bezweifle, daß das viel hilft (Pamuk verneint die Frage, ob man das Buch als Voraussetzung eines Museumsbesuchs kennen müsse), selbst wenn man das erst gerade getan und ein sehr gutes Gedächtnis hat. Selbst die strikte Durchnummerierung der Vitrinen im Museum nach den Kapiteln wird nicht viel helfen.
Illustriert das Museum das Buch, oder erzählt der Roman jene Geschichte, die hier ausgestellt ist?
So viel sei verraten: Pamuk hat Roman und Museum von Anfang an als ein Projekt verstanden und es folgte das Zusammentragen einer Sammlung keineswegs dem Buch, sondern eher umgekehrt, wenn sich ein ungewöhnlicher, überraschender Fund einstellte, wurde er als Requisite in die Erzählung des Romans integriert.

In der Vitrine mit der Zahl 1 sehen wir, vor einem sich bauschenden Vorhang, "Füsuns Ohrring". Auch von ihm weiß der Autor, der des Romans wie der des Museums, von Kemal, dessen Geliebte Füsun war. Im Dachgeschoß des Museums finden wir das Bett, auf dem liegend, Kemal Pamuk, der auf einem Stuhl neben ihm saß, seine Lebensgeschichte erzählt hat. Dort muß er ihm auch berichtet haben, unter welchen Umständen der Ohrring verloren ging, und warum er sagen konnte, es sei "der glücklichste Augenblick meines Lebens" gewesen.
Noch im Roman, in dessen letzten Kapiteln, hat Kemal nach dem Tod Füsuns, Orhan Pamuk beauftragt, seine Geschichte zu erzählen und die seiner großen Liebe. Er wünschte sich von Pamuk einen Text, der gleichsam jenes Museum, das er, Kemal, einzurichten plante, begleitenden sollte oder gar einen Katalog, wie es im Roman wörtlich heißt (sogar eine Eintrittskarte ist dort schon abgedruckt).
Gibt der Roman also eine wirkliche Geschichte wieder, und ist dann das Museum so etwas wie eine - fiktive oder konkretisierende - Erweiterung, Umspielung, ein Ort der Beweise für die Wirklichkeitshaltigkeit des Buches? Eine Asservatenkammer der Indizien, die die Geschehnisse des Romans beglaubigen?
Nur was sollen wir denn mit dieser individuellen, privaten und intimen Erinnerung? Nimmt uns nicht gerade das jeglichen Zugang zur Geschichte, wenn wir das Museum besuchen? Erst wenn wir im Museum etwas begegnen, das uns – auf Grund geteilter Erfahrung, geteilten Wissens -, das Verstehen ermöglicht, können wir Gegenstände mit Bedeutung belehnen.
Nun, Pamuk spielt mit beidem, mit der Spiegelung von Buch (dem wir als Roman die Fiktion zuordnen würden) und Museum (dem wir Kraft der Konkretheit der Dinge, ihrer physischen Präsenz in unserer Gegenwart, die Wirklichkeit, die Welt der Tatsachen zuordnen würden) und mit der Spiegelung von Fiktion und Realität.
Er spricht von "ausgestellten Rätseln" und "optischen Täuschungen" und von einem "Traum, aus dem man sich nicht befreien kann".

"Der glücklichste Augenblick meines Lebens". Wer vermöchte ihn  festzuhalten - außer in der fragilen, oft entstellenden Erinnerung, die keiner gegenständlichen Stütze bedarf, also im liebenden Eingedenken, in dem eine Berührung der nackten Körper durch den am offenen Fenster wehenden Vorhang oder das Geschrei der fußballspielenden Kinder in Erinnerung bleibt. Aber nicht als Text und nicht als Ding oder Bild. Sondern ausschließlich als lebendiges Erinnern, das mit dem Tod erlischt.
Dieser Traum, aus dem man sich nicht befreien kann, soll aber dennoch nicht zu Ende gehen, aber es ist auch der, aus dem sich nicht nur der Autor, der Held, sondern vielleicht auch der Besucher nicht befreien kann und nicht befreien soll.
"Wenn ein Mensch im Traum" zitiert Pamuk zu Beginn des Romans (und im Museum taucht der Text auch auf) Samuel Taylor Coleridge, "das Paradies durchwandert, und man gäbe ihm eine Blume als Beweis, dass er dort war, und er fände beim Aufwachen diese Blume in seiner Hand - was dann?"
Das ist die dritte Ebene in Pamuks Spiegelkabinett. Wie er mit der Un-Möglichkeit des Erinnernd spielt. Ist er selbst Kemal? Gab es Kemal überhaupt je? Ist nicht alles erfunden? Und woran sollen wir uns eigentlich erinnern? Wer ist hier das Subjekt der Erzählung und wer des Gedächtnisses? Woran können uns Dinge erinnern? An jene Wirklichkeit, in der sie einmal existiert haben oder ohnehin nur an jene Träume, die sie in uns auslösen?
Aber da ist ja Füsuns Ohrring, in der Vitrine, wir sehen ihn mit eigenen Augen, den Ohrring, von dem Füsun im Roman sagt, "er sei ihr wichtig", als Kemal ihn später nicht in seiner Jackentasche findet. Dort hat er ihn verstaut, nachdem er ihn gefunden hat. Aber inzwischen hat er die Jacke gewechselt und kann ihn Füsun nicht zurückgeben.

Während der Planung und der Realisierung des Museums ist Pamuk von Kindern angesprochen worden, ob er ihnen nicht die über den Zaun geschossenen Bälle zurückgeben könne. Konnte er nicht, schreibt Pamuk, weil der Freiraum um das Haus derart vermüllt war, daß man erst bei Baubeginn mit dem Entrümpeln beginnen konnte. Dann fand man siebzehn Bälle.
Ist einer der Bälle derjenige, mit dem die Kinder in der Gasse spielten, als sich Füsun und Kemal in ihrem Zimmer bei offenem Fenster liebten?
Jedenfalls gibt es einen Ball in einer Vitrine des Museums. Und Füsuns Führerschein. Und selbstverständlich die  4213 Stummel, die von Füssens gerauchten Zigaretten übrigblieben. Aber das ist eine andere Geschichte. Die erzähle ich ein anderes mal.
Und im Kleingedruckten, am Ende des Buches, dort, wohin man als Leser vielleicht nie hingelangt, unter Danksagung, erfährt man auch, wer Füsuns Ohrring fürs Museum hergestellt hat...

Um Pamuk besser zu verstehen, seine - soweit ich sehe einzigartige - Idee, einen Roman und ein Museum als komplementäre Teile eines Projektes zu entwickeln, kann man auf ein anderes Buch von ihm zurückreifen (das auch auf Deutsch vorliegt): "Die Unschuld der Dinge. Das Museum der Unschuld in Istanbul". (München 2012). Es gibt einen einleitenden Teil mit ausführlichen Texten Pamuks zum Roman und vor allem zum Museum und einen Teil, in dem in 74 Abschnitten - reich bebildert - die Stationen und Vitrinen des Museums vorgestellt werden. Und das wiederum so, daß die Texte eher Erweiterungen denn Erklärungen sind. Sein poetologischer Zugang ist subtil, leicht, wunderbar zu lesen. Etwa wie die Geschichte der Entdeckung des Hauses, das er als Museum wählte, am Schulweg, den er täglich mit seiner Tochter zurücklegte. So nebenbei kann von Pamuk lernen, wie man ein Museum vorstellt.
Pamuk hat aber auch eine veritable Museologie zur Hand, die er seit dem Roman sichtlich weiterentwickelt hat und die einem zusätzlich hilft, seine Ideen und sein Konzept des Doppelprojektes besser zu verstehen. Dieser Museologie (die einer gesonderten Auseinandersetzung lohnte) liegt das begeisterte Stöbern und Sammeln zugrunde, aber Pamuk ist auch ein begeisterter Museumsbesucher (übrigens wie Kemal, von dem im Roman gesagt wird, daß er nach Füsuns Tod über 4000 Museen bereist habe). Ein Besucher vor allem kleiner Museen und da wiederum solcher Museen, die möglichst die Spuren der Personen, die dort gelebt haben, noch bewahrt haben. Das war ein nicht geringes Vergnügen, zu erfahren, wie sehr Pamuks Museumsvorlieben sich mit meinen decken. Mit wenigen Ausnahmen kannte ich die Orte, die er ausdrücklich als Inspiration für Roman und sein Museum nennt.
Mit diesem „Begleit“-Buch in der Hand, wird man sich dem Spiel der Verweise und dem changieren der Ebenen des Museums viel besser aussetzen können, wird tiefer in die eigentümlich zweideutige Welt des Romans, des Museums und Orhan Pamuks eintauchen können.

Freitag, 12. Juli 2013

Die Unheimlichkeiten des Museums. Eine Sommerlektüre (Das Museum lesen 35)

Kennen Sie das Deutsche Historische Museum? Ich würde Ihnen raten, sich darin einmal umzusehen. Dort ist die Welt, obwohl sie vergangen ist, immer noch nicht in Ordnung, und es gibt Vorgänge, die sich, wenn überhaupt, nur mühsam erklären lassen.

Kennen Sie das Buch Im Museum von Hartmut Lange? Ich würde Ihnen raten, es zu lesen. Denn dort ist das Museum, entgegen allem, was die Museologie weithin behauptet, immer noch nicht in Ordnung und es gibt in den Geschichten dieses Buches 8die alle im Deutschen Historischen Museum in Berlin spielen) Vorgänge, die sich, wenn überhaupt, nur in der Literatur, nicht aber in der Museologie darstellen lassen: die musealisierte Geschichte, die ihre Opfer sucht, das Museum, das seine Besucher nicht wieder hergibt, die Ausstellungsabteilung, die sich nicht mit ihrem Vitrinendasein zufrieden gibt.

2011 schon ist dieses Buch erschienen und es wohlfeil als Diogenes-Taschenbuch sowie als leichte Sommerlektüre erhältlich. Für Museumsbesucher oder Museologen, die noch bereit sind, sich verunsichern zu lassen.

Sonntag, 2. Juni 2013

Kulturelle Bildung oder: Alles kann erklärt werden + Das Museum lesen (34)


"In Mexiko besucht Herr Palomar die Ruinen von Tula, der alten Toltekenhauptstadt. Ein mexikanischer Freund begleitet ihn, ein begeisterter und beredter Kenner der präkolumbianischen Kulturen, der ihm wunderschöne Legenden von Quetzalcoatl erzählt. Bevor er ein Gott wurde, war Quetzalcoatl ein König, und hier in Tula stand sein Palast; erhalten geblieben ist davon eine Anzahl stumpf abgebrochener Säulen, die sich rings um ein Impluvium verteilen, ein bißchen wie in einer altrömischen Villa.
Der Tempel des Morgensterns ist eine abgeflachte Stufenpyramide, auf deren breiter Plattform sich vier hohe zylindrische Säulenfiguren erheben, sogenannte »Atlanten«, die den Gott Quetzalcoatl als Morgenstern darstellen (indem sie einen Schmetterling, das Symbol des Sterns, auf dem Rücken tragen), außerdem vier Reliefpfeiler, die den Gefiederten Schlangengott darstellen, also wieder densel­ben Gott, diesmal in Tiergestalt.

All das kann man einfach nur glauben. Andererseits wäre es schwierig, das Gegenteil zu beweisen. In der altmexika­nischen Archäologie stellt jede Figur, jeder Gegenstand, jedes Detail eines Flachreliefs etwas dar, alles bedeutet etwas, das etwas bedeutet, das seinerseits etwas bedeutet. Ein Tier bedeutet einen Gott, der einen Stern bedeutet, der ein Element bedeutet oder eine menschliche Eigenschaft, und so weiter. Wir befinden uns in der Welt der Bilderschrift. Wenn die Tolteken schreiben wollten, zeichneten sie Figu­ren, aber auch wenn sie einfach nur zeichneten, war es, als ob sie schrieben: Jede Figur erscheint wie ein Bilderrätsel, ein zu entziffernder Rebus. Selbst noch die abstraktesten, rein geometrischen Friese auf einer Tempelwand können als Sonnenstrahlen gedeutet werden, wenn man darin ein Mo­tiv mit unterbrochenen Linien sieht, oder man kann eine Zahlenabfolge in ihnen lesen, je nachdem, wie sich die Mäander verschlingen. Hier in Tula wiederholen die Flach­reliefs stilisierte Tiere: Jaguare, Coyoten. Der mexikani­sche Freund erklärt Herrn Palomar jeden Stein, übersetzt ihn in kosmische Mythenerzählungen, Allegorien, moralische Reflexionen.

In den Ruinen zieht eine Schülergruppe umher: schmächtige Buben mit indianischen Zügen, vielleicht Nachkommen der Erbauer dieser Tempel, gekleidet in eine schlichte weiße Uniform mit blauen Halstüchern, wie sie die Pfadfinder tragen. Ein junger Lehrer führt sie umher, nicht viel größer als die Buben und kaum viel älter, mit dem gleichen runden und ruhigen braunen Gesicht. Sie steigen die hohen Stufen zur Plattform der Pyramide hinauf und scharen sich um die Säulen, der Lehrer erklärt, zu welcher Kultur die Säulen gehören, aus welchem Jahrhundert sie stammen, aus welchem Stein sie gehauen sind, dann schließt er: »Man weiß nicht, was sie bedeuten«, und die Schülerschar folgt ihm wieder hinunter. Zu jeder Statue, zu jeder Figur in einem Flachrelief oder auf einer Säule macht der Lehrer ein paar knappe sachliche Angaben, und jedesmal fügt er dann unweigerlich hinzu: »Man weiß nicht, was es bedeuten soll.«

Hier zum Beispiel ist ein sogenannter Chac-mool, ein Statuentypus, dem man recht häufig begegnet: eine halb liegende Menschenfigur, die eine flache Schale trägt. Auf diesen Schalen, sagen übereinstimmend die Experten, wur­den die blutigen Herzen der bei den Menschenopfern Ge­töteten präsentiert. An und für sich könnte man in diesen Figuren auch gutmütige, komisch-groteske Fratzen sehen, aber jedesmal, wenn Herr Palomar eine sieht, läuft ihm unwillkürlich ein Schauder über den Rücken.

Die Schülerschar kommt vorbei. Der junge Lehrer erklärt: »Esto es un chac-mool. No se sabe lo que quiere decir«, und geht weiter.

Immer wieder begegnet Herr Palomar, obwohl er den Erläuterungen seines Freundes folgt, am Ende der Schülergruppe und hört auf die Worte des Lehrers. Er ist fasziniert von der Fülle an mythologischen Querverweisen, mit denen sein kundiger Freund zu hantieren weiß, das Spiel des Interpretierens, die allegorische Deutung sind ihm stets als eine souveräne Übung des Geistes erschienen. Doch er fühlt sich auch von der entgegengesetzten Haltung des Schullehrers angezogen. Was ihm zunächst als ein schroffer Ausdruck von Desinteresse erschienen war, enthüllt sich ihm langsam als ein wohlüberlegter pädagogischer Plan, eine bewusst gewählte Methode dieses ernsten und gewissenhaften jungen Erziehers, eine Regel, von der er nicht abgehen will: Ein Stein, eine Figur, ein Zeichen, ein Wort, die uns isoliert von ihrem Kontext erreichen, sind nichts als eben nur dieser Stein, diese Figur, dieses Zeichen oder Wort; wir können versuchen, sie als solche zu definieren und zu be­schreiben, aber mehr nicht; wenn sie hinter dem Antlitz, das sie uns zeigen, noch ein verborgenes Antlitz haben, muss es uns verborgen bleiben. Die Weigerung, mehr zu begreifen als das, was diese Steine uns zeigen, ist vielleicht die einzig mögliche Art und Weise, ihr Geheimnis zu achten. Es erraten zu wollen, ist Anmaßung, Verrat an ihrer verloren gegangenen wahren Bedeutung.

Hinter der Pyramide gelangt man in einen Gang oder Korridor zwischen zwei Mauern, eine aus gestampftem Lehm, die andere aus behauenem Stein: die Mauer der Schlangen. Sie ist vielleicht das schönste Stück in Tula: ein Fries als Flachrelief, bestehend aus lauter Schlangen, von denen jede einen menschlichen Schädel im Maul hält, als wollte sie ihn gerade verschlingen.

Die Schüler kommen vorbei. Der Lehrer erklärt: »Dies ist die Mauer der Schlangen. Jede Schlange hält einen Schädel im Maul. Man weiß nicht, was sie bedeuten.«

Herrn Palomars Freund kann nicht länger an sich halten: »Aber ja doch, das weiß man sehr wohl! Es ist die Kontinui­tät von Leben und Tod, die Schlangen bedeuten das Leben und die Schädel den Tod: das Leben, das Leben ist, weil es den Tod in sich trägt, und den Tod, der Tod ist, weil es ohne Tod kein Leben gibt ...«

Die Schüler stehen baff mit offenem Mund, die schwarzen Augen weit aufgerissen. Herr Palomar denkt: Jede Übersetzung verlangt nach einer weiteren Übersetzung

und so fort. Er fragt sich: Was bedeuteten Tod und Leben, Kontinuität und Übergang für die alten Tolteken? Und was können sie für diese Kinder bedeuten? Und für mich? — Doch er weiß: Nie könnte er das Bedürfnis in sich ersticken, zu übersetzen, überzugehen aus einer Sprache in eine an­dere, .von konkreten Figuren zu abstrakten Worten, von abstrakten Symbolen zu konkreten Erfahrungen, wieder und wieder ein Netz von Analogien zu knüpfen. Nicht zu interpretieren ist unmöglich, genauso unmöglich wie sich am Denken zu hindern.

Kaum sind die Schüler um eine Biegung verschwunden, hebt die beharrliche Stimme des kleinen Lehrers wieder an: »No es verdad, es ist nicht wahr, was dieser Senor euch gesagt hat. Man weiß nicht, was sie bedeuten.«"

Aus: Italo Calvino: Herr Palomar. München, Wien: Carl Hanser Verlag 1985

Montag, 1. April 2013

Wozu Museen. Eine andere Antwort (Das Museum Lesen 33)

Das Museum im eigentlichen Sinne wird paradoxale Synthese dieses doppelten Ursprungs vollziehen, des Kultes und des Raubs, indem es das Kunstwerk in einen heiligen Schatz,  d.h. im Grunde genommen ein Monster situiert auf der Kreuzung von Kontemplation und Konsumation, etwas, das man besitzt, aber wovon man sich verbietet, es zu berühren, etwas, das ihnen einen Genuß verschafft, aber ganz symbolisch und abgeleitet. B. Deloche

Donnerstag, 28. März 2013

Warum Museen? (Das Museum lesen 31)

Es gibt Texte, die Lücken lassen, in die man sich mit seinen eigenen Assoziationen - auch manchmal gegen die Argumentation des Autors - vortasten kann und muss. Leerstellen, Brüche, Widersprüche einer Argumentation sind dann paradoxerweise keine Schwächen sondern Einladungen, das Gedachte, wenn die Thesen stark und riskant sind, weiter zu entwickeln, von ihm wegzudriften, neue Abzweigungen zu eröffnen.
Ein solcher Text ist Boris Groys kaum mehr als eine Seite langer Text mit der bombastischesten aller museologischen Fragen "Warum Museen"?
Ich stelle hier in noch mal kürzerer, aber hoffentlich nicht verkürzter Form seine Thesen dar - als Anregung seinen Text im eben erschienenen Lettre International nachzulesen (Heft 100, 2013, S.140f.).

Museen verlieren ihre "traditionelle gesellschaftliche" Legitimation, die bislang (Groys spricht nur von Kunstmuseen) in ihrer Privilegiertheit lag, über Kunst zu informieren. Dieses Informationsmonopol wurde vom Internet gebrochen, wobei der offensichtliche Verlust von Aura und Originalität nicht zu beklagen sei, weil er längst schon durch "Museifizierung" stattgefunden habe.
Warum haben die digitalen Medien das Museum aber nicht schon längst besiegt? Im Gegenteil, immer mehr Museen entstünden - gerade für zeitgenössiche Kunst und auch herkömmliche Museen zeigten immer mehr zeitgenössiche Kunst.
Museen zehren zwar nicht mehr von ihrer Funktion der Information über Kunst, die auf das Internet übergegangen ist, sondern von jener Individualität, die gerade durch den Vergleich der Museen untereinander, der ja durch ebenfalls das Internet ermöglicht werde, wichtig werde. "Mit anderen Worten: Die Museen stellen heute nicht mehr Kunst aus, sondern sich selbst; sie präsentieren ihre eigene Selektivität, ihre eigenen Auswahlstrategien."
Damit sei auch klar, warum Musen für zeitgenössiche Kunst so attraktiv werden. Ältere Kunst sei "fixiert" (Groys verwendet nicht das Wort Kanon), zeitgenössische Kunst nicht. Anders gesagt, das Museum ist nicht mehr normativ, aber es gibt ein Modell dafür ab, wie man (s)eine individuelle Wahl treffen kann. "Das Interesse des Betrachters verschiebt sich hierbei vom individuellen ausgestellten Objekt zu der Art und Weise, in der es vom Museum kontextualisiert und historisiert wird - und zu der Frage, warum es überhaupt in die Ausstellung aufgenommen und nicht von ihr ausgeschlossen wurde."
Was aber ist immer noch so attraktiv an "Objekten"? Groys zieht dazu die Unterscheidung von heissen und kalten Medien zu Rate, die er von Marshall McLuhan übernimmt. Ausstellung seien "in der heutigen Zeit" ein heißes Medium. "Denn sie verschiebt die Aufmerksamkeit des Besuchers vom konzentrierten Betrachten auf den Kontext, die Organisation und die Architektur des öffentlichen Raums, auf Strategien der In- und Exklusion usw. (...) Deshalb ist die Kunstausstellung in der Lage, alle Formen von "heißen" Medien - Texte, Filme, Videos, Musik oder einzelne Bilder - einzubeziehen und "herunterzukühlen", das heißt den Blick der Besucher für den sozialen und räumlichen Kontext zu öffnen, in dem sich ihre Körper bewegen."
Diese Theatralisierung des Museums, um die "abgekühlten" Medien herum, stifte eine besondere Art von Gemeinschaft, wie sie typisch sei für die "Massenkultur" der Gegenwart, "...Gemeinschaften jenseits jeder gemeinsamen Vergangenheit - bedingungslose Gemeinschaften eines neuen Typs."
Während einer Kinovorführung oder einem Popkonzert ist der Blick nach vorne gerichtet und der Raum, in dem man sich befindet, wird nicht ausreichend wahrgenommen und als Bedingung der Gemeinschaft nicht reflektiert. Ausstellung (Groys schränkt wiederum ein: auf dem Gebiet der bildenden Kunst) bieten diese Reflexion. Die relative räumliche Trennung des Besuchers / Betrachters "bedeutet hier keine Abwendung von der Welt, sondern die Delokalisierung, Deterritorialisierung temporärer Gemeinschaften der Massenkultur, die ihnen hilft, sich a l s Gemeinschaften zu reflektieren, indem sie ihnen Gelegenheit gibt, sich selbst zu präsentieren. Indem sie alle anderen Medien "herunterkühlt", bietet die heutige Ausstellungspraxis der bildenden Kunst den Besuchern die Möglichkeit zur Selbstreflexion - und die Reflexion des unmittelbaren Kontextes ihrer Existenz, die andere Medien ihnen nicht im selben Maß bieten können."

Groys Überlegungen haben einige überraschende, ohne Umschweife auf gegenwärtige Entwicklungen gut passende Aspekte. Und die Einwände liegen auf der Hand: findet nicht auch im Feld der zeitgenössischen Kunst eine fortschreitende Kanonisisierung statt, die einschlägige Museen und Kunthallen so austauschbar werden läßt? Ist die Fokussierung, das Sich-Versenken ins einzelne Werk (dem "kalten" Medium) tatsächlich verschwunden oder gibt es nicht Ausstellungstypen, die das wiederum forcieren? Ist die "Theatralsierung" des Museums (unter den Stichworten Performativität oder Ritualisierung längst Gegenstand der museologischen Theorie), wenn man sie z.B. auf die Architektur bezieht (wie es Groys auch, aber nicht ausschließlich tut) nicht so alt wie das Museum selbst und stand diese nicht immer auch im Dienste des Gemeinschftstiftenden. Und last but not least: vor welcher gesellschaftlichen Veränderung vollzieht sich dieser Wandel des Ausstellens denn? Und wie hoch ist die Bedeutung einer bildungselitären Arkanpraxis "Museumsbesuch" denn jenseits der vier (weissen) Ausstellungswände?

Wie mir scheint - ein interessanter Text!







Samstag, 19. Januar 2013

Das Barbarische der Museen (Das Museum lesen 31)


"Man braucht nur irgendeinen Ort zu betreten, an dem Meisterwerke in großer Zahl zusammengebracht wurden, um diese Art Museumskrankheit zu erfahren, ähnlich der Übelkeit, die einem im Gebirge überkommt, aus Schwindel und Atemnot, dem jedes Glück des Sehens und jeder Wunsch, sich berühren zu lassen, sehr schnell zum. Opfer fallen. Zugegeben, im ersten Augenblick, welche Erschütterung, welche physische Gewißheit einer gebieterischen Präsenz,· einmalig, obgleich endlos vervielfältigt. Die Malerei ist wahrhaft da, leibhaftig, (en personne). Aber es ist eine Person, so sicher ihrer selbst, so zufrieden mit ihrem Nimbus und ihrem Gepränge, die sich durch einen solchen Willen zum Schauspiel imponiert und exponiert, daß sie, verwandelt in eine Theaterkönigin, uns unsererseits in Zuschauer verwandelt, sehr leidenschaftliche, dann ein wenig verstörte und dann ein wenig angeödete. Ganz offensichtlich hat das Gewöhnliche der Museen etwas unerträglich Barbarisches an sich. Wie konnte man es soweit kommen lassen? Wie hat sich die einsiedlerische, ausschließende, einem geheimen Punkt, den sie uns kaum bezeichnet, entschieden zugewandte Bejahungen jedem gemalten Bild auf diese spektakelhafte Vergemeinschaftung, diese lärmende und vornehm tuende Zusammenkunft die man eben Kunstschau (salon) nennt, eingelassen? Die Bibliotheken haben auch ich weiß nicht was an Überraschendem, aber zumindest zwingt man uns nicht, all die Bücher zugleich zu lesen (noch nicht). Warum haben die künstlerischen Werke diese enzyklopädische Ambition, die sie veranlaßt, um gemeinsam gesehen zu werden, zusammen unter einen so allgemeinen, so konfusen und so schwachen Blick verfügt zu werden, daß daraus offensichtlich nur die Zerstörung jeder wahren Kommunikationsbeziehung folgen kann?"

Aus: Maurice Blanchot: Museumskrankheit (1950)


Mittwoch, 2. Januar 2013

Unglücklichkeitslehre (Das Museum lesen 30)


Alfred Polgar

Aus Guayaquil (Ekuador) wird gemeldet: »Die Regierung hat dreißig Kommunisten, die von anderen benachbarten Ländern nicht aufgenommen wurden, nach den Galapagos-lnseln deportiert. Die Regierung gibt bekannt, daß die deportierten Kommunisten auf den Galapagos-lnseln ihren Kommunismus ausüben können.«
Dort, auf den Galapagos-lnseln, dürfte man also nach einiger Zeit, in Miniaturausführung, alles übersichtlich beieinander, ein nach kommunistischen Grundsätzen hergerichtetes Gemeinwesen studieren können. Das bringt auf eine Idee: wäre es nicht sehr interessant, lehrreich und etwas durchaus Neuartiges, eine Ausstellung zu veranstalten, eine Great Show, wo die verschiedenen politischen Systeme in beispielhaft vollem Betrieb gezeigt würden, naturgetreu und lebensnah? Also etwa eine kommunistische, eine nationalsozialistische, eine faschistische, eine anarchistische Siedlung usw, bevölkert von Originaltrupps der respektiven politischen Färbung?
So wie seinerzeit die ethnographischen Ausstellungen, wo Samojiden oder Aschanti oder Singhalesen sich zur Schau stellten und man gegen geringes Entree beobachten konnte, wie sie leiben und leben, kochen, heiraten, ihre Kinder erziehen, Gericht halten, ihre Häuptlinge wählen und ehren, ihre Kulte üben und ihre Kriegstänze exekutieren Das Nebeneinander solcher Musterbetriebe wäre ungemein anschaulich, erlaubte instruktive Vergleiche und trüge zur Aufklärung der Ausstellungsbesucher bei, nach welcher Methode am liebsten sie unglücklich zu werden wünschen. Die Amerikaner sollten den Vorschlag überlegen. Es wäre eine sehr amüsante und farbige Ausstellung, hätte noch mehr Zulauf als die Olympiade und lohnte reichlich die Spesen des Unternehmens, selbst wenn Kinder und Militär, vom Feldwebel abwärts, nur die Hälfte zu zahlen hätten.
Pistolen und Handgranaten wären bei der Kassa abzugeben.

Sonntag, 2. September 2012

Ein Museums(nicht)liebhaber (Das Museum lesen 28)


Ich liebe Museen nicht sonderlich. Es gibt viele, die man bewundern kann, es gibt keines, das einem Wonnen schenkte. Was an Vorstellungen über Ein- und Zuord-nung, Erhaltung und Nutzen für die Allgemeinheit umläuft, ist richtig und einleuchtend, hat aber mit Spendung von Wonnen wenig zu tun.
Beim ersten Schritte den schönen Dingen entgegen nimmt eine Hand mir den Stock weg, untersagt mir ein Anschlag das Rauchen.
Das Museum übt eine nicht abreißende Anziehungskraft auf alles aus, was Menschen tun. Der Mensch, der Werke schafft, der Mensch, der stirbt, füttern es. Alles endet an der Wand oder im Schauschrank... Ich kann mich nicht enthalten, an die Spielbank zu denken, die bei jedem Umlauf gewinnt. Doch das Vermögen, diese immer voller werdenden Speicher zu nutzen, steigt keineswegs mit ihrem Wachstum. Unsere Schätze erdrücken uns und verwirren uns. Die Notwendigkeit, sie in einer Behausung zusammenzudrängen, treibt die Betäubung und die Trauer, die von ihnen ausgehen, noch über sich hinaus. So weiträumig das Schloß auch sein mag, noch so angepaßt, noch so geordnet - immer kommen wir uns in diesen Galerien ein wenigverloren und verzweifelt vor, so allein gegenüber so viel Kunst! Was alles diese Tausende von Stunden hervorgelockt haben, die so viele Meister aufbrachten, um zu zeichnen und zu malen, wirkt in einigen wenigen Augenblicken auf unsere Sinne und auf unserm Geist— und diese Stunden waren doch eine jede selbst bis zum Rande voll mit Jahren des Suchens, des Erfahrens, des Wachseins, des Genies befrachtete Stunden! . . . Da müssen wir notwendig erliegen. Was tun? Wir werden oberflächlich.

Paul Valery: Das Problem der Museen

Mittwoch, 29. August 2012

Inner meaning (Das Museum lesen 27)

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„Art and museum culture is the secular religion of capitalism. 
It provides a space for inner meaning in an otherwise spiritually empty world.“

Gregory Sholette

Mittwoch, 15. August 2012

Peter Weiss: Initiation (Sommerlektüre. Das Museum lesen 26)

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Peter Weiss | Initiation


Dann aber ging es noch um ein andres Museum, es trat zutage mit seinem rauchgeschwärzten Klinkergemäuer, einem Magazin ähnlich am großen Bahnhofsplatz in Bremen, an der Straßenecke gegenüber vom Hotel Columbus, rückseitig angeschlossen an die Ausladestellen für Früchte und Gemüse am Güterbahnhof. Zu diesem Museum führte der Weg über die Weserbrücke und den Domshof, am Rathaus vorbei, durch den Schlüsselkorb und die Wallanlagen, links stieg der Park zur Baumschule an, mit der Windmühle überm Stadtgraben, vom Herdentor, neben dem Hillmann Hotel, ging es durch das Gedränge von Automobilen und Straßenbahnen auf die schon sichtbaren hinausgepufften Dampfwolken der Lokomotiven zu, und dann traten wir in die Halle, vor die Pfeilerreihen, die, unterm hohen Glasdach, weit in die Tiefe der Kontinente führten.
Geschnitzte Pfähle, Masten und Tempeldächer erhoben sich hinter den zusammengedrängten tropischen Gewächsen in Kübeln, ich zog meinen Vater, der mich an der Hand hielt, gleich schräg nach rechts, zu den Pygmäen, die sich vor ihrer niedrigen gerundeten Hütte aufhielten, reglos die nackte Frau, die linke Hand um das Kind gelegt, das auf ihrer Hüfte saß und den Fuß auf den Gurt ihres Lendenschurzes stützte, die rechte Hand angehoben zur Halskette aus Leopardenzähnen, das Gesicht zur Seite gewandt, mit halbgeschlossnen Augen vor sich hinblickend, in sich versunken, wie auch der Mann, der auf Spreu kniete und die Arbeit, die er vor den Händen hatte, das Glätten und Zusammenknüpfen von Blättern, vergaß.
Ein Affe lag neben ihm, er hatte spielen wollen, war schläfrig geworden, sein Arm war, noch ausgestreckt, niedergesunken. Sie waren in den Regenwäldern Äquatorialafrikas zuhause, als Sammler und Jäger zogen sie umher, der Dschungel ließ keine Ansiedlung zu, die Hütte diente ihnen zu kurzem Unterschlupf, sie besaßen nur wenige Geräte, Pfeil und Bogen, waren dem Aussterben nah. Zwischen Wurzeln und Gestrüpp hatten sie ihr kuppelförmiges Nest gebaut, gestützt von gebogenen Zweigen, abgedeckt mit Blättern, umwickelt mit dünnen Lianen, ein Schneckengehäuse voll tiefer Dunkelheit. Ringsum erstreckte sich unendlich der Urwald, in dem es schnatterte, grunzte und schrie. Hier war aus dem Roden der winzigen Lichtung, dem schnellen Bauen vor einbrechender Nacht, dem Nomadisieren an den Flußläufen, den Wasserfällen entlang, da die Hütte längst wieder eingegangen war in die Vegetation, ein einziger Augenblick des Wartens geworden. Nicht größer als ich, der Sechsjährige, verharrten die Waldbewohner mit angehaltenem Atem in knisternder Stille und merkten nicht, wenn meine Fingerspitzen ihre mattglänzende dunkle Haut berührten. Es waren noch Beduinen da, vor ihrem Zelt, Eingeborene Australiens, mit Speeren und Wurfhölzern, tätowierte Bewohner eines Pfahlhauses von den Salomoninseln, kunstvoll geflochtne Schildhütten aus Samoa waren zu sehn, japanische Gärten, Tempel und Kultgegenstände aus Birma, Korea, Tibet, Schneehütten der Eskimos, Totempfähle der Prärieindianer, eingeätzt in mein Gedächtnis aber hatte sich vor allem die Familie des Zwergvolks.

Montag, 30. April 2012

Pierre Bourdieu | Heiligtümer (Das Museum lesen 25)

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"Alles, aber auch alles in diesen bürgerlichen Tempeln, in denen die bürgerliche Gesellschaft deponiert, was sie an Heiligstem besitzt, nämlich die ererbten Reliquien einer Vergangenheit, die nicht die ihre ist, in diesen heiligen Stätten der Kunst, die einige Erwählte aufsuchen, um den Glauben an ihre Virtuosität zu nähren, während Konformisten und Philister hierher pilgern, um einem Klassenritual Genüge zu tun, alles in diesen ehemaligen Palästen oder großen historischen Wohnsitzen, denen das neunzehnte Jahrhundert imposante, oft im graecoromanischen Stil der bürgerlichen Heiligtümer gehaltene Anbauten hinzufügte, besagt schließlich nur das Eine: daß nämlich die Welt der Kunst im selben Gegensatz zur Welt des alltäglichen Lebens steht wie das Heilige zum Profanen."

Behauptung / Das Museum lesen (24)